Geschichten aus dem Pflegeheim: Bunte Schmetterlinge machen die Leute glücklich

Wenn die Jahreszeiten wechseln, machen wir gerne etwas Besonderes in den Malkursen und Kreativgruppen. Irgendwas, was den Umschwung widerspiegelt, den die ganze Welt, den die Natur, den Mensch und Tier empfindet. Im Frühling merkt man schon auf den Straßen, beim Einkaufen und sogar auf der Arbeit, dass die meisten Leute bessere Laune heben und sich über die längere Tageshelligkeit und all die Zeichen der Wiedergeburt der Natur freuen.

Meine ursprüngliche Idee ist, die Leute Blätter (von verschiedenen Bäiúmen und Sträuchern) mit Acrylfarben anmalen zu lassen und diese bemalten Blätter dann als die „Flügel“ eines Schmetterlings aufs Papier zu stempeln, also zu drücken. Nach einigen Selbstversuchen kommen mir allerdings Zweifel an der Tauglichkeit der Blätter-Idee: erstens müssen die Blätter einigermaßen dick sein, etwa wie Efeu. Zweitens und vor allem aber ist die Handhabung von Baumblättern plus Farbe obendrauf u.U. eine große Herausforderung für Hochaltrige, die in der Regel haptisch und motorkoordinatorisch eingeschränkt sind – vor allem, wenn sie auch noch dement sind.

Der Zufall will es, dass ich im TeDI gegenüber der Pflegeeinrichtung, wo ich ein paar Malpaletten kaufen will, auf herzförmige Putzschwämme aufmerksam werde. „DAS ist die Lösung!“ ist mir sofort klar: Handhabung deutlich einfacher, weil dicker als Blätter; Farbaufnahne und -wiedergabe um Größenordnungen besser; im Zweifel (wenn wir sie nicht zu sehr mit Acrylfarben versauten) auswaschbar und wiederverwendbar.

Die Idee erweist sich als richtig: sogar die üblichen „Beisitzer“ – Bewohner, die lediglich wegen der gemütlichen Atmosphäre und der Musikbegleitung unserer Kreativrunden erscheinen – werden diesmal von der Einfachkeit der Sache inspiriert. Eine nach der anderen wird neugierig, kommt aus ihrem bequemen Sessel hervor oder rollt mit dem Rollstuhl zum Tisch, wo die Schmetterlinge entstehen, und schließlich will jede mal einen Schmetterling machen.

Die bunten Schwammdruck-Bilder werden sofort als Ausstellung an die Schranktüren geklebt und die Künstlerinnen (heute waren nur Frauen dabei) sind sichtlich stolz auf ihre Werke. Sie fachsimpelen über Farben und Flügelformen; eine der Damen ruft immer wieder vorbeikommenden Cafeteria-Gästen zu, sie sollten mal herkommen und sich die schönen Bilder anschauen.

Tatsächlich sind die Bilder schön anzugucken. Die abstrakten Farbmuster der „Flügel“ kontrastieren mit der gegenständlichen Gesamtform der „Schmetterlinge“ und sind – als Ergebnis des Auftrags von Farbe auf einen Putzsdhwamm, den man dann als Stempel benutzt – alle komplett individuell und einzigartig. Etliche der Teilnehmerinnen (ich glaube, es waren vor allem die Dementen) lassen erstaunte und bewundernde „Ahs“ und „Ohs“ hören, wenn sie nach ein paar Sekunden Schwamm-aufs-Papier-drücken die Resultate sehen.

Dazu läuft natürlich ununterbrochen deutsches Schlagerliedgut aus den 1940er – 1970er Jahren, was zur Folge hat, dass die meisten mitsingen und auf diese Weise, ohne es zu merken, zum Rhythmus der Farben auch noch die Farbe der Musik in ihre kreative Tätigkeit integrieren.

All das bekommt nach einer Weile happeningmäßige Qualitäten; anstelle der üblichen ein bis anderthalb Stunden dieses Angebots verbringen wir heute geschlagene zweieinhalb Stunden mit Schwämmen, Farben, Musik und Schmetterlingen – begleitet von Frühlingswetter, allgemeiner Hochstimmung und den unvergessenen Stimmen von Rudi Schuricke, Gus Backus, Peter Alexander, Lale Andersen und den anderen Musikalartisten vergangener Epochen.

Beim Betrachten der Schwämme während des Aufräumens kommt mir in den Sinn, dass sie nicht nur für Schmetterlingsflügel, sondern genauso gut für Blumenkelche geeignet sind. Damit steht schon das Programm fürs nächste Mal: lauter bunte Frühlingsblumen, denn der Frühling geht jetzt erst richtig los!

Geschichten aus dem Pflegeheim: „Wir haben das alles schon einmal erlebt.“

Seit kurzem kümmere ich mich wieder verstärkt um die kulturelle Bildung der Bewohner der Pflegeeinrichtung, in der ich arbeite, indem ich ein bis zweimal monatlich ein literarisches Café veranstalte. Das ist ein etwas anspruchsvoller Name für eine Vorleserunde, die ich aber mit der Auswahl interessanter, dem Anlass und dem Klientel entsprechender Literatur, netter Musik und intensiver Gemütlichkeit würze, so dass meine Schützlinge idealerweise davon bereichert werden.

Heute halte ich die Gelegenheit für günstig, um mal Kurt Tucholsky vorzustellen und zwei kürzere Texte von ihm vorzulesen:
Einen in der „Weltbühne“ veröffentlichten humorvollen, aber extrem pessimistischen Text namens „Der Mensch“, sowie das letzte Kapitel eines Buches, das Tucholsky zusammen mit John Heartfield im Jahr 1929 herausgebracht hat. Letzteres hat den spaßhaften – oder soll man sagen: zynischen – Titel „ Deutschland, Deutschland über alles“.

Würde dieses Buch heute erscheinen, wäre es kein Buch, sondern ein Blog, mit einer Fülle von Filmen, Collagen, Karikaturen, Gedichten, Persiflagen, Texten, politischen Betrachtungen, Polemiken und dergleichen. Es war von Machart und der Kombination verschiedener literarischer Gattungen, kombiniert mit dem künstlerischen Input von John Hartfield, seiner Zeit weit voraus. Tucholsky und Heartfield sahen kommen, was wenige Jahre später eintreten würde.

Jedenfalls heißt das letzte Kapitel Heimat und enthält unter anderem solche Textpassagen:

„Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich «national» nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da. Sie reißen den Mund auf und rufen: «Im Namen Deutschlands …!» Sie rufen: «Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.» Es ist nicht wahr. Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es. Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land.“

Oder:

„Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitsliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn «Deutschland» gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden. Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.“

Die Wirkung des Textes auf die Zuhörerschaft – Leute im Alter von Mitte 70 bis 104 Jahren – ist erstaunlich. Alle hören gebannt und fasziniert zu, und als ich zum Schluss frage, was sie von dem Gehörten halten, wie es auf sie gewirkt habe, bekomme ich mehr Antworten und Feedback, als ich von anderen Angeboten dieser Art gewohnt bin.

„Das macht sehr nachdenklich, dieser Text“ kommentiert Frau T., die eine Demenzdiagnose hat, in diesem Moment aber hellwach und tatsächlich nachdenklich wirkt.

„Wir haben das ja erlebt und mitgemacht!“ bekomme ich von etlichen der fünfzehn oder sechzehn Anwesenden zu hören. Es ergibt sich ein Hin und Her aus persönlichen Geschichten, kleinen Anekdoten, und teilweise sehr präzisen Erinnerungen aus der Zeit, als die Anwesenden Schulkinder oder Teenager waren, also in den späten 1930er und in den 1940er Jahren.

„Und jetzt geht es ja schon wieder los…“, bemerkt die 87-jährige Frau K. Einige nicken oder machen bestätigende Bemerkungen.

„Wie finden Sie das denn, mit ihrer Lebenserfahrung, dass jetzt wieder zum Krieg gegen Russland gerüstet wird? Halten Sie Russland für eine Bedrohung?“ frage ich jetzt direkt die Leute. Zu meinem Erstaunen gibt es keine einzige bejahende Antwort. Die Reaktionen variieren zwischen „ Das ist doch Quatsch“, „Wer glaubt denn sowas?“ und „Die haben keinen Krieg erlebt, die wissen nicht, was das ist. Die wollen nur ihre Vorteile und ihre Macht…“

Besonders die in dem letzten Zitat ausgedrückte schlechte Meinung von der Politik bzw den Politikern teilen scheinbar alle. Ich bin jetzt neugierig geworden und stelle eine Anschlussfrage: „Und? Was meinen Sie, kann man da was machen? Kann man das denn aufhalten, wenn das so erkennbar wieder in dieselbe Richtung geht?“

„Die da oben machen, was sie wollen und die Leidtragenden sind wir“ ist der Tenor, in den alle einstimmten. Diese Leute in ihren letzten Lebensjahren, in ihrer Mehrzahl hochaltrige Menschen, wirken auf eine traurige, ernüchternde und schmerzhafte Weise realistischer als sämtliche Kriegsprediger in Politik und Medien.

Da ich merke, dass das Thema viele emotional einigermaßen mitnimmt und die Atmosphäre ein bisschen gedrückt wird, schlage ich vor, dass wir die stimmungsverderbende Politik jetzt erst mal sein lassen und dafür Musik hören. Und zwar Musik, die zu der Zeit passt, als Tucholsky diese Texte verfasst hatte – und als die Anwesenden alle jung waren. Das finden sie natürlich klasse und nach einiger Diskussion einigen wir uns auf ein Potpourri mit den Hits der Comedian Harmonists. Die kennen alle, und so singen dann auch fast alle lauthals mit, als Harry Frommermann, Robert Biberti, Roman Cycowski, Ari Leschnikoff und Erich A. Collin einer fiktiven Veronika vorsingen, dass der Lenz da wäre und der Spargel wachsen würde.

Das rundet dieses Nachmittagsangebot versöhnlich ab; einige der Teilnehmer bedanken sich anschließend für die Lesung und die Gespräche.

Geschichten aus dem Pflegeheim: „Dreh dich noch einmal um, eh wir auseinandergehen….“

Mal wieder ein paar Bilder aus meiner kunstgeragogischen Tätigkeit in der Pflegeeinrichtung – diesmal die beiden jeweiligen Kontrapunkte des Teilnehmerkreises, die stark demente Frau S. und die orientierte und künstlerisch ambitionierteste Teilnehmerin, Frau K.

Frau S. beherrscht je nach Tagesform die Handhabung von so vielen unterschiedlichen Dingen – Papier, Pinsel, Wasser, Farbkästen – nur gerade so und muss immer wieder beobachtet, ermuntert und angeleitet werden. Tut man das nicht, arbeitet sie beinahe mechanisch (offenbar aber mit einigem Vergnügen) vor sich hin, mit einer einzigen Farbe, an einer Stelle des Papiers, bis die Farbe verbraucht, das Wasser getrocknet und das Papier durchgescheuert ist.

Schon der Vorgang des Wiedereintauchens des Pinsels ins Wasser und Neuaufnahme der Farbe überfordert sie in einem Maße, das sich Nicht-Demente kaum vorstellen können. Irgendwann hört sie dann einfach auf und sitzt nur noch da.

Geht man Frau S. aber zur Hand und erinnert sie an die einzelnen Schritte des Malvorgangs, macht sie gerne mit und scheint große Freude und Befriedigung zu ziehen aus dem Spiel der Farben, deren Verläufen auf dem nassen Papier und der Tatsache, dass SIE diese Vorgänge auslöst. Ihre Aquarelle sind vielfältig interpretierńbar, weil sie völlig gegenstandslos und ungeplant sind. Die Dinge und Formen, die man in ihnen sehen kann, geben die Anwesenden und ich selbst in die Runde, wenn wir – meistens am Schluß des Angebotes – gemeinsam die jeweiligen Bilder anschauen und besprechen. Frau S. sitzt dabei, hört sich das alles staunend an, nickt auch manchmal und sagt „Ja“, aber es scheint, als wüsste sie schon gar nicht mehr, dass sie es war, die diese Bilder gemalt hat. 

Anders dagegen Frau K., die Dienstälteste und anerkannte Chefkünstlerin der Gruppe. Mit den Jahren haben ihre Ansprüche an sich selbst und an ihre Bilder sich vom anfänglichen „Ich kann nicht malen“ entwickelt zu einer gezielten Suche nach Motiven und einer immer sichereren farbsensibleren Strichführung.

Frau K. zeichnet ausschließlich gegenständlich und benötigt immer ein Motiv, eine Vorlage, irgendeinen Anhaltspunkt für ihre in der Regel mit Ölpastellkreiden gemalten Werke. Ihre Lieblingsmotive sind Landschaften und Szenen aus ihrer Westpommerschen Heimat, vorzugsweise Ostsee und Stettin. Sie arbeitet genau, geduldig und überlegt zwischendurch beispielsweise immer wieder, welche Farben sie wie einsetzt und ob die von ihr gewünschte Wirkung vielleicht eher durch einen Materialmix erzielt werden könnte als mit der strikten Begrenzung auf ein Werkzeug (Ölpastellkreiden in ihrem Fall).


Wenn sich ihre jeweiligen Projekte dem Ende nähern, erfaßt sie oft eine gewisse Ungeduld, fertig zu werden; zu einem guten Teil auch, um das Bild ihrer Familie zu zeigen, in der sie mittlerweile dank ihrer Bilder einen beträchtlichen Zugewinn an Respekt und Anerkennung erfährt. „Diesmal bin ich wirklich selber ganz begeistert von dem Bild!“, verkündet sie mir (was fast wörtlich ihre Standardbemerkung nach jedem vollendeten Werk ist. Schnell ist das Bild gerahmt, und als ich sie frage, ob wir es im Gruppenraum belassen sollen oder ob sie es mit auf ihr Zimmer nehmen will, ist die Antwort: „Das nehm ich mit, meine Tochter kommt morgen, der will ich das zeigen!“

So kommen rein kunstgeragogisch alle auf ihre Kosten, die dementiell veränderten wie die mental fitten Bewohner, dazu kommen mittlerweile an jedem Montag (dem Tag der Mal- und Kreativrunde) vier bis sechs weitere Bewohner, die selber sagen, dass sie zum Angebot kommen wegen der kreativen Atmosphäre, der populären Musik – und um den anderen beim Malen und Zeichnen zuzuschauen. Inzwischen habe ich der „Ich kann nicht malen und komme nur wegen der Atmosphäre“-Fraktion aber ein listiges Schnippchen geschlagen, indem ich sie einspanne als Zuarbeiter für unsere Collagen-Projekte. Zeitschriften durchblättern, geeignete Bilder finden, vielleicht auch mal etwas ausschneiden (sofern das haptisch geht) – all das ist extrem niedrigschwellig und bringt keinen in die Verlegenheit, etwas gegen seine Absicht bzw. etwas zu machen, von dem er oder sie überzeugt ist, es nicht zu können.

Unterm Strich sind die Montagnachmittage äußerst gemütliche, kommunikative und kreative Treffen, die schon aufgrund ihrer Eigendynamik und der Beliebtheit bei meinen betagten Gästen regelmäßig massiv überzogen werden – obwohl das Angebot das einzige der Einrichtung ist, das statt um 15:30 Uhr schon um 15:00 Uhr beginnt.
Sehr musikalisch geht es außerdem zu, da ich aus eigener Erfahrung und Vorliebe weiß, wie als angenehm empfundene Musik den Zeichenvorgang beflügelt und inspiriert. In der Regel hört man mindestens die Hälfte der Teilnehmer laut mitsingen zu all den alten Schlagern aus den Jahrzehnten 1940-70, die wir jedesmal hören. Und so heißt es dann am Ende regelmäßig: „Dreh dich noch einmal um, eh wir auseinandergehen….“ (Rudi Schuricke, 1952) und alle freuen sich aufs nächste Mal, mich eingeschlossen.

Geschichten aus dem Pflegeheim: „My baby says she’s trav’ling on the one after 909, I said move over honey I’m travelling on that line“


Die montägliche Mal- und Kreativrunde scheint immer populärer zu werden. Jedenfalls kommen mittlerweile so viele Bewohner, dass ich gar nicht für alle einen richtigen Arbeitsplatz habe. Das macht aber nichts, weil etwa ein Drittel der Leute nur kommen, um dabei zu sein – nicht etwa, um zu malen, zu zeichnen oder zu basteln. Sagen sie jedenfalls vorher – oft lassen sie sich dann doch von der Atmosphäre anstecken und beginnen selber, mit Farben, Stiften, Pinseln und Papier zu experimentieren.

Eine dieser Teilnehmerinnen, die von der Stimmung der Gruppe angezogen werden und einfach dabei sein wollen, ist die umtriebige Frau T. Sie läuft fast den ganzen Tag in der Einrichtung hin und her, wandert von einem Stockwerk ins nächste, von einem Wohnbereich zum anderem, scheinbar immer auf der Suche nach Anregung und Abwechslung. Sie ist in der Anfangsphase der Demenz, räumlich einigermaßen orientiert, zeitlich aber gewaltig desorientiert – und zwar sowohl was die äußere Normalzeit betrifft wie die innere Zeitwahrnehmung, die mit Erinnerungen, Zuordnung der einzelnen Lebensabschnitte usw. zu tun hat.

„Na, Frau T., wollen Sie auch mal ein bißchen was malen?“ frage ich. Sie muß lachen. „Ich? Nee, das ist nun wirklich überhaupt nichts für mich! Das konnte ich noch nie…“ Ich dränge sie nicht weiter und biete ihr mit den Worten „Dann setzen Sie sich doch einfach zu uns und gucken ein bißchen, was die anderen so machen…“ einen freien Platz an. Das gefällt ihr, und schon sitzt sie neben Frau S., einer stark dementen, aber stets freundlichen Teilnehmerin.

Frau S. hat seit Jahr und Tag Gefallen am Aquarellieren gefunden und erfreut sich am Spiel der Farben, wenn diese auf dem Papier im Wasser verlaufen, sich verformen und immer neue Muster und Formen bilden. Ich muss ihr jedes Mal aufs Neue erklären, um was es eigentlich geht, bzw. was sie tun muss, damit die Farben so schön auf dem Papier leuchten und sich miteinander vermischen, verwirbeln, überlagern und verformen – aber dann legt sie los. Das heißt, sie malt, solange ihr von der Demenz durchlöcherte Geist sich an das eben Gesagte erinnert und die zugehörigen haptischen Vorgänge nicht vergißt. Überlässt man sie sich selbst, dauert dieser Zustand etwa 5 – 10 Minuten, danach erlischt ihr ursprünglicher Impetus, sie wird immer langsamer und kommt schließlich zum Stillstand.

Deswegen gehe ich normalerweise immer mal wieder zu ihr und sorge für neuen Schwung, ich gebe sozusagen der Schaukel ihrer inneren Aktivität einen neuen Stoß. Heute aber sitzt Frau T. neben ihr und das erweist sich als geradezu segensreich. Frau T. nämlich schaut fasziniert zu, wie die Farben auf dem Papierbogen von Frau S. in buntem Spiel im Wasser verlaufen und sich zu allerlei interessanten Effekten formen. Ohne weiteres Nachdenken greift sie sich einen Pinsel und fängt an, Farben auf das Blatt aufzutragen.

Frau S. ist grundsätzlich jenseits von Fragen wie „Dein und Mein“ und hat überhaupt nichts dagegen, dass ihr Bild von Frau T. erweitert wird. Im Gegenteil, sie scheint die Kooperation zu genießen und schaut ihrerseits gebannt zu, was da auf dem Papier entsteht. Es entstehen zwei oder drei Aquarelle, deren schönstes – „Blumenwiese“ haben wir es genannt – ich hier abbilde. Das blau-grüne Aquarell ist das, was Frau S. gemalt hat, als Frau T. sich neben sie setzte und das die Faszination auslöste, die Frau T. letztlich zum eigenen Eingreifen in den kreativen Prozess inspirierte. Es trägt den Titel „Nordlichter in Norwegen“.

Solche Momente sind die zufriedenstellendsten bei meiner Arbeit: wenn die künstlerische und kreative Tätigkeit von alleine die Leute ansteckt und ins Gestalten bringt. Fast jeder Teilnehmer meiner Angebote kommt mir am Anfang mit „Ich kann nicht malen“, „Das ist nichts für mich“ und ähnlichem. Wer aber einmal merkt, dass es nicht ums „Können“ und erst recht nicht ums Ergebnis geht, wer all die verheerenden und selbstherabsetzenden Urteile vergessen kann, die ihm im Kunstunterricht und durch Vergleich mit „richtigen Künstlern“ einkonditioniert wurden – der kann sich der Freude an der Kreativität aussetzen und widmen, ohne wissen zu müssen, was das ist und wie das geht (Anmerkung: ich will hier keinem Beuys‘schem „Jeder ist ein Künstler“-Dilettantentum das Wort reden; selbstverständlich ist bildende Kunst zu einem guten Teil auch Handwerk, Übung, Technik und Erfahrung – aber in der kunstgeragogischen Arbeit vor allem mit dementen Menschen sind das eher hemmende als förderliche Konzepte).

Auch Frau K., die Patriarchin der Malgruppe, hatte vor sieben Jahren so angefangen . „Ich kann nicht malen!“ war ihr Einstiegskommentar, als wir mit der Malrunde begannen. Jetzt wird sie einrichtungsweit und darüber hinaus als Künstlerin eigener Kategorie respektiert. Ihre künstlerische Aktivität ist ihr zu einer wichtigen, wenn nicht wesentlichen, Stütze ihres ansonsten durch alters- und pflegeheimbedingte Beschwerlichkeiten unerquicklichen Lebens geworden. Sie ist meist schon eine Stunde vor Beginn des Angebots da und bleibt immer bis zum Schluß.

Seit drei Wochen arbeitet sie an einem neuen Bild, eine Ansicht von Zingst am Darß, aus ihrer nordostdeutschen Heimat. Als ich sie nach der (sehr langen, fast zwei Stunden dauernden) Runde in ihrem Rollstuhl auf den Wohnbereich bringe, erzählt sie mir, wie viel ihr die Bilder und die Arbeit daran bedeuten: „Jedesmal, wenn ich das Bild anschaue, je weiter ich vorankomme, umso besser gefällt es mir! Ich bin jetzt richtig erschöpft, das war richtig anstrengend, aber das macht mir solch eine Freude, das können Sie sich gar nicht vorstellen….“

An dieser Stelle muss ich sie unterbrechen: „Das kann ich mir sehr gut vorstellen, Frau K.“, antworte ich ihr. „Was meinen Sie warum ich das hier mache? Hauptsächlich, weil’s mir genauso viel Freude macht und weil ich dieses Gefühl anderen vermitteln möchte…“

Das leuchtet ihr ein, und wir treten gleich wieder in Verhandlungen über den Anteil ein, den ich bei einem Verkauf ihrer Bilder beanspruchen kann; ein Dauerspaß, den wir uns immer wieder machen.

Wenn ich alle in ihre Wohnbereich gebracht habe und unten die Sachen wegräume, kann ich die Schlager-, Volksmusik- und Wanderlieder-Playlist ausschalten, die sonst läuft (und die, wie ich vermute, einer der Gründe für die Popularität des Angebotes ist). Eben noch haben alle aus vollen Kehlen zu Heino „Ja ja so blau, blau, blau ist der Enzian“ geschmettert, jetzt kann ich endlich „meine Musik“ hören. Die meisten warten in den Wohnbereichen aufs Abendessen und der Angebotsraum ist fast leer. Eine Beatles-Playlist läuft, und gerade röhren Lennon und McCartney „One After 909“.

Außer mir sind noch Frau L., eine relative neue Bewohnerin unseres Wohnbereiches da, und die 93jährige Frau B. vom „ServiceWohnen“, dem Bereich einzelner Apartments oberhalb der Pflegeeinrichtung. Frau L., Jahrgang 1941, lässt ihren Rollator stehen und fängt an zu twisten und zu rocken und erklärt begeistert, dass das die Musik ihrer Jugend in den 1950er Jahren sei. Angesteckt vom Groove und von den Moves stellt jetzt auch Frau B. den Rollator auf Seite, greift sich zwei Stühle und stellt diese mit den Rückenlehnen links und rechts von sich hin. Dann beginnt auch sie, indem sie sich mit den Händen an den Stuhllehnen festhält, loszurocken. „So mach ich das immer oben, wenn ich gute Musik im Radio höre!“ teilt sie uns strahlend mit. Ich kann natürlich auch nicht an mich halten und wir tanzen zu dritt eine Runde zu dem Lennon/McCartney Frühwerk aus den späten 1950ern.

Etwas später, als ich mit Aufräumen fast fertig bin, taucht Frau L. nochmal auf und spricht mich an. „Also, ich wollte Ihnen noch sagen, wie gern ich zu ihren Angeboten komme! Sie machen das so gut, man kann mit Ihnen über alles reden – also für mich sind Sie wie Rosenblätter im Schnee! Ich weiß nicht, ob sie das verstehen, aber das empfinde ich so.“

Ich bedanke mich für das Lob, das schöne Gedankenbild von den Rosenblättern im Schnee und sage Frau L., dass ich mich sehr freue, wenn ihr meine Angebote so gut gefallen. Wir verabschieden uns und ich fahre nach Hause mit der Idee, demnächst mal sowas wie ein „Rock‘n‘Roll-Café“ anzubieten. Die Generation, die in den 1950ern musikalisch sozialisiert wurde, ist nämlich nicht automatisch nur für Schlager und Volksmusik zu haben, wie ich soeben feststellen konnte, sondern hat damals durchaus auch schon mal zu Bill Haley, Jerry Lee Lewis, Little Richard und anderen abgerockt.

Das, kombiniert mit z.B. Live Action Painting, und schon habe ich wieder ein kunstgeragogisches Angebot, für das ich vermutlich sogar Sponsoren finden könnte.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Endless Summer

Erster Arbeitstag nach dem Urlaub. Da es ein Montag ist, steht die „Mal- und Kreativrunde“ auf dem Plan. Meine Leute warten schon erfreut auf mich. Eine Teilnehmerin hat sogar ein Plakat angefertigt, auf dem darauf hingewiesen wird, dass die Malrunde ab September wieder stattfindet.

Um den Übergang (für mich) nicht all zu hart zu gestalten, bleibe ich thematisch im Strandurlaubsmodus. Auf Papptellern sollen die Bewohner eine Collage der drei wesentlichen Elemente eines solchen Urlaubs abbilden: Strand, Meer und Himmel. Eine Sonne oder ein paar Möwen am Himmel dürfen gerne auch noch dabei sein, sind aber optional.

Das ist einerseits einigermaßen herausfordernd in Bezug auf Haptik und Umgang mit Klebestiften. Außerdem ist die Papierreisstechnik nicht ohne für Leute, deren Hände und Finger bei weitem nicht mehr die Elastizität früherer Jahre haben. Andererseits scheint es mir auch einfach genug für die dementen Teilnehmer zu sein, was sich schnell als Irrtum herausstellt. Von den beiden dementen Teilnehmerinnen sitzt eine völlig ratlos vor all den Dingen, die ich vor ihr aufbaue, und auch meine behutsamen, sehr simpel gehaltenen Erklärungen kann sie nicht nachvollziehen. Es endet damit, dass ich sie die Farben aussuchen lasse, und dann aus verschiedenen Zeitschriften und farbigen Papier die Farbschnipsel für sie ausreiße. Auf diese Weise habe ich immerhin ihr Farbgefühl und ihre Erinnerung an Urlaube am Meer (hoffentlich) ein bisschen aktiviert.

Die andere demente Dame, die sonst beim Zeichnen und Malen recht aktiv dabei ist, legt auch sofort los. Sie greift sich die verschiedenen Hefte und Zeitungen, die ich bereitgelegt habe, vergisst aber beim Blättern in den Zeitschriften die ganze Aufgabe und bleibt in den schönen bunten Bildern und Geschichten der Magazine hängen. Ich muss schmunzeln, stelle fest, dass ihr das mehr Spaß macht als die Aufgabe und lass sie einfach dabei.

Die anderen Teilnehmer legen sich mit Vehemenz ins Zeug und haben nach einer bis anderthalb Stunden jeder einen Teller mit einem schönen Strandurlaubsbild hergestellt. Im Handumdrehen ist eine kleine Mini-Ausstellung an einer Schrankwand organisiert, alle sind zufrieden mit ihren Werken und froh, dass ihr „Kunstlehrer“ wieder da ist.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Geburt und Tod sind ungemein trügerisch

Heute saß ich eine ganze Weile bei einer sterbenden Bewohnerin der Pflegeeinrichtung, in der ich arbeite. Alle vier Stunden bekommt sie eine Morphiuminjektion gegen die Schmerzen. Sie ist bei klarem Verstand, ansprechbar und bekommt alles mit.

In der Sterbephase verschwinden alle Beschäftigungen mit „weltlichen“ Angelegenheiten. Der Geist beginnt, sich vom Körper zu lösen und die Person weiß in der Regel, dass sie nicht mehr lange im Körper sein wird.

Alles Äußere wird unwichtig, nur die eine Frage zählt: gehe ich mit Angst und in Panik aus dieser Welt, überwältigt von dem unbekannten Geschehen, oder nehme ich das, was mit mir passiert, als natürlichen Ablauf der Dinge an.