Anthropologische Feldstudie in Mitteleuropa: rituelle Sexualpraktiken niederheinischer Eingeborener

Der Frohsinn geht weiter und nimmt kein Ende mehr (bis Aschermittwoch). Nach dem ersten Höhepunkt an Altweiber ist Freitags immer eine Art Zwischenphase, in der in überschaubaren Mengen gesoffen wird und man Anlauf nimmt für das Mega-Delirium, das sich über die folgenden drei Tage bis zum Rosenmontag ins Komatöse steigert.

Junge männliche Pflegekollegen, die rituell an Altweiber die Düsseldorfer Altstadt aufsuchen, berichten von brutalstmöglich betrunkenen, intensiv nach Schnaps riechenden Mittvierzigerinnen, die Schwäche- oder Ohnmachtsanfälle vortäuschen, um sich jedem halbwegs ansehnlichen Penisträger in die Arme und perspektivisch in irgendein improvisiertes Liebeslager zu werfen.

Je nach Persönlichkeitsstruktur, Alkoholpegel und Triebstau gehen die Jungmänner damit abwehrend oder die Gelegenheit ergreifend um. Umgekehrt umgekehrt. Die Düsseldorfer Polizei meldet einen ruhigen Verlauf des Altweiber-Abends, mit nur achtzehn trunkenheitsbedingten Festnahmen, allerdings mit einer hohen Zahl sexueller Übergriffe.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Ein Tag wie jeder andere

Die „Tagesgruppe Demenz“ ist aus räumlichen und betreuungstechnischen Gründen erweitert auf die gesamte mobilisierte Bewohnerschaft des Wohnbereiches. „Mobilisiert“ heißen im Pflegejargon die Nicht-Bettlägrigen.

Das heißt, ich habe jetzt statt 6-8 Leuten dreizehn oder vierzehn erwartungsfrohe, unterhaltungsbedürftige alte Leute vor mir sitzen. Fünf Stunden lang muß ich für Zeitvertreib und Kurzweil sorgen, auf dass sich keiner langweile, niemand der Pflege zur Last falle und der Betrieb auf dem Wohnbereich möglichst störungsfrei verlaufe. Zusätzlich habe ich die Essensbegleitung zu machen und neben- oder hinterher alles zu dokumentieren, was ich in der Einrichtung so treibe.

Die Aufgabe wäre schon mit orientierten Alten und hochbetagten eine Herausforderung; mit überwiegend dementen Menschen ist es jedesmal ein Neue Reise ins Unbekannte. Ich selber weiß nie, was ich mit den Leuten machen werde und wohin uns unsere wilde Fahrt durch Zeit, Raum, Musik, Geschichten und Bildern führen wird.

Nicht jeder ist mental und ressourcenmäßig gerüstet für diese Tätigkeit. Ein junger Kollege bewältigt gerade mal eine Handvoll Leute in einem separaten Raum und überläßt die übrigen, die zahlenmäßig auch noch in der Mehrheit sind, sich selbst bzw. als zusätzliche Belastung den Kollegen der Pflege. Die sind dann entsprechend gestresst und entnervt.

Es wundert mich also nicht, wenn ich nach zwei dienstfreien Tagen von den gestandenen Pflegekollegen erfreut begrüßt werde: „Gottseidank bist du wieder hier!“, „Oh wie gut! Dein Kollege hat uns hier gestern wieder mit all den Leuten sitzen gelassen, und in der Frühschicht war eine krank und wir hatten keinen für die Küche…“

Ich genieße kurz die Bauchpinseleien und schaue mir die Runde an. Alle da? Nein, eine ist letzte Nacht gestorben, eine nette und gebildete Dame, gebürtig aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. Ihr Tod kommt überraschen, obwohl sie 95 Jahre alt war.

Nach und nach trudeln alle ein bzw. werden von den Pflegekräften gebracht – selber aufstehen, eine Basis-Morgentoilette durchführen und in den Speisesaal kommen können von den 24 Bewohnern des Wohnbereiches höchstens zwei oder drei.

Was stelle ich heute an mit der Gruppe? Keine Ahnung. Das Datum gibt auch nichts her, aber immerhin ist Freitag und das bedeutet: es gibt Fisch! Darauf aufbauend könnte man – sehr beliebt! – einen erzählerischen, historischen anekdotischen und vor allem MUSIKALISCHEN Ausflug machen in die Welt von Seefahrt, Meer, Wellen, Schiffen und großen Abenteuern in der fernen Weite, an Sehnsuchtsorten und in fantastische Geschichten von Seeräubern, Meeresungeheuern und Fliegenden Holländern usw.

Eine sichere Bank ist immer die Musik. In dieser Generation – die 1925 – 1940 geborenen – ist das in der Regel Volksmusik und Schlager. Besonders für die Dementen sind gesungene Worte manchmal die einzige Form, in der sie zusammenhängende Sätze verbalisieren. Die Region des Großhirns, die Melodiefolgen, Töne, Klänge usw. speichert, ist dieselbe, in der früheste Erinnerungen abgespeichert werden. Man sieht gelegentlich überraschte Anverwandte, die von ihrem hochdementen Familienmitglied seit Monaten oder Jahren nur unverständliches Gebrabbel zu hören gekriegt haben, vor Staunen schier aus den Schuhen kippen, weil der liebe Opa oder die alte Mutter plötzlich irgendein Kindheutslied fehlerfreie und mit Begeisterung mitsingt.

In diesem Bild sind drei Schlager aus den 1950er und 1960er Jahren versteckt. Meine überwiegend dementen Zuhörer und Zuschauer konnten sie alle erraten (allerdings tw. auch erst nach den deutlichen textlichen Hinweisen):

Geschichten aus dem Pflegeheim: Sterben III

Bei Dienstantritt morgens um 8:00 erfahre ich als erstes, dass unser „Sorgenkind“ (in Wirklichkeit eine 87jährige Frau mit zunehmend starker Demenz) gestern nacht mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

„Sorgenkind“, weil die Frau in ihrer inneren Not und Verlorenheit, in der immer tiefer und verworren werdenden Unübersichtlichkeit und Zerstückelung ihrer inneren Welt, den ganzen Wohnbereich auf Trab hielt, die anderen Bewohner massiv (ver-)störte und eigentlich eine Einzelbetreuung rund um die Uhr benötigt hätte – was natürlich weder eine Pflegeeinrichtung noch eine Privatperson leisten kann.

Als Mitglied unserer „Tagesgruppe Demenz“ war Frau H. eine feste Bank, was ungeschminkte Kommentare, zotige Lieder und witzige Sprüche anbelangt. Ihr teilweise drastischer Humor überraschte nicht nur die anderen Teilnehmer immer wieder, sondern begeisterte und faszinierte auch mich. Im Laufe der Zeit entwickelten wir eine Beziehung zueinander, die so etwas wie eine Freundschaft zwischen Ungleichen, aber auf Augenhöhe war.

Ich war ihr erklärter Liebling; sie schwor, mich immer zu lieben und alles für mich tun zu wollen und wollte mich sogar heiraten. Sie fand sich dann damit ab, das ich bereits verheiratet bin, ließ aber auf unsere spezielle Verbindung nichts kommen.

Die Nachricht von ihrem Zustand bewegt mich, sofort nach Erfüllung meines Dienstes zu ihr ins Krankenhaus zu fahren, wo sich bereits seit 4:00 morgens nach und nach ihre ganze Familie versammelt hat. Frau H. liegt bleich, schwer atmend und stark sediert im Bett, Kinder und Enkel samt Anhang um sie herum sind aufgelöst und in Tränen. Es sind ihre letzten Stunden – wie viele, kann niemand wissen – auf dieser Welt. Ihre Herz-Aorta ist geplatzt, die Lungen füllen sich mit Blut und das Atmen wird irgendwann unmöglich werden.

Als ich mich zu ihr beuge und ihr sage, das ich gekommen bin, öffnet sie abrupt die Augen; Erkennen und Wiedersehensfreude drücken sich darin aus, sie gurgelt etwas Unverständliches mehr als dass sie es spricht, aber etwas in ihr scheint sich zu entspannen. Ihre Familie ist völlig perplex, denn bislang hatte sie die Augen geschlossen und schien nicht mehr zu reagieren – nachdem sie früh morgens, als ihre Familie kam, einige Momente völliger Klarheit hatte, in denen sie sogar ihren Kindern gute Ratschläge gab und ihnen sagte, dass sie „von oben“ auf sie aufpassen werde.

Danach wirkt sie ruhiger, atmet gleichmäßiger und schläft oder döst vor sich hin. Trotzdem scheint sie alles oder viel von dem zu verstehen, was um sie herum gesprochen wird, wie an ihren Reaktionen bemerkbar ist.

Ich bleibe 5 Stunden bei ihr und beobachte, wie ihre Kräfte nachlassen und ihr Atem gurgelt und rasselt und langsamer wird. Der Sterbeprozess zeichnet sich ab: die Nase wirkt spitzer, rings um Nase und Augen wird sie sehr blass; das Blut sinkt nach und noch an die tieferen Stellen des Körpers, wodurch ihr Gesicht schmal und der Hals dick wird. Ab und zu erzähle ich ihr, was ihr gerade passiert und dass dies ein natürlicher Prozess ist, den man nicht fürchten muss.

Sie hat das unglaubliche Glück, das ihre Familie bei ihr ist in ihrer Sterbestunde. Die Kinder und Enkel scheinen sich auch mittlerweile gefangen zu haben und akzeptieren die Situation. Sie wollen sich abwechseln mit Wachen und Schlafen, um ihre Mutter/Großmutter auf keinen Fall alleine zu lassen. Das Krankenhaus hat auf seiner Palliativstation ein komfortables Einzelzimmer, in dem Platz für alle ist, zur Verfügung gestellt und ist ich sonst äußerst entgegenkommend und großzügig im Umgang mit den Verwandten und Besuchern.

Als ich am Frühabend nach Hause fahre, lebt Frau H. noch, aber es ist klar, dass diese Nacht ihre letzte sein wird. Ich verabschiede mich von ihr und ihrer Familie und hoffe, dass die kommenden Stunden für alle von Verstehen und Frieden geprägt sein können.

Ich frage mich, wie es Leuten in Kriegsgebieten gehen mag, speziell alten und dementen Menschen in Pflegeheimen, die in solchen äußeren Extremsituationen die Reise ins Jenseits antreten müssen. Was machen eigentlich Bewohner und Mitarbeiter in ukrainischen oder Donbass-Pflegeheimen? Gibt’s da überhaupt mit hiesigen vergleichbare Pflegeheime?

Aus dem Autoradio quillt die aktuellste Hetz- und Lügenpropaganda der NATO-Kriegspartei; ich schalte schnell auf CD um und fahre zu den Klängen von Jagjit und Chitra Singh nach Hause.

https://youtu.be/UeSEom7unBE

Geschichten aus dem Pflegeheim: Bundestagswahl entschieden!

„Tagesgruppe Demenz“: nach dem Frühstück unterhalten wir uns, wie wir den gemeinsamen Vormittag gestalten wollen. D.h. ich frage – mehr aus rhetorischen Gründen – meine Truppe, wonach ihnen heute zumute ist. Meistens kommen dann Antworten wie „uns unterhalten“ oder „singen“. Alles andere ist zu weit „draußen“, außerhalb des Zugriffs eines dementiell veränderten Gehirns, und muß, wenn schon, als Anregung von mir kommen.

„Wir könnten ja mal wieder ein schönes Märchen lesen. Oder eine Zeitung…“, beginne ich, und frage gleich in die Runde, wer von den Anwesenden überhaupt Zeitung liest. Tatsächlich ist eine Dame dabei (allerdings die einzige ohne „offizielle“ Demenz-Diagnose), die sogar die „Rheinische Post“ abonniert hat und täglich Stunden mit dem darin enthaltenen Kreuzworträtsel verbringt.

Das würde sie aber so nicht ohne weiteres zugeben; auf meine Nachfrage, was sie in der Zeitung so liest und warum sie das Blatt abonniert hat, erhalte ich zur Antwort: „Ja, um mich über das Geschehen in der Welt zu informieren, die Nachrichten und so…“.

Schon haben wir unser heutiges Vormittagsthema gefunden und ich frage mal nach, ob jemand weiß, was für ein besonderes politisches Ereignis im September ansteht. Frau N., die RP-Abonnentin, weiß auch wirklich Bescheid und verkündet stolz, dass dann Bundestagwahlen sind.

Damit haben wir einen schönen Aufhänger für weitere Gedächtnistrainings- und Erinnerungsaktivierungs-Einheiten. Da ich lauter westdeutsch sozialisierte Leute vor mir habe, frage ich sie nach den Kanzlern der BRD seit 1949.

An Adenauer kann sich auch jeder erinnern („Adenauer war der Beste!“, stellt Frau Sch. im Ton endgültiger Gewissheit fest, und ringsum erschallt zustimmendes Gemurmel), an Ludwig Erhard grad noch so (ich muss nachhelfen mit dem Hinweis „Der Dicke mit der Zigarre!“), aber den Rest außer der derzeitigen Kanzlerin kennt keiner mehr auf Anhieb. Bei Nennung der jeweiligen Namen fallen ihnen die Kanzler von Kiesinger bis Schröder dann aber doch wieder ein, und es wird sich an das eine oder andere anekdotische Detail erinnert.

Da wir nun schon mal beim Thema sind und Rate-, Gewinn- und Abstimmspiele bei meinen Schützlingen ohnehin beliebt sind, beschließen wir, die Bundestagswahl einfach vorzuziehen und direkt in der Tagesgruppe den nächsten Kanzler (oder die Kanzlerin) zu ermitteln.

Meine Leute sind erfreut über die Aussicht eines hochoffiziellen Wahlvorganges, da sie sonst höchstens Briefwahl machen (de facto nur eine einzige von ihnen, die besagte Frau N.). Ich erstelle also höchst professionelle Wahlzettel mit den drei Kandidaten, nachdem wir vorher aus der Kandidatenfrage wieder ein Ratespiel gemacht haben.

Laschet kennen alle, wohl weil er Ministerpräsidemt in NRW ist und man hier ständig irgendwas von ihm sieht oder hört. Von Baerbock haben ein oder zwei der Teilnehmer schon mal gehört, Scholz dagegen kennt scheinbar keiner.

Ich erkläre also, was sie mit den Wahlzetteln machen müssen, vor allem natürlich, dass diese nach der Wahl zusammengefaltet werden müssen, da es schließlich eine demokratische Wahl ist und damit die Wahl hinterher nicht angefochten werden kann.

Nach einer Weile und etlichen Mühen sind dann alle acht Wahlzettel beisammen und es kann an die Auswertung gehen. Ich verwandle mich flugs in Jörg Schönenborn und kommentiere beim Auszählen der Stimmen bereits aufs Demokratisch-Medialste den Trend und die Wählerwanderungen sowie Rückschlüsse und Koalitionsmöglichkeiten, bedanke mich aber auch namens der Politiker bei allen Wählern; betone, dass bei der Besetzung der Posten selbstverständlich Sachthemen vor Parteienproporz gehen wird und gebe dann „zurück nach Berlin“!

Mein Wahlvolk ist fasziniert und erwartet gebannt die Verkündung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses. Drei der acht Teilnehmer geben trotz meiner Erläuterungen ungültige Stimmzettel ab, entweder weil sie von den Auswahlmöglichkeiten überfordert sind und vorsichtshalber bei jedem Kandidaten ein Kreuz machen, oder weil sie nicht wissen, wenn sie wählen sollen.

Frau P., die den gesamten Vormittag gewohnheitsmäßig in ein- und derselben Position dasitzt und vor sich hinstarrt, kriegt alles mit und überrascht manchmal durch plötzliche Einlassungen, die es in sich haben. Als der Wahlzettel vor ihr liegt und es ans Ausfüllen geht, sagt sie indigniert: „Was soll ich mit dem Blödsinn? Ich hab noch nie gewählt und tu es auch jetzt nicht!“

Das Wahlergebnis selbst ist dann eine handfeste Überraschung. Womit keiner gerechnet hat, tritt ein, und der unbekannteste Kandidat, ein Herr Scholz von der Kleinpartei „SPD“, wird mit klarem Vorsprung neuer Bundeskanzler der BRD!

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das jetzt alten Parteipräferenzen und Wahlgewohnheiten zuzuschreiben ist, oder ob es einfach daran liegt, dass Olaf Scholz ganz unten auf dem Wahlzettel steht und damit für die meisten am einfachsten anzukreuzen ist.

Meine Leute jedenfalls wirken nicht besonders überrascht über das Endergebnis und finden, dass auch mit dem neuen Kanzler alles bestens geordnet ist. Ich kann mich allerdings des Eindruckes nicht erwehren, dass Interesse und Enthusiasmus meiner Gruppe bei der jede Woche einmal anstehenden Wahl der Mittagsmenüs für die kommende Woche deutlich ausgeprägter sind als bei einer letzen Endes doch irgendwie unbedeutenden Bundestagswahl.

Kurze Zeit später sitzen alle beim Mittagessen, und Frau S., die einen leeren Stimmzettel abgegeben hat, vereint sämtliche Anteile ihres Mittagessen zu einer Großen Koalition, indem sie Vorsuppe, Hauptgericht, Joghurt und Pudding kunstvoll durcheinander mischt und sich an den resultierenden Farbeffekten erfreut. „Sehr lecker!“, sagt sie und löffelt zufrieden weiter.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Das Rätsel der verschwundenen Zähne und der Fliegende Holländer

Die „Tagesgruppe Demenz“ ist heute wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, bzw. erinnert an das Kinderlied von den Zehn kleinen Negerlein: einer muss mal, die nächste ist müde und will aufs Zimmer, der dritte wird vom Physiotherapeuten abgeholt, die vierte muss zum Blutdruckmessen oder zum Wiegen – von neun Leuten waren’s jedenfalls irgendwann nur noch vier.

Seit um 7:15 der erste Teilnehmer erscheint bin ich mit den Leuten zusammen. Als gegen 9:30 alle Anwesenden gefrühstückt haben, begleitet von ständigen Unterberechungen und einem dauernden Raus und Rein, ist die Energie im Raum chaotisch und zerstreut. Das Wetter trägt seinen Teil zum Stress bei; es ist drückend und stickig, wenn auch zum Glück nicht zu heiß.

Frau F. kommt mir heute optisch anders vor als sonst. Ihr Gesicht wirkt kindlicher und älter zugleich. Plötzlich geht mir ein Licht auf: sie hat ihre Zahnprothese nicht drin!

Es ist eigentlich Aufgabe der Pflegekollegen, die die Bewohner aufwecken, waschen und anziehen, auch dafür zu sorgen, dass Gebiß und Hörgeräte eingesetzt sind.

Ich schaue Frau F. an, die bereits ein ganzes Brötchen ohne sichtbare Probleme verzehrt hatte, und frage sie, ob sie nicht ihre Zähne vermissen würde. „Wie? Die Zähne? Wirklich??“ – sie greift sich in den Mund und stellt anscheinend zum ersten Mal heute fest, dass sich die Zähne nicht an ihrem üblichen Platz befinden.

Die labbrigen Gummibrötchen, über die sich die Bewohner in der Regel verärgert beschweren, scheinen diesmal einen positiven Effekt gehabt zu haben. Frau F. konnte sie problemlos auch ohne Zähne verspeisen. Ich rufe eine Pflegekraft herbei und frage, wieso die Frau heute keine Zähne im Mund hat. „Ja, irgendwie waren die nicht da… ich konnte die nirgends finden“, gibt die gestresste Kollegin an. Ich vermute, sie hatte einfach keine Zeit um zu suchen.

Fürs Erste müssen wir aber damit leben, dass Frau F.s Zähne verschwunden sind. Das ist natürlich eine spannende Geschichte, eine zwischen Kriminalfall und Abenteuerroman, die wir sogleich aufgreifen und ausspinnen: Haben sich die Zähne etwa selbständig gemacht? Sind sie auf der Flucht? Und wenn ja: warum? Was ist ihnen widerfahren?

Meine Schützlinge sind angetan von der Idee, dass die Zähne sich von alleine auf die Socken gemacht haben und auf eigene Faust die Welt erkunden. Das ist genau die absurde Situationskomik, die bei dementen Menschen gut ankommt. Gleichzeitig machen sie sich natürlich zusammen mit Frau F. Sorgen, dass den kleinen Kameraden Ungemach drohen könnte, jetzt, wo sie so allein und verloren in die große Welt geraten sind.

Nach 5-sekündiger eingehender Nachforschung liegt der Tathergang klar vor mir: die Zähne haben sich gelangweilt und sind kantapper, kantapper in den Wald hinein, wie einst der dicke fette Pfannekuchen. Dort lauern allerlei Gefahren, vor allem vom schlauen Fuchs, der die Zähne dummerweise als Beute betrachtet. Der Hase dagegen lässt sich vom Geklapper der Zähne in die Flucht schlagen. Was werden die armen Zähne so ganz allein im Wald jetzt anstellen? Sie fürchten sich ein bißchen, denn es ist Nacht, und vom Himmel blinkt die bleiche Sichel des Mondes….

An dieser Stelle bricht die abenteuerliche Geschichte der Zähne abrupt ab, denn die Zeile mit der bleichen Mondsichel entstammt dem „Capri-Fischer“-Lied von Rudi Schuricke, das jeder hier auswendig kennt. Jetzt steht als erstmal eine Musik- und Gesangsrunde an.

Wir spielen und singen ein paar Schlager; Frau N. fragt nach irgendeinem Lied, von der ihr gerade eine Verszeile einfällt und nach zwei, drei Schlagern landen wir bei den Seemannsliedern von Freddy Quinn. Wir singen, erzählen, schwelgen in Erinnerungen an vergangene Zeiten, vor allem aber freuen sich die Teilnehmer, dass sie die Lieder kennen und die Texte mitsingen können. In all der Verlorenheit und Unerklärlichkeit des dementen Geistes ist es umso wichtiger, dass die Fragmente der Erinnerung, die erhalten geblieben sind, gepflegt und aktiviert werden.

Mit Musik geht das erfahrungsgemäß am besten – selbst Demente in den Endphasen ihrer Erkrankung erinnern sich an Melodien und häufig auch an Texte der ersten Lieder, die sie kennengelernt haben.

Durch die Seemannslieder inspiriert sprechen wir auch über Seemansgarn. Das wiederum führt uns direkt zum „Fliegenden Holländer“, wohl die bekannteste Seemanns-Sage. Da ich selber nicht ganz firm bin, was die Details dieser Story betrifft, lese ich meiner Runde einen kurzen Erklärtext vor. Darin heisst es über Bernard Fokke, das historische Vorbild für die Sagenfigur des Fliegenden Holländers, unter anderem:

“Die einen nannten ihn einen Zauberer. Andere sprachen von einem Bund mit dem Bösen und dergleichen. Dieser Glaube wurde noch gestärkt durch Fokke’s ganz ungewöhnliche Größe und Körperkraft, durch ein höchst abschreckendes Äußere und ein rohes zurückstoßendes Benehmen, so wie seine Gewohnheit, bei den geringsten Hindernissen fürchterlich zu fluchen.“

Meine Runde ist fasziniert. Um ihre Fantasie bildlich zu unterstützen, male ich ihnen den raubeinigen Kapitän aufs Flipchart und gebe ihnen ein paar Beispiel für kräftiges Fluchen, die ich hier keinesfalls wiedergeben kann und will. Das finden alle klasse, lachen und sind beeindruckt von Käpt’n Fokke, der auf meiner Zeichnung gerade den Kombüsen-Smutje Hein Mück zusammenstaucht, weil der die Kartoffeln zu dick geschält hat.

Nur Herr V., der ganz vorne, direkt neben dem Flipchart, sitzt, hat irgendein Problem. Während ich zeichne, zupft er mich am Hemd und versucht, seinen Einwand zu artikulieren. Da seine Aussprache kaum verständlich ist, ist das keine einfache Angelegenheit. „Holzschuh zu!“ höre ich schließlich raus, und er wiederholt diese Worte immer wieder, wobei er mich am Hemd zupft und auf die Tafel zeigt. Jetzt kapiere ich, was er meint: die Holzschuhe, die ich dem Käpt’n und dem Smutje gezeichnet habe, sind hinten offen. Die Original holländische Holzpantinen – die Klompen – sind hinten geschlossen!

Dieser darstellerische Lapsus hat Herrn V. dermaßen gestört, dass er mit all dem Nachdruck, zu dem er fähig ist, mich darauf aufmerksam macht. Ich korrigiere also meinen Fehler und bestätige vor der Runde, dass Herr V. selbstverständlich Recht hat.

Inzwischen betritt die Wohnbereichsleiterin den Gruppenraum, um mal nach dem dementen Teil der ihr anvertrauten Bewohnerschaft zu schauen. Sie erfährt von dem Waldabenteuer der Zähne und kommentiert: „Ach was! Die sind oben auf dem zweiten Regal in einer Plastikdose…“

Somit ist auch dieses Rätsel gelöst, wobei offen bleibt, ob die Zähne nie fortgelaufen waren oder ob sie nach bestandenen Abenteuern lieber wieder zurück in Frau F.s Zimmer geschlichen sind. Ein Praktikant wird nach den Zähnen geschickt und keine 3 Minuten später sind die ausgebüxten Racker wieder ordnungsgemäß im Mund von Frau F. – gerade rechtzeitig zum Mittagessen, das jetzt ansteht. Die weichen Kohlrouladen mit Hackfleischfüllung plus Kartoffeln allerdings, die heute auf dem Menüplan stehen, hätte sie auch ohne die Zähne locker weggefuttert.

Geschichten aus dem Pflegeheim: die Fronleichnamsprozession

Feiertagsdienst am katholischen Fronleichnam in einer evangelischen Einrichtung. Der Tag beginnt schon mit einer Art innerer Kreuzigung für eine meiner „Tagesgruppen“-Schützlinge, die 91-jährige Frau Sch. Während ich im Frühstücksraum die Lage sichte, Tische eindecke und die Anwesenden erstmal begrüße, öffnet sich die Tür zu Frau Sch.‘s Zimmer – es liegt direkt neben dem Speiseraum – und eine Pflegekraft verläßt den Raum mit den aufmunternden Worten „Und jetzt schön frühstücken gehen!“ an Frau Sch.

Ein paar Sekunden später taucht eine völlig verwirrte und konsternierte Frau Sch. auf und steckt den Kopf aus dem Türrahmen. „Was ist denn hier los? Sowas hab ich ja noch nie erlebt!!“ sagt sie, den Tränen nah. „So können die doch nicht mit mir umgehen! Ich weiß überhaupt nicht mehr, was los ist!“

Ich ahne, dass es hier nicht um ein etwaiges unangemessenes Verhalten der Pflegekraft geht, sondern um die inneren Abgründe von Frau Sch. Also nehme ich sie erstmal in den Arm und frage, was passiert ist – obwohl ich weiß, dass gar nichts passiert ist außer Erschrecken, Nicht-Begreifen und Verunsicherung über Frau Sch.s Verlorenheit in der eigenen inneren unbekannten, immer diffuseren Fremde an diesem Morgen.

Ich weiß gar nicht, wer ich bin! Ich glaube, ich brauch einen Psychiater. Was stimmt denn mit mir nicht?“ Sie schaut mich tränenüberströmt an. „Ich bin doch sonst eine fröhliche Person, aber heute stimmt gar nichts! Ich kann mich auch gar nicht wehren!“

Das kann ich gut verstehen“, versichere ich ihr. „Man fühlt sich wie ein winziger Tropfen in einem riesigen Ozean, der einen verschluckt…“

Jetzt schaut sie mich an und wirkt fast erleichtert. „Ja, genau!“, sagt sie, und bekräftigt: „Ich bin bloß eine alte Frau!“ – so als würde das alles erklären, weil eine einzige kleine alte Frau gegen die Gesamtheit eines komplett unverständlichen und ständig weiter zerbröselnden Universums ja sowieso nicht ankommt.

Sie ist jetzt jedenfalls etwas entspannter und bittet mich, ihr die Tränen abzuwischen, weil sie nicht so verheult in den Speiseraum will. Gesagt, getan und den Rest erledigt ein leckerer Kaffee und die feiertäglichen Marmeladenbrote.

Als alle mehr oder weniger fertig gefrühstückt haben, stellt sich die Frage, wie wir den gemeinsamen Vormittag verbringen. Im Grunde habe ich meine wochentägliche „Tagesgruppe Demenz“ hier versammelt, erweitert um zwei oder drei Frühstücksgäste aus dem Wohnbereich.

Da Fronleichnam ist, bietet sich zum Einstieg das „Warum wird dieser Tag überhaupt gefeiert“-Ratespiel an. Das weiß natürlich keiner, auch die allerkatholischsten Leute nicht. Allerdings wissen sie das schon bei Weihnachten oder Ostern kaum oder gar nicht. Ich muss ihnen also auf die Sprünge helfen. Natürlich hat jeder schon mal den Begriff „Fron“ oder „Fronarbeit“ gehört, und was ein Leichnam ist, ist auch jedem klar. Sollte der Feiertag etwa bedeuten, dass jemand so lange Fronarbeit leisten muss, bis er tot zusammenbricht und als Leichnam liegen bleibt?

Diese auf den ersten Blick naheliegende Erklärung wird von meiner Runde nach kurzem Nachdenken verworfen, da man weiß oder ahnt, dass es mal wieder irgendwas mit Jesus zu tun hat, und der starb ja am Kreuz und nicht aus Erschöpfung von zu viel harter Arbeit. Ich löse das Rätsel und erzähle kurz und in einfachen Sätzen, worum es bei dem Feiertag geht und welches Ereignis des Neuen Testaments da begangen wird. Dass der Jesus mit seinen Freunden gerne aß und trank, leuchtet jedem ein; dass er angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung seine Jünger bat, in Zukunft beim Essen und Trinken an ihn zu denken, versteht auch jeder.

Wir haben zwar gerade gefrühstückt und das Brot somit schon „gebrochen“, und Wein gibt’s um die Uhrzeit natürlich erst recht nicht, aber wir prosten uns mit erhobenen Kaffeetassen zu und lassen uns und Jesus hochleben.

Nun fällt Frau N. ein, dass zu Fronleichnam immer Prozessionen stattfinden, bei denen Wald und Feld und Flur und Gemarkung gesegnet wird. Das ist ein super Hinweis, den ich gerne aufgreife. Ich verkünde meiner Truppe, dass wir aus Anlass des hohen Feiertages heute unsere eigene Prozession machen werden und frage in die Runde, was man für eine anständige Prozession so bräuchte.

In kürzester Zeit stehen diese Ingredienzen am Flipchart:

– Baldachin

– Kerze

– Kreuz

– Marienstatue

– Weihrauch

– Glocke

– Segnungs-Stab

Bis auf den Weihrauch haben wir tatsächlich alles im Haus. Ich schicke einen Kollegen los, einen Regenschirm besorgen: der wird unser Baldachin. Eine Kerze ist kein Problem; wir haben sogar einen verglasten Kerzenhalter – offenes Feuer geht aus Sicherheitsgründen nicht. Als Glocke muß uns die Stammtischglocke dienen, die ich mal für die Frühschoppen- und Stammtisch-Runden angeschafft habe.

Eine hölzerne Marienstatue von etwa 1,50 m Höhe steht tatsächlich im Keller der Einrichtung, seit die Besitzerin vor etwa 6 Monaten verstarb. Bleibt der Segnungs-Stab: ich meine mich zu erinnern, dass die Priester bei solchen Prozessionen mit irgendeinem Stab, an dem vorne ein Tuch oder ähnliches zum Wedeln befestigt ist, die Segnungen vornehmen. So greife ich mir den Gehstock eines Bewohners und schaue in Frau Sch.s Zimmer nach einem geeigneten Wedel-Utensil. Ein Damenstrumpf erfüllt den Zweck aufs Vorzüglichste.

Wir beratschlagen kurz und die Runde ist der Meinung, dass wir angesichts unserer echten Marienstatue ruhig auf das Kreuz verzichten können. Wir haben zwar eins unten im Großen Speisesaal, aber das ist zu schwer zum Rumtragen. Jetzt kann unsere Prozession beginnen!

Da die anwesenden Bewohner alle nicht mobil sind, müssen die Kollegen zum Prozessieren ran. Der zweite für heute eingeteilte Mitarbeiter des Sozialen Dienstes wird zum Kerzenträger, der muslimische Praktikant des Wohnbereiches wird als Statuenschieber und Baldachinhalter in christliche Gebräuche eingewiesen, ich bilde den Schluss der Prozession mit dem Segnungs-Stab. Die Glocke wird von der darüber hocherfreuten Frau N. geschlagen.

Dank Apple Music ist auch sogleich die passende Musik bei der Hand, und zu den Klängen von „Lauda Sion Salvatorem: Sequentia (Fronleichnam)“ drehen wir drei Runden durch den Speisesaal des Wohnbereiches. Der schöne gregorianisch anmutende Chorgesang ist wie geschaffen für meine Segnungen, die ich musikalisch versiert und melodisch akkurat allen und jedem spende.

Nachdem jeder Anwesende, das Haus selber, die Ortschaft sowie der gesamte Erdball meinen Fronleichnamssegen empfangen hat, wirken die Bewohner gelöst und beschwingt über das Zinnober, das ich keineswegs als religiöse Persiflage aufgeführt habe, sondern als unterhaltsames, aber ernstgemeintes Spektakel. Katholische Hardliner mögen so etwas als Blasphemie ansehen; ich selber billige meiner Pflegeheim-Prozession mindestens soviel Gültigkeit zu wie ihren „offiziellen“ Pendants.

Damit es nicht zu kirchlich wird, und weil es in Strömen regnet, wenden wir uns musikalisch aber wieder eingängigerem Liedgut zu und spielen und singen alle möglichen Songs, die mit Regen zu tun haben – schon wieder Gelegenheit für eine kleine Rate-Runde. Schon naht die Mittagsstunde und der Raum muss wieder anderen Zwecken gewidmet werden. Als ich die Marienstatue hinausschiebe, bemerke ich die anerkennenden und gut gelaunten Blicke vieler Anwesender – nicht mir geltend, sondern der schönen, fast lebensgroßen Holzfigur.

Frau Sch., morgens noch todtraurig und aufgelöst, wirkt jetzt munter und beglückt über die angenehme Abwechslung. Sie isst ihr Mittagessen mit Appetit und bedankt sich, als ich sie aufs Zimmer bringe und in ihr Bett lege, nochmal bei mir. Irgendetwas in ihr ist wieder „eingerenkt“, vielleicht sogar durch das Ritual in Harmonie mit der Situation gebracht worden. Morgen oder schon heute Nachmittag kann sich das bereits wieder ändern, aber in diesem Moment begibt sich eine zufriedene und sehr entspannte Frau Sch. zum Mittagsschlaf.

Geschichten aus dem Pflegeheim: das Feiertagsvirus und die Liebe in Neuss

Dritter Tag in Folge Küchendienst, dritter Tag in Folge früh aufstehen um gegen 7:15 in der Einrichtung aufzuschlagen. Heute muss ich mich wieder selbst auf COVID-19 testen, so dass ich erstmal den Aufenthaltsraum des Wohnbereiches ansteuere, wo das Schnelltest-Equipment liegt.

Auf dem Gang kommt mir die zwischen Aufgeregt- und Aufgelöstheit oszillierende Schwester A. entgegen, die Feiertagsverantwortliche für den Wohnbereich. „Ah, Gottseidank, du bist unsere Rettung – hoffe ich jedenfalls!“ ruft sie mir entgegen. Ich ahne, was sie will. Und richtig: „Der D. hat sich krankgemeldet und wir sind nur zu dritt in der Pflege. Wir können unmöglich auch noch die Küche mitmachen…“

D. ist der FSJler, der seit einem dreiviertel Jahr vorwiegend im Küchendienst des Wohnbereiches 2 eingesetzt wird. Dass er heute ausfällt, ist für mich schon fast keine Überraschung mehr, da es zu einem rätselhaften, bislang noch unerforschten medizinischen Phänomen passt: das FEIERTAGS-VIRUS, das ausschließlich junge Menschen befällt, außerdem ebenso ausschließlich FSJler, Praktikanten und andere nicht-festen Arbeitskräfte.

Diese tückische Infektion schlägt beinahe immer an Sonn- und Feiertagen zu, wo man sich nur bei den betroffenen Kollegen abmelden muss und nicht bei der Personalverantwortlichen des Ladens. Die ohnehin ausgedünnte Personaldecke der Einrichtung ist am Wochenende und an Feierabend dermaßen löchrig, dass der Ausfall eines weiteren Kollegen einer Totalkatastrophe gleichkommt.

Dummerweise habe ich – was Schwester A. weiß – im anderen Wohnbereich Küchendienst. Jetzt ist Verhandlungsgeschick gefragt. Der andere Wohnbereich ist kleiner, die Arbeit in der Küche weniger. Die Frage ist: sind die dortigen Pflegekollegen (ganze zwei) bereit, mich „abzugeben“ und die Mahlzeiten und die Küchenarbeit selber zu schultern.

Die Antwort ist ein klares „Nein!“ – weil Montags der Tag ist, an dem in diesem Wohnbereich „die Medikamente gestellt“ werden. Das ist eine Aufgabe, die mehrere Stunden in Anspruch nehmen kann. Es ist nämlich bei weitem nicht damit getan, ein paar Pillen in die kleinen farbigen Plastikbecherchen zu tun, sondern man muß pro Bewohner die Medikamentendosis für eine Woche (und zwar 4-mal täglich) bereitstellen. Die Verschreibungen wollen überprüft sein, im Idealfall auch die Beipackzettel abgeglichen werden mit Verhaltens- und Reaktionauffälligkeiten des jeweiligen Bewohners, das Ganze muß natürlich auch dokumentiert werden usw.

Die Pflegekräfte meines eigentlichen Wohnbereiches 2 (ich bin nur für dieses Feiertagswochenende dem Wohnbereich 3 zugeteilt) fügen sich resigniert in ihr Schicksal und ich mache mich im Speiseraum von Wohnbereich 3 an die Arbeit.

Heute sind alle früh erschienen; die Pflege hat es wegen des „Medikamente stellen“ erkennbar eilig, die Leute zeitig „fertigzumachen“ und diejenigen im Speiseraum abzuliefern, die dort die Mahlzeiten einnehmen. Um 9:30 sind alle längst fertig und ich habe aufgeräumt und den Tisch schon mal fürs Mittagessen eingedeckt. Ich besuche Wohnbereich 2, wo es genau andersrum aussieht: erst die Hälfte der Leute hat überhaupt gefrühstückt, viele sind noch in den Zimmern, Frühstückswagen und gedeckte Tabletts usw. stehen im der Wohnbereichsküche rum – die Pflege kommt erwartungsgemäß nicht hinterher mit der Arbeit.

Um die Pflegekollegen zu entlasten, schnappe ich mir alle, die schon fertig gefrühstückt haben und nehme sie mit in den „Tagesgruppen“-Raum, der genau zwischen den beiden Wohnbereichen liegt. Dort habe ich vorher schon die Bewohner des kleineren Wohnbereiches 3 versammelt. Jetzt habe ich dort zehn Leute sitzen, die ich irgendwie bis 11:15 beschäftigen und unterhalten muss.

Da Bilder und Musik immer gehen, spiele ich ihnen alte Schlager vor und zeichne dazu. Oder umgekehrt. Ich fange mit irgendetwas an und das Weitere ergibt sich durch die Interaktion mit meinen Zuhörern/Zuschauern. Wir landen bei der Werbung eines jungen Mannes um die Dame seines Herzens und all dem, was dazu nötig ist. Ein Blumenstrauß auf jeden Fall, wissen meine Leute. „Ein Hund!“, ruft Frau Sch., was zustimmend akzeptiert wird, auch wenn Hunde meines Wissens nach keine Rolle bei der romantischen Annäherung spielen.

Dann wird gefordert, dass das ganze in Neuss stattfindet, also der Stadt, in dem unsere Einrichtung sich befindet. Die Allerwelts-Silhouette, die ich hinzeichne, wird ebenso als Neusser Skyline akzeptiert wie vorher der Hund als Accessoire des Brautschauenden, und wir kommen zu den Details der Bekleidung sowie der Gemütsverfassung der beiden Aspiranten. Auch ein Reisebüro soll mit aufs Bild, wird gefordert. Vermutlich für die Hochzeitsreise.

Da wir gerade den 1950er-Jahre-Schlager “Du hast so wunderschöne blaue Augen” von Heinz Woezel & den Quintons gehört haben, bietet sich der Aufreißer-Satz des auf Freiersfüßen wandelnden Jungspundes von selbst an. Sie allerdings hat den Spruch schon allzu oft gehört und überlegt sich deshalb, ob sie ihn überhaupt zum Zuge kommen läßt oder ihn wegen plumper Anmache gleich abserviert. Eigentlich aber ist sie doch sehr angetan von seinem Charme, von den schönen Blümchen und vor allem von dem Hündchen!

So fügt sich letztlich alles zum Ganzen, die zwei kommen doch noch zusammen, aber zunächst mal müssen einige Hürden und Mißverständnisse überwunden werden. Eben genauso wie im wirklichen Leben. Meine Zuhörer sind angenehm unterhalten und verfolgen mit Anteilnahme die Romanze, die sich vor ihren Augen an dem TV- Bildschirm entwickelt, an den ich mein iPad angeschlossen habe.

Das Lied von den blauen Augen bietet sich aber auch noch für einen weiteren naheliegenden Spaß an: als Boxerhymne nämlich, denn wie jeder weiß, ist es u.a. das Spottlied, dass die Verlierer eines Boxkampfes sich anhören müssen. Ich brauche das iPad jetzt für die Akustik, so daß ich am Flipchart weiterzeichne. Die Darstellung von K.O.-Harry nach seinem einzigen Kampf, den er nicht durch K.O. gewann, sondern VERLOR, überzeugt meine versammelten Alten auf Anhieb.

Schon ist 11 Ihr vorbei und ich muss die gemütliche Runde beenden; das Mittagessen rückt näher. Als ich die Bewohner vom Wohnbereich 2 in ihren Wohnbereich zurückbringe, kommt mir PFK A. entgegen und verkündet mir die freudige Nachricht, dass die bilateralen Absprachen mit den Pflegekollegen der 3 erfolgreich waren: die „Dreier“ haben ihre Medikamentensache schneller als gedacht bewältigt und sind einverstanden, dass ich beim Mittagessen dem Wohnbereich 2 helfe und nicht ihnen.

In der mir vertrauteren Küche „meines“ Wohnbereiches fällt zwar doppelt soviel Arbeit an als auf der 3, dafür kenne ich die Abläufe viel besser. So wirble ich noch zwei Stunden zwischen Küche, Speiseraum und Großküche umher bis alle gegessen haben, alles aufgeräumt ist und sämtliche Vorbereitungen für die Spätschicht getroffen sind.

Mittlerweile bin ich zusätzlich zu meinem normalen Überlastungszustand derartig platt, dass ich die eigentlich für den Nachmittag geplante Malgruppe absage- was mir schwerfällt, weil ich weiß, wie sehr die Leute gerade dieses Angebot lieben (und weil es meine persönliche Lieblingstätigkeit im Rahmen des Sozialen Dienstes ist).

Laut Dienstplan kann ich ohnehin um 14:00 nach Hause gehen; ich hatte meinen Seniorenkünstlern aber versprochen, das ich trotzdem die Malgruppe anbiete. Das hat sich jetzt erledigt, ich bin einfach zu kaputt von der Arbeit. Ich male schnell noch ein Cancellation-Plakat und mache mich aus dem Staub.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Lätzchen für die Kranken

Wochenenddienst im Wohnbereich 3. Da feiertagsbedingt mal wieder keinerlei Personal für die Küche aufzutreiben ist, bin ich drei Tage hintereinander für Frühstück und Mittagessen dieses Wohnbereiches zuständig. Gleichzeitig wird von mir erwartet, dass ich in den verbleibenden knapp 90 Minuten zwischen den Küchendiensten ein wohnbereichsübergreifendes Angebot, also eins für ALLE Bewohner der Einrichtung, auf die Beine stelle.

Das Angebot selber ist kein Problem; zur Not improvisiere ich mit Hilfe eines Flipcharts und ein paar Stiften sowie einer geeigneten Musik-Playlist irgendein wildes oder weniger wildes Halligalli, das die Leute garantiert unterhält und ihnen den Vormittag erträglicher erscheinen läßt.

Die ZEIT ist das Problem. Zwar ist der Wohnbereich 3 der kleinste der drei Wohnbereiche des Hauses, der Arbeitsanfall im Küchendienst daher überschaubar, aber ich bin der einzige Mitarbeiter des Sozialen Dienstes, der heute Vormittag anwesend ist.

Und das bedeutet, ich muss den Transfer der Bewohner zum Veranstaltungsraum alleine bewältigen: zwei Stockwerke, drei Wohnbereiche, sechs lange Gänge und ca 40 – 50 Bewohner, die zumindest angesprochen werden müssen – wenn auch nur 10 von denen zum Angebot kommen wollen, bin ich pro Person 2-4 Minuten unterwegs. Die meisten sitzen in Rollstühlen, was den Transfer schneller macht, weil ich sie dann ziemlich zügig schieben kann. Diejenigen mit Rollator allerdings brauchen Begleitung quer durchs Haus; darauf, dass sie den Weg alleine finden und von selber zum Angebot kommen, kann man sich bei den wenigsten verlassen.

Das Angebot soll um 10:00 im Großen Speisesaal beginnen, wo diejenigen Bewohner ihre Mahlzeiten zu sich nehmen, die nicht auf den Wohnbereichen oder im Zimmer essen. Um 10:10 habe ich sieben oder acht Bewohner im Saal, die ich alle selber hinbegleiten musste. Ich könnte jetzt noch weiter treppauf-treppab durchs Haus sprinten, um weitere Interessenten einzusammeln, beschließe aber, dass das keinen Sinn macht: erstens kann ich die schon im Saal Versammelten nicht noch länger sich selbst überlassen (sie würden wieder anfangen, in alle Richtungen abzuwandern), zweitens habe ich keine Zeit mehr zu verlieren, denn spätestens um 11:15 muß ich den Saal wieder umräumen, mein Equipment wegbringen und wieder im Wohnbereich sein, um alles für das Mittagessen herzurichten.

Zu allem Überfluß versagt auch noch die Technik im Saal. Das iPad verbindet sich nicht mit dem Beamer, obwohl alles korrekt angeschlossen ist; als es dann klappt, wirft der Beamer ein auf dem Kopf stehendes Bild auf die Leinwand. Damit ist klar, dass jetzt auf jeden Fall Flipchart, Stifte und Improvisation angesagt sind.

Eine Stunde später bin ich zurück im Wohnbereich 3, wo die überforderten beiden Pflegekräfte (eine Fachkraft, eine Auszubildende) alle Hände voll zu tun haben, die 15 oder 16 Bewohner zu versorgen. Sie beklagen sich, dass Frau Sch., eine der BewohnerInnen mit „Hinlauftendenz“, alleine im Speiseraum des Wohnbereichs gelassen wurde – ich hatte die Frau zwar eingeladen, aber sie nicht selber abgeholt und zur Veranstaltung gebracht.

„Hinlauftendenz“ hieß früher (zutreffender) „Weglauftendenz“, was in Zeiten des Versuches, mit Sprache die Wirklichkeit zu korrigieren, nicht mehr erwünscht ist. Besagte Dame ist tatsächlich gelegentlich ausgebüchst, und zwar auf eine Weise, die kaum bemerkt wird, wenn man sie nicht dauernd im Auge behält. Sie wandert einfach gemütlich die Treppe zum Foyer hinab und ist dann blitzschnell durch den Haupteingang verschwunden. Dass an Wochenenden und Feiertagen die Rezeption nicht besetzt ist, würde ihr das Verlassen der Einrichtung noch erleichtern. Schon mehrfach musste Frau Sch. in solchen Situationen von der Polizei aufgegriffen und zurückgebracht werden.

Um Frau Sch. irgendwie am Platz zu halten und ihr ein bißchen Abwechslung zu bieten, haben die Pflegekräfte den Fernseher angestellt und lassen eine YouTube-Naturdoku laufen. Jetzt sitzt allerdings bloß noch die nicht minder demente Frau B. im Raum. Frau Sch. wurde für den Rest des Feiertages von ihrem Gatten abgeholt.

Frau B. sorgt häufig für Heiterkeit bei Betreuern und Pflegekräften, weil sie in ihrer weitgehenden Desorientiertheit und dementiellen Einschränkung großen Wert darauf legt, den Eindruck einer orientierten und gebildeten Dame aufrechtzuhalten. So fragt sie mich zum Beispiel gerne, ob ich auch etwas „für die Dementen“ anbieten würde (zu denen sie sich also eindeutig nicht zählt) oder, wenn ich den Tisch decke, ob das „für die Kranken“ sei – ihre Bezeichnung für die anderen Bewohner.

Sie mischt sich viel und gerne in die Versorgung und Betreuung der Mitbewohner ein, so als wäre sie die Herbergsmutter oder Teil des Mitarbeiter-Teams. „Binden Sie der Frau mal das Lätzchen um!“, weist sie mich an, als ihre Sitznachbarin Platz nimmt – noch einer der verpönten Ausdrücke, denn die „Lätzchen“ sind erstens zehnmal so groß wie ein Baby-Lätzchen und werden zweitens politisch korrekt „Kleiderschutz“ genannt.

Schließlich sind alle versorgt, das Mittagessen ist vorüber, nur noch Frau B. sitzt im Speiseraum und im Fernsehen läuft immer noch die Naturdoku – ohne Ton natürlich, aber das würde bei Frau B. nicht viel ausmachen, da sie nahezu taub ist ohne ihre Hörgeräte (die sie so gut wie nie benutzt).

Sie wirkt fasziniert von den Bildern auf dem großen Monitor. Versonnen schaut sie den Wasser- und Luftbewohnern aus dem Tierreich zu, die in dieser schön gemachten BBC-Dokumentation gezeigt werden.

Lange Zeit kann sie ihren Blick nicht lösen vom Geschehen und scheint von der Unschuld, der Natürlichkeit, der Direktheit und der FREIHEIT der Tiere in den Bann geschlagen. Außerdem ist der Ozean natürlich eine gute Metapher für den Geist; demente Menschen treiben auf einem immer brüchiger werdenden Nachen in einem unbekannten Ozean, in dessen Wellenbewegungen und Stürmen, in dessen Tiefen und Weiten sie sich zunehmend verloren fühlen.

Geschichten aus dem Pflegeheim: die Hände am Ende der Arme

Die „Tagesgruppe Demenz“ ist heute eine müde Runde. Die früh aufgestandenen bzw. geweckten („fertig gemachten“, im Pflege-Jargon) Teilnehmer, die mitunter bereits eine dreiviertel Stunde vor Beginn von den stets gestressten Pflegekollegen gebracht werden, schlafen schon wieder ein oder dösen vor sich hin, diejenigen, die pünklich gebracht wurden, sind noch müde, und einige sind noch gar nicht erschienen.

Zu allem Überfluß bin ich alleine; kein FSJler, kein Praktikant, kein Pflegeschüler der mir assistieren kann, so drastisch ist die Personalnot im Haus. Im Grunde lässt sich die „Tagesgruppe“ alleine gar nicht bewältigen. Neun demente Personen müssen betreut werden, inklusive Mahlzeiten – da bleibt kaum Zeit für den Gang zum Klo zwischendurch.

Das geht schon seit Tagen so, ein Ende ist auch nicht abzusehen; die PDL – auf den Zustand angesprochen – meint nur lapidar, im Moment sehe es eben ganz schlecht aus und man müsse mit dem Personal arbeiten, das zur Verfügung stünde.

Die Alternative ist, die Leute im Wohnbereich zu belassen statt sie in den vertrauten Gemeinschaftsraum der Gruppe zu bringen. Eine solche Unterbrechung ihrer Routinen verstört demente Menschen allerdings unnötig; außerdem hätte ich dann genau dieselbe Situation: als einziger Zuständiger des Sozialen Dienstes müsste ich mich um genau dieselben Leute kümmern, abzüglich der „Tagesgruppen“-Teilnehmer aus den anderen Wohnbereichen.

Ich füge mich also in mein Schicksal und versuche, die Runde irgendwie zusammenzuhalten, auf die Leute einzugehen, die verschiedenen Stimmungszustände miteinander auszubalancieren und nebenher noch jedem sein Frühstück zu machen und die Nahrungsaufnahme zu beaufsichtigen.

Zu meinem Glück gibt es heute ein Angebot einer externen Mitarbeiterin, die immer Freitags den allseits beliebten Sitztanz mit den Bewohnern macht. Dieses Highlight der Heimkultur spielt sich nach dem stets gleichen Muster ab, was vermutlich der Grund für seine Beliebtheit ist: auf eine Eingangs-Polka folgen die immergleichen Lieder, zu denen die Externe die Leute zu allerlei dem Liedtext entsprechenden Gesten und Bewegungen animiert. Das Ganze endet mit dem Pflegeeinrichtungs-All-Time-Klassiker „Kleine Schaffnerin“, das mich mittlerweile schon bis in den Schlaf verfolgt.

Jedenfalls ergreife ich rotzfrech die gute Gelegenheit und befördere meine komplette Truppe rechtzeitig vor dem allgemeinen Run auf die begrenzten Plätze in den Gymnastikraum, wo das Angebot stattfindet. Da ich die Leute nicht alleine lassen kann (sie würden nach kürzester Zeit in alle Richtungen auseinander streben, durchs Haus wandern und überall nach dem Weg fragen), muß ich die Gruppe noch eine halbe Stunde bei Laune halten und beschäftigen.

Kein Problem im Gymnastikraum mit seinen Bällen und Bändern und sonstigen Utensilien! Wir spielen mit einem riesigen Gymnastikball Fussball, mit einer großzügigen Hand-Regelung für diejenigen, die ihre Beine und Füße nicht bewegen können. Ich bin mal wieder überrascht, wie viel Spaß meinen Leuten die allersimpelsten Kick- und Tretspielchen machen können und kommentiere ihre Bemühungen wie das Endspiel der Champions League.

Dann erscheint die Externe und führt ihr Angebot durch: eine Stunde Zeit für mich, den Gruppenraum aufzuräumen, das Geschirr abzuwaschen, die Tische schon mal für das Mittagessen einzudecken usw.

Nach einer Stunde hab ich die ganze Truppe wieder beisammen, schon ein bißchen wacher, aber auch angestrengt von der Bewegung. Frau H. und Frau B. , unser Neuzugang aus dem Wohnbereich 1, scheinen besonders aktiviert zu sein. Frau H. Ist der Schalk im Nacken schon anzusehen und ich schaue in neugieriger Erwartung, was sie heute auf Lager hat.

Frau B. wiederum wurde als für die „Tagesgruppe“ geeignet befunden, weil sie eine leichte bis mittelschwere Demenz hat und zwar weder räumlich noch zeitlich orientiert ist, dafür aber enorm kommunikativ. Kommunikativ allerdings mit einer Tendenz zum Monolog. Sie greift gerne Stichworte und Erinnerungen anderer auf, um zu schier endlosen Vorträgen über nur ihr bekannte Details irgendwelcher Ereignisse und Leute aus ihrer persönlichen Geschichte auszuholen. Dabei wird ihre Stimme immer nuscheliger, so dass man am Ende schon akustisch kaum noch versteht, was sie erzählt.

Das führt mitunter soweit, dass die anderen Teilnehmer spätestens beim dritten Satz von Frau B. die Augen verdrehen; ihre direkte Sitznachbarin Frau Sch. rückt sogar von ihr ab und dreht ihren Oberkörper soweit weg wie möglich, um so wenig wie möglich zuhören zu müssen.

Frau H. jedenfalls schaut ihr Gegenüber, Frau B., direkt an und hebt dann die linke Hand. Mit dem Handrücken zu ihrem Gegenüber hält sie die Position für etwa eine halbe Minute, bis Frau B. aufmerksam geworden ist und sie fragt: „Was wollen Sie? Was ist da?

Frau H. bleibt fast ernst, wartet noch eine Weile und sagt dann bedeutungsvoll: „Meine Hand.“ Sie streicht sich mit der rechten Hand über den Handrücken, als würde sie zum ersten Mal die Existenz dieses Körperteils zur Kenntnis nehmen. „Die ist unten an meinem Arm dran“, fügt sie hinzu.

Jetzt schaut Frau B. erst recht verdutzt aus der Wäsche. Das wirkt bei Frau B. einigermaßen komisch, weil sie physiognomisch der Schildkröte Morla aus der „Unendlichen Geschichte“ ähnelt. Sie murmelt ein paar verständnislose Worte wie „Also sowas…“ und „So ein Unsinn!“, beobachtet aber Frau H. genau.

Diese scheint entschlossen, ihrer Vorstellung noch eine weitere Nuance hinzuzufügen und bewegt jetzt beide Unterarme mit erhobenen Händen synchron hin und her, hoch und runter, mal auseinander, mal wie beim Gebet mit aneinander gelegten Händen. „Das können die alles machen!“, sagt sie und wirkt dabei so, als hätte sie diesen erstaunlichen Sachverhalt soeben entdeckt.

Jetzt reicht es Frau B. „Ich hab‘ genug. Ich will nach Hause!“, sagt sie. „Wer bringt mich nach Hause?“, fragt sie in meine Richtung. Ich versichere ihr, dass ich das selbstverständlich tun werde, bitte sie aber, noch das Mittagessen abzuwarten. Das wird akzeptiert, aber ich werde ab sofort alle 5 Minuten gefragt, ob sie anschließend nach Hause gebracht werden würde und wenn ja, von wem.

Frau H. ist zufrieden mit ihrer kleinen Performance und lehnt sich milde grinsend in ihrem Stuhl zurück. Ich lege zur Versöhnung aller mit der Gesamtsituation schnell noch Roy Black auf:

„Glaube, Hoffnung, Liebe
sagen immer wieder: Denke daran.

Es kommt auf die Stunde an
ganz egal, was du tust auf der Welt.

Denn bei allem was du machst
ob du weinst oder ob du lachst

sind die Stunden wenn jemand an dich denkt
dein schönstes Geschenk“

Da können auf jeden Fall alle zustimmen und mitsingen, während man von unten schon das Klappern des Essenswagens hört, der das Ende des Vormittags und dessen krönenden Abschluss, das freitägliche Fischmahl, ankündigt.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Mal wieder Notstand und der Zug, der heute abfährt und auch morgen nicht zurückkommt

Seit vergangener Woche grassiert das Noro-Virus in der Einrichtung. Als ich heute zur Arbeit erscheine, ist schon alles in Alarmstimmung: mittlerweile 10 Bewohner „meines“ Wohnbereiches sind infiziert; insgesamt 13 Mitarbeiter haben sich krankgemeldet.

Eine Noro-Virus-Infektion ist zwar lästig und unangenehm, aber meistens nach 2 Tagen wieder vorbei. Allerdings bleiben Infizierte noch etwa eine Woche lang selber ansteckend für andere. Außerdem kann es wegen des Flüssigkeitsverlustes durch Erbrechen und Durchfall gerade bei Älteren schnell lebensbedrohend werden.

In einer Notbesprechung von Wohnbereichsleitung und Mitarbeitern mit der Einrichtungsleitung werden die Maßnahmen zur Eindämmung dieses fiesen Magen-Darm-Virus verkündet: alle Infizierten sind zu isolieren, die Räume werden nur von entsprechend mit Schutzkleidung ausgerüsteten Pflegekräften betreten, das Geschirr wird in speziellen Plastikboxen separat entsorgt. Sämtliche Bewohner der Einrichtung bleiben ab sofort auf ihren Zimmern, alles Geschirr des Wohnbereiches wird nicht mehr in der Wohnbereichsküche gespült, sondern in die Großküche gebracht, wo hochleistungsfähige Spülmaschinen einen keimfreien Abwasch gewährleisten.

Der Einrichtungsleiter berichtet von seinem Gespräch mit dem zuständigen Gesundheitsamt, wo man ebenso wie er darüber erstaunt war, dass trotz aller Corona-Schutzmaßnahmen ein derart massiver Ausbruch von Noro-Viren passieren konnte.

Er deutet an, dass die krankgemeldeten Mitarbeiter es dann wohl mit der Umsicht und den Schutzvorkehrungen nicht sehr genau genommen haben könnten.

Ich selber denke mir, dass dies die günstigste Gelegenheit für jeden Kollegen ist, sich ein paar freie Tage zu ergattern, indem man sich mit Magen-Darm-Symptomen krankmeldet. Übelnehmen kann ich das keinem. Die Pflegekräfte sind sowieso schon durch den Corona-Alltag jenseits ihrer Belastungsgrenzen; jetzt kommt noch der Noro-Virus hinzu, was im Grunde doppelten Aufwand bedeutet, da so viele Schutzvorkehrungen eingehalten werden müssen. Auch ich ertappe mich bei jedem der obligatorischen Schnelltests alle zwei Tage bei dem Gedanken „Hoffentlich ist das Ergebnis jetzt positiv, dann hast du ein paar freie Tage in Quarantäne zuhause….“

Wenn dann noch Kollegen ausfallen, ist Land unter auf der Station. Ergo wird ab morgen der Personalmangel mal wieder mit externen Leiharbeitern kompensiert.

Für die Bewohner ist der erneute Ausnahmezustand ein „Zurück auf Null“. Die Dementen kommen am schwersten damit zurecht. Die Unterbrechung ihrer gewohnten Tagesabläufe (die meisten habe ich wochentags in der „Tagesgruppe Demenz“) wirft sie aus der Bahn.

Frau Sch., 90 Jahre, sitzt wie ein Häufchen Elend auf ihrem Bett und wiederholt immer wieder „Ich bin so durcheinander…“ und „Wo bin ich hier eigentlich?“. Ich setze mich zu ihr, wir erzählen ein bißchen, hören ein paar alte Schlager und sie beruhigt sich wieder etwas. Als ich für uns beide einen Cappucino organisiere und gemütlich mit ihr trinke, strahlt sie übers ganze Gesicht. „Ihr seid alle so lieb zu mir!“

Keine 10 Minuten später ist sie wieder mit ihrem Rollator auf dem Gang unterwegs. „Wo bin ich hier eigentlich?“, höre ich sie sagen. Ich erklär‘s ihr und begleite sie zurück in ihr Zimmer. Sie versucht, ihrer Verwirrung Ausdruck zu verleihen: „Ich hab das Gefühl, ich bin gar nicht ich“, sagt sie.

DAS Gefühl ist mir wiederum bestens bekannt und ich kann sie beruhigen: „Das ist völlig in Ordnung“, antworte ich. „Keiner weiß, wer „Ich“ ist, alle tun bloß so als ob sie wüßten, wer sie sind. Und außerdem, E. (ich spreche sie immer mit Vornamen an, weil das bei dementen Menschen meistens besser funktioniert als die förmliche Anrede), wenn Sie nicht Sie sind, wer sind Sie denn? Vielleicht ich?“

Diese Art witzig-wahrer Absurdität kommt gerade bei Dementen in der Regel gut an, und auch Frau Sch. muss lachen bei der Vorstellung, dass sie ich ist. Damit ist die Identitätskrise überwunden und wir wandern zusammen den Gang entlang bis zu ihrem Zimmer. „I am he as you are he as you are me as we are all together…“ klingt es danach als Dauerohrwurm in meinem Kopf.

Bevor ich zum Walross werde, sehe ich, wie sich am anderen Ende des Ganges der nächste Alarmzustand entfaltet: Frau H., ebenfalls Mitglied der „Tagesgruppe Demenz“, hat den verordneten Zimmeraufenthalt natürlich ignoriert und sitzt jetzt außerhalb des Wohnbereiches in einem bequemen Sessel.

Vor ihr hat sich die ansonsten sehr sympathische PFK T. aufgebaut und diskutiert mit ihr. Als ich dazukomme, versucht Frau H. gerade, sich mithilfe ihres Rollators aus dem Sessel zu wuchten. Sie ist erkennbar aufgeregt; in einer Mischung aus Einschüchterung und Empörung fragt sie Schwester T. immer wieder, was diese wolle, ob sie (Frau H.) etwas falsch gemacht hätte usw.

Schwester T., ohnehin schon seit Dienstantritt mega-gestresst von der Gesamtsituation, sieht nur, das sie hier für die Einhaltung der Regeln zu sorgen und dann wieder ihren sonstigen Pflichten nachzugehen hat und redet auf Frau H. ein: „Wollen Sie das Noro-Virus kriegen? Wollen Sie das Noro-Virus kriegen?!“

Frau H., die in ihrer Demenz keine Möglichkeit hat, den Sinn dieser Ansprache – die obendrein noch in genervt-gestresstem Tonfall vorgetragen wird – zu verstehen, ist entsprechend widerwillig und fühlt sich drangsaliert. Ich sehe, dass ich eingreifen muss.

Komm mal her, M.“, sage Ich zu ihr, indem ich mich zwischen sie und die PFK stelle und sie vor dem Geschimpfe abschirme. (Entgegen der Hausregel duze ich Frau H., auf Wunsch ihrer Angehörigen und weil besonders bei ihr die förmliche Anrede manchmal überhaupt keine Reaktion auslöst).

Lass uns mal wieder zurück ins Zimmer gehen. Im Moment sollen wir nicht hier draußen sitzen, wegen so einer Krankheit, die gerade ganz viele bei uns haben…-“, sage ich freundlich zu ihr, nehme sie beim Arm und geleite sie langsam zurück in den Wohnbereich.

Die PFK sieht, dass die Ordnung wiederhergestellt ist und verzieht sich. (Später nehme ich sie beiseite und erkläre ihr, dass und warum diese Art der Ansprache bei dementen Menschen nicht funktioniert. Sie sieht’s auch sofort ein, wirkt etwas beschämt und verweist als Erklärung auf den Stress und den Arbeitsdruck auf der Station).

Frau H., zusammen mit mir mittlerweile in ihrem Zimmer sitzend, hat sich gefangen, ist aber noch nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen. „Was wollte die denn von mir?!“ fragt sie. „Glaubst du mir, dass mir das innen (sie zeigt auf ihr Herz) überhaupt nichts ausmacht? Aber den Schrecken, den hab ich doch…“

Sie holt Luft. „Die hat so auf mich eingeschimpft… ich weiß gar nicht, was die überhaupt wollte!“. Jetzt grinst sie mich an: „Ich kann auch mal Deutsch mit der reden! So richtig Deutsch, verstehst du? Dann kann die mal sehen, das sie mich so nicht behandeln kann! Dann sieht sie mal, dass der Zug, der heute abgefahren ist, auch morgen nicht zurückkommt!“

Dieses schöne Bild scheint ihr eine befriedigende Auflösung der erlebten Aufregung zu sein, und auch ich finde Gefallen an dem Gleichnis: Der Zug, der heute abgefahren ist und auch morgen nicht zurückkommen wird – das ist gewissermaßen das Leben mit Demenz, wenn nicht ganz grundsätzlich von jedem.