Geschichten aus dem Pflegeheim: die Hände am Ende der Arme

Die „Tagesgruppe Demenz“ ist heute eine müde Runde. Die früh aufgestandenen bzw. geweckten („fertig gemachten“, im Pflege-Jargon) Teilnehmer, die mitunter bereits eine dreiviertel Stunde vor Beginn von den stets gestressten Pflegekollegen gebracht werden, schlafen schon wieder ein oder dösen vor sich hin, diejenigen, die pünklich gebracht wurden, sind noch müde, und einige sind noch gar nicht erschienen.

Zu allem Überfluß bin ich alleine; kein FSJler, kein Praktikant, kein Pflegeschüler der mir assistieren kann, so drastisch ist die Personalnot im Haus. Im Grunde lässt sich die „Tagesgruppe“ alleine gar nicht bewältigen. Neun demente Personen müssen betreut werden, inklusive Mahlzeiten – da bleibt kaum Zeit für den Gang zum Klo zwischendurch.

Das geht schon seit Tagen so, ein Ende ist auch nicht abzusehen; die PDL – auf den Zustand angesprochen – meint nur lapidar, im Moment sehe es eben ganz schlecht aus und man müsse mit dem Personal arbeiten, das zur Verfügung stünde.

Die Alternative ist, die Leute im Wohnbereich zu belassen statt sie in den vertrauten Gemeinschaftsraum der Gruppe zu bringen. Eine solche Unterbrechung ihrer Routinen verstört demente Menschen allerdings unnötig; außerdem hätte ich dann genau dieselbe Situation: als einziger Zuständiger des Sozialen Dienstes müsste ich mich um genau dieselben Leute kümmern, abzüglich der „Tagesgruppen“-Teilnehmer aus den anderen Wohnbereichen.

Ich füge mich also in mein Schicksal und versuche, die Runde irgendwie zusammenzuhalten, auf die Leute einzugehen, die verschiedenen Stimmungszustände miteinander auszubalancieren und nebenher noch jedem sein Frühstück zu machen und die Nahrungsaufnahme zu beaufsichtigen.

Zu meinem Glück gibt es heute ein Angebot einer externen Mitarbeiterin, die immer Freitags den allseits beliebten Sitztanz mit den Bewohnern macht. Dieses Highlight der Heimkultur spielt sich nach dem stets gleichen Muster ab, was vermutlich der Grund für seine Beliebtheit ist: auf eine Eingangs-Polka folgen die immergleichen Lieder, zu denen die Externe die Leute zu allerlei dem Liedtext entsprechenden Gesten und Bewegungen animiert. Das Ganze endet mit dem Pflegeeinrichtungs-All-Time-Klassiker „Kleine Schaffnerin“, das mich mittlerweile schon bis in den Schlaf verfolgt.

Jedenfalls ergreife ich rotzfrech die gute Gelegenheit und befördere meine komplette Truppe rechtzeitig vor dem allgemeinen Run auf die begrenzten Plätze in den Gymnastikraum, wo das Angebot stattfindet. Da ich die Leute nicht alleine lassen kann (sie würden nach kürzester Zeit in alle Richtungen auseinander streben, durchs Haus wandern und überall nach dem Weg fragen), muß ich die Gruppe noch eine halbe Stunde bei Laune halten und beschäftigen.

Kein Problem im Gymnastikraum mit seinen Bällen und Bändern und sonstigen Utensilien! Wir spielen mit einem riesigen Gymnastikball Fussball, mit einer großzügigen Hand-Regelung für diejenigen, die ihre Beine und Füße nicht bewegen können. Ich bin mal wieder überrascht, wie viel Spaß meinen Leuten die allersimpelsten Kick- und Tretspielchen machen können und kommentiere ihre Bemühungen wie das Endspiel der Champions League.

Dann erscheint die Externe und führt ihr Angebot durch: eine Stunde Zeit für mich, den Gruppenraum aufzuräumen, das Geschirr abzuwaschen, die Tische schon mal für das Mittagessen einzudecken usw.

Nach einer Stunde hab ich die ganze Truppe wieder beisammen, schon ein bißchen wacher, aber auch angestrengt von der Bewegung. Frau H. und Frau B. , unser Neuzugang aus dem Wohnbereich 1, scheinen besonders aktiviert zu sein. Frau H. Ist der Schalk im Nacken schon anzusehen und ich schaue in neugieriger Erwartung, was sie heute auf Lager hat.

Frau B. wiederum wurde als für die „Tagesgruppe“ geeignet befunden, weil sie eine leichte bis mittelschwere Demenz hat und zwar weder räumlich noch zeitlich orientiert ist, dafür aber enorm kommunikativ. Kommunikativ allerdings mit einer Tendenz zum Monolog. Sie greift gerne Stichworte und Erinnerungen anderer auf, um zu schier endlosen Vorträgen über nur ihr bekannte Details irgendwelcher Ereignisse und Leute aus ihrer persönlichen Geschichte auszuholen. Dabei wird ihre Stimme immer nuscheliger, so dass man am Ende schon akustisch kaum noch versteht, was sie erzählt.

Das führt mitunter soweit, dass die anderen Teilnehmer spätestens beim dritten Satz von Frau B. die Augen verdrehen; ihre direkte Sitznachbarin Frau Sch. rückt sogar von ihr ab und dreht ihren Oberkörper soweit weg wie möglich, um so wenig wie möglich zuhören zu müssen.

Frau H. jedenfalls schaut ihr Gegenüber, Frau B., direkt an und hebt dann die linke Hand. Mit dem Handrücken zu ihrem Gegenüber hält sie die Position für etwa eine halbe Minute, bis Frau B. aufmerksam geworden ist und sie fragt: „Was wollen Sie? Was ist da?

Frau H. bleibt fast ernst, wartet noch eine Weile und sagt dann bedeutungsvoll: „Meine Hand.“ Sie streicht sich mit der rechten Hand über den Handrücken, als würde sie zum ersten Mal die Existenz dieses Körperteils zur Kenntnis nehmen. „Die ist unten an meinem Arm dran“, fügt sie hinzu.

Jetzt schaut Frau B. erst recht verdutzt aus der Wäsche. Das wirkt bei Frau B. einigermaßen komisch, weil sie physiognomisch der Schildkröte Morla aus der „Unendlichen Geschichte“ ähnelt. Sie murmelt ein paar verständnislose Worte wie „Also sowas…“ und „So ein Unsinn!“, beobachtet aber Frau H. genau.

Diese scheint entschlossen, ihrer Vorstellung noch eine weitere Nuance hinzuzufügen und bewegt jetzt beide Unterarme mit erhobenen Händen synchron hin und her, hoch und runter, mal auseinander, mal wie beim Gebet mit aneinander gelegten Händen. „Das können die alles machen!“, sagt sie und wirkt dabei so, als hätte sie diesen erstaunlichen Sachverhalt soeben entdeckt.

Jetzt reicht es Frau B. „Ich hab‘ genug. Ich will nach Hause!“, sagt sie. „Wer bringt mich nach Hause?“, fragt sie in meine Richtung. Ich versichere ihr, dass ich das selbstverständlich tun werde, bitte sie aber, noch das Mittagessen abzuwarten. Das wird akzeptiert, aber ich werde ab sofort alle 5 Minuten gefragt, ob sie anschließend nach Hause gebracht werden würde und wenn ja, von wem.

Frau H. ist zufrieden mit ihrer kleinen Performance und lehnt sich milde grinsend in ihrem Stuhl zurück. Ich lege zur Versöhnung aller mit der Gesamtsituation schnell noch Roy Black auf:

„Glaube, Hoffnung, Liebe
sagen immer wieder: Denke daran.

Es kommt auf die Stunde an
ganz egal, was du tust auf der Welt.

Denn bei allem was du machst
ob du weinst oder ob du lachst

sind die Stunden wenn jemand an dich denkt
dein schönstes Geschenk“

Da können auf jeden Fall alle zustimmen und mitsingen, während man von unten schon das Klappern des Essenswagens hört, der das Ende des Vormittags und dessen krönenden Abschluss, das freitägliche Fischmahl, ankündigt.