Geschichten aus dem Pflegeheim: Farbwunder und Freude am Unmittelbaren

Das sind Aquarelle zweier dementer Frauen aus meiner Mal- und Kreativrunde im Pflegeheim. Beide sind von sich aus kaum in der Lage, den Zusammenhang von Papier, Wasser, Farbe und Pinsel zu erfassen, geschweige denn, sich konzeptionell ein Bildthema auszudenken und das anschließend umzusetzen.

Wenn man ihnen aber langsam und ihre Einschränkungen berücksichtigend „die Hand reicht“ und auch kleine Details wie Pinsel eintunken, Papier befeuchten usw. anleitet, sind die Farben selbst und die Bewegungen/die Verläufe, in denen sie sich auf dem nassen Papier manifestieren, ein Quell unschuldigen Erstaunens und purer Freude für die Künstlerinnen, die keinen Begriff von Kunst und von sich als Künstlerinnen haben.

Was die Voraussetzung ist für diejenige Kunst, die, weil sie dem spontanen Spiel des Moments entspringt, der Natur (und damit der Wirklichkeit) am nächsten ist.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Verloren in einem unendlichen Universum unerklärlicher Manifestationen


Die stille, zurückhaltende, fast schüchtern wirkende Frau S. kommt seit einigen Monaten in meine Mal- und Kreativrunde. Wobei „kommt“ leicht übertrieben ist, denn von alleine kommt sie nirgendwo hin. Einmal weil sie im Rollstuhl sitzt, zum anderen (und im wesentlichen) weil sie aufgrund ihrer Demenz keinerlei Antrieb hat und zeitlich wie räumlich stark desorientiert ist.

Sie antwortet immer mit einem freundlichen „Ok!“ oder „Ja, gerne!“, wenn ich sie frage, ob sie wieder mit zum Malen kommen möchte; außerdem ist ihr in der Gruppe anzumerken, dass sie Freude im Umgang mit den Farben findet, die sie auf das feuchte Aquarellpapier tupft und pinselt.

Bei den letzten drei, vier Treffen allerdings ist mir aufgefallen, dass Frau S. kognitiv immer weiter eingeschränkt und verlangsamt wirkt. Ohne direkte Anleitung bei jedem Handgriff, bei jedem Arbeitsschritt, bleibt sie einfach auf ihrem Platz sitzen und blickt auf Material und Utensilien als handele es sich dabei um außerirdische Artefakte, deren Wesen und Bestimmung sich menschlichem Verständnis komplett entziehen. Wenn sie dann, nachdem ich bis zum Pinsel-in-die-Farbe-tunken ihr alles „mundgerecht“ eingerichtet habe, ins Malen kommt, erinnert sie an einen batteriebetriebenen Gegenstand, der am Anfang noch mit etwas Restladung ruckelt und zuckelt, dann immer langsamer wird, bis er zum Schluß ganz zum Stillstand kommt.

Auch heute wieder beginnt sie einigermaßen schwungvoll, malt Farbe auf das Blatt und bleibt dann mit dem Pinsel in der Hand sitzen, als hätte ihr jemand den Stecker gezogen. Ich lasse sie eine weitere Farbe aussuchen, tauche ihr den Pinsel in das Farbtöpfchen ein und überlasse sie ihrem Aquarellbild. Nach einer Weile schaue ich wieder nach ihr; sie hat tatsächlich ein bißchen weitergemalt, sitzt aber erneut wie in Trance vor ihrem Bild. „Na, Frau S., wie sieht’s aus? Wollen Sie noch einen neuen Bogen Papier?“ frage ich sie. Zu meinem Erstaunen antwortet sie: „Nein, ich möchte an diesem Bild weiter malen!“

Nach etwa zehn Minuten als ich erneut nach ihr schaue, wirkt sie besorgt und etwas beunruhigt. Sie sagt zu mir „Ich weiß ja nicht, wie ich von hier wieder dorthin komme, wo ich hin muss. Also dahin, wo ich wohne.“ Dabei schaute sie mich mit einem Ausdruck äußerster Verlorenheit und Desorientiertheit an. Ich spüre ihre essenzielle Unsicherheit und Ratlosigkeit in diesem für Sie unerklärlichen Universum, in dem sie sich – wie von der Hand eines ungnädigen Gottes abgesetzt – wiederfindet wie in einem Irrgarten, dessen Sinn und Zweck ihr rätselhaft sind und bleiben.

„Keine Sorge, Frau S.“, antworte ich ihr. „Ich bringe Sie dahin, wo sie jetzt wohnen. Sie wohnen ja jetzt bei uns hier, im Stift, nicht mehr in ihrer früheren Wohnung. Deswegen kommt Ihnen das alles manchmal so komisch vor…“. Dass ich ihre Verwirrung und Verlorenheit bemerke, anerkenne und darauf eingehe, erleichtert meine Gesprächspartnerin schon mal ein wenig. Sie erzählt mir ihre Sorge, dass „die Leute, die bei mir wohnen und die mich immer besuchen“ nicht wissen, wo sie ist und sie deswegen nicht finden können. Sie fragt sich bzw. mich, welche Verkehrsmittel sie benutzen müsse, um zu „diesen Leuten“ zu kommen. Damit meint sie ihre Söhne und ihre Schwiegertöchter, die nicht weit entfernt wohnen und von denen sie einigermaßen regelmäßig besucht wird.

Ich bringe Frau S. erstmal wieder in ihren Wohnbereich und erkläre ihr nochmal in kurzen, einfachen Worten und Sätzen, dass dies jetzt ihr Zuhause ist. Ich sage ihr, dass ich sehr gut weiß, dass das NICHT ihr Zuhause von früher ist, dass es aber für sie einfacher ist, hier zu leben, weil sie sich selber nicht mehr versorgen kann.  Wir alle würden uns darum kümmern, dass sie sich hier wohl fühlt und alles bekommt, was sie braucht, versichere ich ihr.

Weil ich merke, dass sie im Moment alles überfordert und zu viele Sätze für sie eine Informationsüberlastung bedeuten, die sie nicht verarbeiten kann, schiebe ich sie in ihrem Rollstuhl den Gang zu ihrem Zimmer entlang. Ich zeige ihr die Tür, an der ihr Name steht, fahre mit ihr ins Zimmer hinein und wieder hinaus und bringe sie zurück in den Gemeinschaftsräume des Wohnbereichs, wo schon das Abendessen vorbereitet wird.

Das entspannt sie fürs erste, doch nach einer Weile winkt sie mich mit sehr besorgtem Gesichtsausdruck wieder zu sich: „Wie kann ich denn wissen, wie ich da hin gelange, wo die wohnen?  Ich brauche doch irgendeine Sicherheit, dass die mich finden…“, teilt sie mir ihre innere Not und Furcht mit, dass die Reste der familiären emotionalen Verbindungen, die ihrem dementiell veränderten Gehirn noch zugänglich sind, auch noch verloren gehen. 

Hier helfen jetzt nur noch praktische Maßnahmen, die einem dementen Menschen zugänglich und verständlich sind. Ich erkläre Frau S., dass ich mich jetzt persönlich darum kümmern würde, dass sie und ihre Verwandten immer zueinander finden. Die Sicherheit, die sie – ohne dass sie es so formulieren oder auch nur denken könnte – zurecht bedroht sieht durch den Fortschritt der Demenz, muss dieser in einem unüberschaubaren, unerklärlichen Universum verlorenen Frau vermittelt werden durch ganz simple und handfeste Dinge oder Zeichen. Ich gehe ins Büro, rufe mir am PC ihre Datei auf und notiere Namen, Adressen und Telefonnummern ihrer beiden Söhne auf zwei Zettel. Diese nehme ich wieder mit nach oben in den Wohnbereich und lege sie Frau S. links und rechts neben ihren Abendbrotteller.

Ich lese ihr die Namen ihrer Söhne vor, sie nickt und seufzt erleichtert auf. „Ach ja, genau, das sind sie!“ Irgendetwas scheint auf seinen Platz zu fallen in ihrem inneren Durcheinander und die ganze Frau wirkt etwas gelöster und ruhiger als zuvor. Vielleicht hat sie jetzt das Gefühl, dass die Sicherheit, die die Verbindung zu ihrer Familie für sie darstellt – oder dargestellt hat – noch nicht ganz dahin ist und dass es auch in diesen neuen, veränderten, unerklärlichen Umständen, in denen sie sich hier wiederfindet, eine Verbindung zum Kern ihrer Erinnerungen existiert.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Wie schade, dass ich nichts sehen kann!

Aus der Mal- und Kreativrunde, die ich Montags in der Pflegeeinrichtung anbiete. Neue Teilnehmer kommen oft, so sagen sie, „wegen der guten Atmosphäre hier“, sitzen zunächst einfach dabei und schauen den anderen zu. Früher oder später greift sich noch jeder einen Stift, einen Pinsel oder was immer wir gerade machen.

Andere haben gehört, dass es hier „ein Kunstangebot“ gäbe und wollen aus Interesse daran teilnehmen. So Frau B., die zur vierwöchigen Kurzzeitpflege bei uns ist. Frau B. ist 103 Jahre alt und ist bis auf eine vor drei oder vier Jahren eingetretene Verschlechterung ihres Sehvermögens mobil und orientiert. Sie ist die fitteste so alte Person, die ich bisher kennengelernt habe,

Sie erzählt, dass sie irgendwann, „so mit achtzig“, angefangen hat zu malen, genauer zu aquarellieren, jetzt aber leider kaum noch etwas sehen könne und deswegen ihr Hobby, das sich zur Leidenschaft ausgewachsen hat, nicht mehr richtig ausüben könne. Als sie gehört hat, dass es hier eine Malgruppe gibt, wollte sie aber unbedingt dabei sein.

Erfreut nimmt sie Platz, orientiert sich – mehr mit den Händen als mit den Augen – an Papier, Material, Werkzeugen usw. und beginnt zu malen. Die Farben muss ich ihr in den Pinsel rühren, da sie weder die kleinen Aquarell-Kästchen sieht noch die Farben erkennen kann.

Dennoch legt sie erkennbar freudig gestimmt los. Man merkt, dass diese Frau nicht das erste Mal aquarelliert: Pinselführung, Selbstsicherheit des Strichs und Farbauftrags, Routine der Verwendung des Wassers – all das zeigt mir, dass ich hier außer der Handreichung mit den Pinseln nicht viel tun muss.

Frau B. weiß auch, was sie sich thematisch vornehmen will („Ich will einen Baum malen“). Sie malt zufrieden drauf los und ruft mich ab und zu herbei, um ihr den Pinsel neu oder in eine weitere Farbe einzutauchen. Inzwischen hat sich eine andere Bewohnerin neben sie gesetzt und verfolgt fasziniert, was Frau B. da treibt. Am Ende der Runde ist ihr Bild fertig; dass sie dabei über das Aquarellpapier hinaus auch gleich die Unterlage mit einbezogen hat, ist ihrer kaum vorhandene Sehkraft geschuldet.

„Ach, ein Jammer dass ich nicht mehr sehen kann! Aber ich hab hundert Jahre mit guten Augen gelebt, da will ich jetzt nicht über die drei Jahre mit schlechterń Augen klagen…“, erklärt sie. Und tatsächlich ist das, was sie zu Papier bringt, erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie kaum etwas sieht.

Geschichten aus dem Pflegeheim: droben stehet die Kapelle

Zu der wöchentlichen Mal- und Kreativrunde, die ich auf meiner Arbeitsstelle im Pflegeheim anbiete, kommen in der Regel zwischen sechs und acht Bewohner der Einrichtung. In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass regelmäßig mehr kommen.

Darunter Leute, von denen bisher die Standardsprüche „Ich kann nicht malen, konnte ich noch nie…“ und „Nee, das ist nichts für mich…“ kamen. Lauter Geschädigte des schulischen Kunstunterrichts also, in dem jedenfalls diese Generation danach benotet wurde, wie gut oder schlecht sie ein vorgegebenes Motiv abmalen konnte und so Freude am Gestalten und Spaß an der eigenen Kreativität gründlich ausgetrieben kriegte.

Meine Malrunden sind allerdings so weit entfernt von Kunstunterricht an der Schule wie die NATO vom Sieg gegen Russland. Natürlich wird mit den – dank großzügiger Sponsoren – reichlich angeschafften künstlerischen Materialien und Werkzeugen auch munter kreativ drauflos gemalt und gezeichnet, gelegentlich auch gebastelt und modelliert. Aber die Essenz unserer Zusammenkünfte ist nicht das Resultat, das der Einzelne zu Papier bringt, sondern die Herstellung einer freundlichen, gemütlichen, niedrigschwelligen Atmosphäre. 

Wir trinken Kaffee, unterhalten uns über dies und das (meistens über Probleme des Heimalltags), hören Musik (was mich im Laufe der Jahre zu einem Quizshow-tauglichen Experten für deutsches Schlager- und Volksliedgut gemacht hat) und widmen uns dabei Farben, Formen, Stiften, Wasser und was ich sonst noch auftreibe, um der Buntheit (oder auch der Düsternis) des Lebens bildliche Form zu verleihen.

Daraus entsteht (man verzeihe mir den esoterischen Ausdruck) ein Energiefeld, in dem kreative und künstlerische Aktivität fast von alleine entsteht. Einige kommen jede Woche, nur um dabei zu sitzen und ihren eigenen Gedanken oder Tätigkeiten nachzugehen, wie zum Beispiel ein Buch lesen oder einfach an den Gesprächen teilzunehmen. Die Runde lockt auch Bewohner an, die wegen der spezifischen Ausprägung ihrer dementiellen Veränderung (Rastlosigkeit, Unfähigkeit zur Konzentration, haptische Einschränkungen) zwar nicht mitmachen wollen und können, aber „wegen der guten Stimmung“ dabei sein wollen. Die demente Frau N., deren wesentlicher Gedächtnisinhalt darin besteht, dass sie heute noch von dem beiden Rolling Stones Konzerten schwärmt, die sie im Müngersdorfer Stadion besucht hat, erscheint fast immer eine Weile nach Beginn der Runde, setzt sich auf einen Stuhl in etwas fünf bis zehn Meter Entfernung und sieht uns zu.

Heute war wieder eine neue Teilnehmerin dabei: Frau W., Mitte Achtzig, orientiert und offensichtlich durch die Lobeshymnen einer anderen Teilnehmerin dazu bewogen, mal reinzuschauen. Ich erkläre ihr kurz die Materialien und die Handhabung und sie beginnt umstandslos mit einem Aquarell, so als hätte sie nur darauf gewartet, endlich in dieser Richtung kreativ zu werden.

Dabei erzählt sie mir von einem Lied, das sie seit ihrer Kindheit verfolgt (im positiven Sinne), bzw. ihr nie wieder aus dem Kopf gegangen ist, seit sie es zum ersten Mal gehört hat. Sie singt ein paar Zeilen: 

„DAS möchte ich malen!“ sagt sie. Dank Internet und Apple Music kann ich schnell feststellen, dass es sich hier um ein Gedicht von Ludwig Uhland handelt und kann es zur ungläubigen Freude von Frau W. auch gleich aufrufen und abspielen. Wir hören eine Version vom Montanara-Chor und eine von den Fischer-Chören, und nicht nur Frau W. ist restlos glücklich über die Wiederbegegnung mit diesen Versen und dieser Melodie.

Ihr kommen die Tränen, sie schwelgt in Erinnerungen – „Sie glauben gar nicht, in wievielen Bergen und Tälern ich gewandert bin…!“ – und malt währenddessen beschwingt weiter. Ihre Sitznachbarin kann mit soviel Sentimentalität wenig anfangen und betrachtet sich das Bild kritisch. „Und warum ist da jetzt oben auf dem Berg das Haus? Wieso ist das so rund? Das sieht aus wie ne Kartoffel…“ Frau W. in ihrer exaltierten Gemütsverfassung ist unbeeindruckt und erklärt freundlich, dass das eben das Lied sei und in dem Lied stünde die Kapelle nun mal oben auf dem Berg. Obwohl bereits das Kreuz auf dem Haus auf eine Kirche oder Kapelle hinweist, zeichnet sie jetzt noch Kirchenfenster rein, so das auch Restzweifel an der höheren Weihe des Gebäudes oben auf dem Berg ausgeräumt sind.

Frau W. ist die zweite Teilnehmerin heute, die die kreative Aktivität nutzt, um in die tiefen Wasser der Erinnerungen hinabzutauchen. Auch Frau K., dienstälteste Teilnehmerin der Runde und seit 2017 dabei, kommt mit einer ziemlich konkreten Idee. Sie will den Gutshof zeichnen, den sie als junge Frau mit ihrer Familie, nach Krieg und Vertreibung aus Hinterpommern, als „Neubauern“ bewohnten. Die Gutsbesitzer waren von der sowjetischen Militäradministration oder der DDR-Regierung enteignet worden und nach dem Westen abgehauen. Besonders angetan hat es ihr in ihrer Erinnerung der Eingangsbereich und die Veranda des Gutshauses, wo Tanzveranstaltungen und Feste stattfanden.

Frau K. zeichnet am liebsten mit Ölpastellkreiden und ähnlichen, das Aquarellieren liegt ihr nicht, sie will den klaren, akzentuierten Strich. Ihre Bildideen entnimmt sie ihrer Erinnerung und plant die Umsetzung mit Akribie. Diesmal hat sie sich vorgenommen, alles auf schwarzem Papier zu machen und beschäftigt sich die gesamte anderthalbstündige Zeit unserer Gruppe mit einer Bleistift-Vorskizze und einer weiteren mit weißem Buntstift auf schwarzem Karton. Ich muss innerlich schmunzeln, denn ich weiß, das Frau K. sich hier wieder eine Aufgabe vorgenommen hat, die sie vermutlich bis zum Frühjahr in Anspruch nehmen wird.

Gegen Ende der Runde, als ich schon mit dem Aufräumen beginne, sagt mir Frau W. „Hätte ich gewußt, was Sie hier machen, wäre ich früher schon mal gekommen… Dass ich DAS Lied nochmal höre…!“

„Ja ja, schon klar“, ist meine Antwort. „Sie dachten, das ist so ein langweiliger Malkurs wo man irgendwas lernen und abmalen soll…“

Frau W. nickt. „Ja, dachte ich, aber Frau B. hat mir gesagt, das ich unbedingt mal mitkommen soll, und deswegen bin ich heute mitgegangen. Ich bin froh darüber! Bis nächste Woche!“

Als ich alle auf ihre Wohnbereiche gebracht habe und die Reste unserer Runde aufräume, Tische abwische usw., kommt ein Kollege vom Sozialen Dienst vorbei und bemerkt „Deine Malgruppe wird ja immer größer! Aber Frau B. verbreitet auch überall, wie toll das ist und dass du in jedem Bild alle möglichen Dinge siehst…“ das bezieht sich auf meine Angewohnheit, die in der Runde produzierten Bilder und Zeichnungen allen vorzuzeigen und sie zu kommentieren. Bei den Aquarellen ergibt das, in Kombination mit meiner reichlich vorhandenen Imagination und einem gewissen Hang zum Konfabulieren, oft fantastische Interpretation der Formen und Figuren, die man aus den Bildern herauslesen kann.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Solemnias Omnium Sanctorum

In dem diakonischen Pflegeheim, in dem ich arbeite, haben sich Einrichtungsleitung und Sozialer Dienst das ehrgeizige Ziel gesetzt, an jedem Tag zwei Gruppenveranstaltungen – eine vormittags, eine nachmittags – für die Bewohner anzubieten. Das ist nicht immer einzuhalten, da die bekannt üble Arbeitssituation in den Heimen die Mitarbeiter in Pflege und Betreuung gleichermaßen beansprucht. Immer ist irgendjemand gerade krank, hat Urlaub oder fällt aus anderen Gründen aus. Außerdem muß ja auch noch die Einzelbetreuung, vor allem der bettlägerigen Bewohner, abgedeckt werden.

An diesem Feiertag jedenfalls hat’s mich getroffen, als einziger Mitarbeiter des Sozialen Dienstes für das Vormittagsprogramm zu sorgen. Vorsichtshalber habe ich in den Wochenplan „Bunte Runde“ geschrieben. Damit halte ich mir alle Möglichkeiten offen, mit den Leuten Zeit zu verbringen, ohne mich auf irgendeine langweilige Beschäftigungsstunde oder -methodik festzulegen. So kann ich spontan entscheiden, was das Thema ist, kann aktuelle Ereignisse aufgreifen und auf mein Publikum reagieren.

Das Publikum in einem Pflegeheim besteht nun allerdings aus Menschen, die sowieso schon mal alle die eine oder andere substantielle Einschränkung haben – sonst wären sie nicht im Pflegeheim. Ein erheblicher Anteil der Bewohner ist dement, gefühlt mehr als die Hälfte. Das führt manchmal zu Situationen, wo sich die Minderheit der orientierten Bewohner beschwert, dass es für ihre Bedürfnisse und Interessen kaum Angebote gibt. Da fast immer sowohl demente wie orientierte Bewohner zu den Gruppenveranstaltungen kommen, neigen die Angebote zu einer gewissen „Niedrigschwelligkeit“: Singen, Sitztanz, Filmvorführungen, Spielerunden, wenn’s hoch kommt mal Gedächtnistraining (was dementiell veränderte Menschen, je nach Demenzgrad, häufig als Teilnehmer ausschließt).

Als Kunstgeragoge bin ich vor allem für die Kreativangebote zuständig, kann mich in meinen Diensten aber nicht immer vor der Einteilung für andere Angebote drücken. Diese allerdings mache ich nach Möglichkeit mittels meines „Bunte Runde“-Kniffs zu offenen, spontanen Treffen, in denen ich erstens situationsbezogen auf die Anwesenden eingehen kann und zweitens beiden Bewohnergruppen, Dementen wie Orientieren, gerecht zu werden versuche – durch einerseits viel Musik, Bilder und Geschichten und andererseits einer guten Dosis Fakten, Informationen und Betrachtungen aus Kunst, Kultur, Geschichte, Religion und Politik.

Was bietet sich also an einem christlichen Feiertag in einer diakonischen Einrichtung an? Genau: wir schauen uns mal an, was es mit diesem „Allerheiligen“ eigentlich auf sich hat. Das fängt an mit der naheliegenden, aber meist nicht gestellten Frage, was überhaupt ein „Heiliger“ ist. Verdutzte Gesichter, ratlose Blicke, bestätigendes Kopfnicken – mein Publikum zeigt eine Bandbreite von Reaktionen. SO haben sie die Sache noch gar nicht betrachtet. Frau W., eine orientierte Mitt-Achtzigerin, meldet sich zu Wort und berichtet (wobei sie fast erleichtert wirkt), dass sie „an diesen Kram mit den Heiligen“ sowieso noch nie glauben konnte. Sie würde lieber der nicht so heiligen und verstorbenen Menschen gedenken, die hätten‘s ja wohl nötiger.

Das findet die Zustimmung der anderen, die sich nun scheinbar alle überlegen, wieso eigentlich einige heilig sind und andere nicht. Jemand wirft ein, dass es der Papst ist, der die Heiligkeit erklärt. Wir stellen uns gemeinsam vor, wie eine Gruppe alter, bizarr bekleideter Männer sich versammelt, um auf der Grundlage von wilden Geschichten und Erzählungen irgendwelchen armen Schweine, die für ihren Glauben starben oder sich aufgrund ihrer guten Werke einen Namen gemacht haben, posthum eine offizielle Heiligkeitsurkunde zu verleihen. „Da haben die ja auch nicht mehr viel von“, merkt Frau D. an, womit sie zweifellos richtig liegt.

Wo wir schon mal dabei sind, zeige ich jetzt ein paar Bilder der typischen Ikonographie, mit der die Allerheiligenthematik traditionell illustriert wird: Die Heiligen sind in der Regel konzentrisch um Gott oder Jesus versammelt und beten und jubilieren was das Zeug hält. Gerne werden sie auch von Engeln begleitet, die unablässig Lob und Preis singen. Nach einiger Betrachtung und Erörterung kommen wir zu dem Schluß, dass diese Heiligen ziemlich gut drauf sind. Sie haben ja auch allen Grund dazu: sie sind im Himmel, an der Seite des göttlichen Vaters oder seines Sohnes, es fehlt ihnen an nichts, alle finden sie ganz klasse und beten sie an – da gibt’s im Grunde nichts zu meckern, so ein Leben lässt sich aushalten.

Warum also ist Allerheiligen dann „stiller Feiertag“ mit Tanzverbot und Verbot lauter Musik? Auf den Bildern sieht man doch Engel mit Posaunen, und die sind bestimmt nicht leise. Jetzt meldet sich erneut Frau W.: „Da sieht man doch, was für ein Unsinn das ist. Allerheiligen sollte man lieber fröhlich sein und feiern, Tanz und Musik sollten erlaubt sein. Das stille Gedenken ist für Allerseelen, wo man an die Verstorbenen denkt und Kerzen anzündet.“

Dem hab ich wenig hinzuzufügen, außer dass nach soviel Reden und Information jetzt erstmal wieder Musik und Tanz ansteht. Das Tänzchen führe ich mit meiner heutigen ehrenamtlichen Assistentin aus, die zufällig Michaela heißt – was mir Gelegenheit gibt, meiner schlager-affinen Runde Bata Ilic‘s gleichnamigen Hit von 1972 vorzuspielen: „ Ich tue alles für dich, denn ich liebe nur dich, Michaela-a-ha…!“. Das kennt jeder, fast alle singen begeistert mit und ich sinniere vor mich hin, ob ich auch heute wieder die nötige Balance zwischen Religionskritik und arbeitsvertraglicher Jobdefinition gewahrt habe. Da es jetzt munter mit Schlagerklassikern weitergeht, Erinnerungen an die Musik der Jugend und des jungen Erwachsenenalters der Leute die Runde machen, und alle immer fröhlicher und gelöster zu werden scheinen, beantworte ich mir das selber mit „Ja“. 

Nach Ende der Runde haben die Assistentin und ich den Rücktransfer unserer Gäste auf vier Wohnbereiche in zwei Stockwerken zu bewältigen. Als wir uns wieder unten im Veranstaltungssaal zum Aufräumen treffen, sagt mir Michaela, die gerade Frau W. hoch gebracht hat: „Ich soll dir von Frau W. sagen, dass das die beste Veranstaltung war, bei der sie bisher war – sie hat so viel gelernt und sich so gut unterhalten gefühlt, dass ich dir das nochmal sagen soll!“

Geschichten aus dem Pflegeheim: Bacalhau a brás a moda lisboeta

Diesen portugiesischen Standard zauberten wir heute aus dem Nichts, beziehungsweise aus den Zutaten, die wir allesamt im letzten Tante-Emma-Laden Deutschlands eingekauft hatten. Der Lebensmittelladen von Sr Mendes existiert seit 1969 und versorgt die portugiesische Community von Neuss mit allem, was das lusitanische Herz begehrt.

Bei der Zubereitung der Mahlzeit kamen unsere neuen superscharfen Kartoffelmesser zum Einsatz und alle beteiligten Damen schnitten sich beim Kleinschneiden von Zwiebeln, Knoblauch, Petersilie und Oliven in die Finger. Wenn sich das rumspricht, krieg ich die Gruppe noch verboten, wegen Gefährdung der Bewohner.

Geschmacklich gelang uns eine annähernde Nachahmung des portugiesischen Originals, auch optisch fiel unsere Version im Vergleich zum echten Gericht ab. Das lag aber an den roten Zwiebeln, die wir statt der normalen Zwiebeln verwendeten: diese gaben dem Bacalhau eine leicht gräuliche Färbung, was irgendwie etwas gammelig aussah.

Von daher und wegen des für deutsche Gaumen ungewohnten Geschmacks des getrockneten, gesalzenen und 24 Stunden gewässerten Stockfisches wird dies wohl unser einziger kulinarischer Ausflug in die portugiesische Küche bleiben – deutsche Rentner stellen sich unter Hausmannskost etwas anderes vor. Fürs nächste mal hat sich die Runde vorsichtshalber Gulasch mit Klößen bestellt.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Je dementer desto Aquarell

Die Mal- und Kreativrunde ist mein Lieblingsangebot auf meiner Arbeitsstelle. Mein Viereinhalb-Stunden-Dienst geht zu drei gleichen Teilen drauf für Aufbau, das Angebot selbst und Abbau/Aufräumen.

In letzter Zeit gewinnt das Aquarellieren stark an Popularität. Ich setze es meistens ein, wenn Neulinge in die Gruppe kommen und immer bei Dementen. Demente Menschen bringen eine für die bildende Kunst unschlagbare Voraussetzung mit: aufgrund ihrer Erkrankung haben sie kein Konzept des Prozesses. Sie schränken sich nicht selber mit Vergleichen zu anderen ein, sie setzen sich nicht selber die Grenze des „Ich kann nicht malen!“ oder des „Ich weiß nicht, was ich malen soll…“. Deswegen haben sie die Freiheit, einfach mit dem Material zu spielen, zu experimentieren – und das bringt gerade in der Aquarellmalerei häufig die erstaunlichsten Resultate hervor, gelegentlich von einer geradezu Emil Nolde‘schen Qualität.

Diese Resultate erzielen sie, weil sie gar nicht VORHABEN, irgendwelche Resultate zu erzielen. Das ist das Schöne daran. Mitunter glaube ich, die Aquarelle sind umso beeindruckender und prächtiger je dementer die Künstler sind.

Die anderen, orientierten Teilnehmer scheinen sich jetzt noch und nach anstecken zu lassen von der ungehinderten Expressivität und Farbenfreudigkeit der Bilder ihrer dementen Kollegen. „Das mit dem Wasser und den Pinseln, das will ich ich auch mal ausprobieren!“, sagt mir in der gestrigen Runde eine Mittachtzigerin, die bisher immer höchst akkurat mit Fasermaleen und Filzstiften zugange war und „realistische“, gegenständliche Zeichnungen anfertigte.

Die hier abgebildeten Aquarelle stammen allesamt von orientierten Teilnehmern der Runde. Das „Segelschiff auf dem Meer“ natürlich nicht; es wurde mit Ölpastellkreiden gezeichnet.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Aquarell und Demenz

Seit einiger Zeit kommt die stark demente Frau S. in die Malgruppe. Irgendwann habe ich sie einfach mitgenommen – kein großes Problem bei ihr, sie sagt zu beinahe allem Ja. Allerdings sonst so gut wie gar nichts. Bei ihrem ersten Besuch in unserer „Mal- und Kreativrunde“ hatte sie einen Sitznachbarn beobachtet, der mit Aquarellfarben malte und spontan geäußert, das sie so etwa auch mal ausprobieren wolle. Ein Satz von dieser Länge war und ist für Frau S. in etwa so wie eine stundenlange Ansprache für einen orientierten Menschen.

Jedenfalls hat sie Gefallen gefunden am Malen mit den Aquarellfarben und sie scheint sich daran zu erinnern, dass sie Montags immer malen geht. Sicher bin ich mir da aber nicht, da sie auf die Frage, ob sie weiß, dass sie schon öfter beim Malen war, gewohnheitsmäßig „Ja“ antwortet. Wenn sie an ihrem Platz sitzt und wir ihre Bilder aus ihrer Mappe hervorholen, wirkt sie allerdings so, als ob sie wüsste, dass sie es war, die diese Bilder gemalt hat.

Den Vorgang selber hat sich ihr dementiell verändertes Gehirn so gut eingeprägt, dass Frau S. die Abläufe nahezu fehlerfrei abrufen kann: Wasser auftragen, Pinsel in die Farbe tunken, malen – all dies gelingt ich nach einer kurzen Einführung erstaunlich gut. Das ist für demente Menschen beileibe keine Selbstverständlichkeit; schon mal gar nicht für stark demente Personen wie Frau S.

Man merkt ihr an, wie sie das Spiel der Farben auf dem genässten Papier genießt und sich daran erfreut, wie die Farbe verläuft, wie sich Formen und Gestalten bilden, wie die unterschiedlichen Farbstärken mäandern und ineinander übergehen. Ab und zu greife ich behutsam ein und mache ein paar Vorschläge – zum Beispiel ermutige ich Frau S., weitere Farben zu verwenden; sie würde sonst bei der Farbe bleiben, in die sie zuerst ihren Pinsel getunkt hat.

Heute hat sie sich selbst übertroffen und mit hingebungsvoller Konzentration eine ganze Reihe Bilder gemalt, fast alle in Blau-Grün-Tönen. Wenn sie so weitermacht, können wir demnächst eine Ausstellung nur mit ihren Werken bestreiten!

Geschichten aus dem Pflegeheim: ein Lichtstrahl aus Farbe im Nebel der Verlorenheit und kein Lohneingang auf dem Konto

Frau S., eine schüchterne, zurückhaltende, fast devot zu nennende Frau Anfang oder Mitte Achtzig nimmt seit einigen Wochen an der Mal- und Kreativrunde teil. Sie ist dement und schlecht zu Fuß, weshalb sie meistens im Rollstuhl sitzt. Anfangs kam sie mit, weil sie auf die Frage, ob sie teilnehmen möchte, einfach nicht „Nein“ sagen kann. Inzwischen habe ich bemerkt, dass sie gerne kommt und dass es ihr anscheinend gut tut, über das Malen und Zeichnen zu einer Ausdrucksfähigkeit zu finden, die sie ansonsten nahezu vollständig verloren hat.

Die Demenz von Frau S.  ist von der Art, die sie zu einer Exilantin in ihrer eigenen inneren Welt macht, deren fortschreitende Auflösung sie in wortlosem Staunen über sich ergehen läßt. Dabei bleibt sie stets ruhig, freundlich, sehr bescheiden und – stumm. Sie redet nur, wenn sie etwas gefragt wird und eine Antwort geben soll. Die Antwort bleibt dann fast immer kurz und knapp: „Ja“, „Gerne“, Danke“ usw.

Heute sitzt sie wieder am Ende der Tischreihe und zeichnet mit Ölpastellkreiden eine Frühlingswiese. Das alleine ist für ihre Verhältnisse schon ein ungeheurer Vorgang, nachdem sie bei den ersten Malen in der Gruppe einen langen Anlauf brauchte, um überhaupt zu begreifen, was man mit Papier, Stiften und Farben anfangen kann (ihre Schwiedertochter, der ich ein paar ihrer Zeichnungen zeigte, wollte gar nicht glauben, dass ihre Schwiegermutter- die kaum noch mit Kindern und Verwandten aktiv kommuniziert – tatsächlich an einer Malgruppe teilnimmt und dort auch noch richtige Bilder malt).

Frau S. gegenüber sitzt Herr B., ein gestandener, gemütlicher und jovialer Ex-Landwirt, der ein paar Wochen zur Kurzzeitpflege bei uns ist und gerne die Gelegenheit ergriffen hat, ein bißchen kreativ zu sein. Er hat die Aquarellmalerei für sich entdeckt und malt einen Bogen nach dem anderen voll mit Flächen in Primärfarben. Man merkt ihm an, dass es ihm Spaß macht und dass er mit Hingabe bei der Sache ist.

Plötzlich wendet sich Frau S. an mich, zeigt auf Herrn B., dem sie wohl schon eine Weile zugeschaut hat, und sagt: „Ich möchte auch das mit den Farben und dem Wasser machen, so wie der Mann da!“. Ich bin baff, beeile mich aber, ihr Aquarellpapier, -farben, Pinsel und Wassergläser zu besorgen und zeige ihr die Handhabung. Sie hat etwas Schwierigkeiten mit der Reihenfolge – Papier nass machen, Pinsel nass machen und in die Farbe tauchen, Farbe auf das nasse Papier auftragen, Pinsel wieder zum Säubern ins Wasser tunken – aber der Vorgang selber, das Verlaufen der Farben auf dem nassen Papier, begeistert sie über die Maßen.

Ein Leuchten geht über ihr Gesicht, als ob ein Lichtstrahl die Dunkelheit erhellt oder die Nebel vertreibt. Wir benutzen in der Gruppe keine Tuschekästen wie in der Schule, sondern echte Künstler-Aquarellfarben, die natürlich eine ganz andere Intensität und Lebendigkeit haben.

Fasziniert und neugierig verfolgt Frau S. die Wege und Muster, die ihr Farbauftrag auf dem feuchten Papier nimmt. Nachdem ich ihr zeige, wie es geht, hält und dreht sie das Papier in alle Richtungen, so dass die Farbe sich besser verteilen kann.

Ich bin berührt und beeindruckt – berührt von der Veränderung in Frau S. Sie scheint auf einmal eine Tür gefunden zu haben, die herausführt aus ihrem sonstigen Eingeschlossensein in ihrer Demenz. Und beeindruckt von ihren Aquarellen, die leuchtend und schön anzuschauen sind. Und von der Wirkung von Kunst, von Farben, auf die Seele. Oder, um es niedriger aufzuhängen, von den Möglichkeiten kreativer Betätigung in der Betreuung von dementen Menschen.

Jetzt bin ich froh, dass ich heute doch noch zur Arbeit erschienen bin. Zunächst wollte ich aus lauter Ärger, dass ich meinen am 15. fälligen Niedriglohn noch nicht auf dem Konto habe, gar nicht hingehen, vor allem nicht, nachdem ich durch Rücksprache mit den Kollegen feststellen muss, das alle ihr Geld erhalten haben, ich aber nicht. Des Rätsels Lösung verrät mir der Personalabteilungsmensch, der für die Lohnabrechnungen zuständig ist: „Ihr Arbeitsvertrag ist am 31.03. abgelaufen und nicht verlängert worden. Wenn Sie keinen Arbeitsvertrag haben, erhalten Sie natürlich auch keinen Lohn!“

Mein allerchristlichster Arbeitgeber, der mit mir vor Jahresfrist nur einen auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag abschließen wollte (mir aber versichert hatte, dass man diesen ja jedes Jahr erneuern könne), hatte vergessen, mich auf das Datum hinzuweisen bzw. mir die Fälligkeit in Erinnerung zu rufen um den Vertrag zu verlängern. Vielleicht passend für eine Pflegeeinrichtung, die überwiegend Demente betreut, aber nicht passend für Niedriglöhner, denen zufällig am Tag des Lohneinganges die Miete abgebucht wird.

So schnell jedenfalls war ich selten bei der Einrichtungsleitung. Dort wird mir reuig versichert, dass alles nur ein Versäumnis sei. Welche Art Vertrag ich denn ab jetzt haben und ob ich nicht gleich einen unbefristeten machen wolle, schließlich wäre der Einrichtung daran gelegen, das ich also lange wie möglich bliebe. Ich traue meinen Ohren nicht; wieso dann der letztjährige Zinnober mit dem befristeten Vertrag? Ende vom Lied: ab sofort bin ich unbefristet eingestellter Diakonie-Mitarbeiter und kann (und muß) solange meine Armutsrente mit Lohnarbeit aufbessern, wie die Kräfte reichen. Was, sofern Erlebnisse wie das mit Frau S. vorkommen, noch lange Zeit der Fall sein wird.

Aquarell von Herr B. Gemischt wird nicht! Hier regieren die Primärfarben!
„Parklandschaft“ – Aquarell von Frau S.
„Die Blaue Grotte“ – Aquarell von Frau S.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Ostereier und zwei Fehleinschätzungen des Kunstgeragogen

Ich habe meinen Malrundenteilnehmern versprochen, dass wir in der Osterwoche Eier bemalen, und so kommt es auch! Aber nicht irgendwelche Eier, sondern richtig große, mit viel Platz für Dekoration und Farbe.

Fragt sich nur, welche. Meiner Einschätzung nach haften Fasermaler, Filzstifte, Brush Pens und dergleichen am besten auf der Styroporoberfläche der überdimensionierten Eier, die größenmäßig irgendwo zwischen Hühnerei und Straußenei liegen.

Herr B., der immer als erster da ist, legt bereits mit seinen gewohnten Aquarellfarben los, während ich noch mit dem Transfer der übrigen Teilnehmer beschäftigt bin. „Herr B., das wird nichts mit den Aquarellfarben, nehmen Sie lieber die Filzstifte oder die Acrylfarben – die haften auf der Oberfläche besser!“, rufe ihm zu, aber er trägt unverdrossen die Aquarellfarbe auf. Ich kann mich nicht weiter um ihn kümmern, weil ich schon auf dem Weg in die Wohnbereiche bin, um den Rest der Truppe einzusammeln.

Als ich zurückkomme, ist aus Herrn B.s Osterei ein wunderbar anzusehendes marmoriertes Kunstwerk geworden. Er hat die Aquarellfarbe geduldig und in verschiedenen Mischungsverhältnissen von Farbe und Wasser immer wieder neu aufgetragen und so ein Ergebnis erzielt, das durch den nicht deckenden Farbauftrag die wabenförmige Struktur der Styoroporoberfläche schön sichtbar macht.

„Gut, dass Sie nicht auf mich gehört haben!“, sage ich ihm und räume mir selber gegenüber ein, dass die „fehlerhaften“, die nicht passend oder untauglich scheinenden Herangehensweisen oft die interessantesten und schönsten Resultate bewirken. Jedenfalls in der Kunst bzw. im kreativen Prozess.

Herr B. ist jedenfalls stolz wie Bolle auf sein Osterei und will gleich noch ein weiteres gestalten, natürlich auch wieder mit Aquarellfarben, diesmal in Rot statt in Grün.

Alle sind inzwischen eifrig und guter Dinge mit dem Eierbemalen beschäftigt, als ein Pflegekollege eine Bewohnerin im Rollstuhl zu uns bringt. Frau D., eine orientierte (Pflegejargon für nicht dementiell veränderte) Neunzigjährige, ist in eigener Einschätzung eine Hobbykünstlerin mit Schwerpunkt auf Basteln und Handarbeiten. Sie beschäftigt sich mit Stickbildern , Basteleien, Handarbeiten jeglicher Art usw., hat sich aber noch nie in unserer Malrunde blicken lassen. Ich glaube, das hält sie für etwas unter ihrer Würde.

Außerdem hat sie hat die Selbsteinstufung, die ich immer wieder von den Leuten höre: „Ach, Malen ist nichts für mich, das kann ich nicht…“ Zum Glück versuchen es die meisten dann doch mal, und bleiben in der Regel dabei.

Vor allem, weil ich ihnen als erstes immer die Grundvoraussetzungen meiner Angebote nahebringe:

Erstens – Wenn man etwas nicht kann, kann man folglich darin auch nichts falsch machen, weil man nicht weiß, wie „richtig“ geht.

Zweitens – Es gibt beim Malen und Zeichnen nichts zu erreichen, nichts nachzumachen, keinen Vorgaben zu folgen – wir überlassen die Arbeit den Farben, dem Wasser und dem Papier.

Wer das erstmal geschluckt hat, kommt irgendwann ganz von selbst auf den kreativen Dreh, mehr und mehr gestalterische Möglichkeiten auszuprobieren.

Frau D. hat gehört, dass wir heute Eier bemalen wollen und hat sich entschlossen, doch mal die Nase in die Malgruppe zu stecken. Bevor sie auch nur an ihrem Platz ist, erzählt sie mir, dass sie selber Stab-Eier und Deko-Eier aller Art macht (oder gemacht hat), sich schwer auskennt und, so lässt sie durchblicken, gewissermaßen eine Koryphäe der Ostereiermalerei ist.

Ich zeige mich entsprechend beeindruckt und ihr die Arbeitsmaterialien. Inzwischen haben wir nämlich herausgefunden, dass Ölpastellkreiden die besten Werkzeuge sind, um Styropor zu bemalen. Auch mit Acrylfarben lassen sich gute Resultate erzielen.

Ich habe vor einiger Zeit, als wir dank einer Spende des örtlichen Lions Club aus dem Vollen schöpfen konnten, Acrylstifte angeschafft und sehe nun die Gelegenheit, diese zum Einsatz zu bringen. Ich führe Frau D. Kurz die Handhabung vor (die Stifte müssen geschüttelt werden, damit die Farbe nach unten fliesst, außerdem sollte man sie nach Gebrauch gleich wieder verschließen und sie mit der Spitze nach unten senkrecht lagern).

Sie nimmt alles zur Kenntnis, beginnt ihr Osterei zu bemalen und ich widme mich wie in diesem Angebot üblich, nach und nach jedem einzelnen Teilnehmer, drehe meine Runden um die Tische, sorge für Getränke usw. Frau D. habe ich nicht vergessen, beachte sie aber auch nicht weiter.

Nach etwa 20 Minuten meldet sie sich mit verärgerter Stimme und bittet darum, wieder nach oben gebracht zu werden. „Das gefällt mir überhaupt nicht!“ erklärt sie definitiv und entschieden. „Das funktioniert alles nicht!“

Ich erkenne, was sie meint: die Acrylstifte erzeugen einen eher schmalen Strich; ein breiterer Farbauftrag erfordert einiges an Geduld und ist von der Haptik her – mit einer Hand das Ei halten, mit der anderen Strich für Strich einen gleichmäßigen. Farbauftrag versuchen – auch für eine nicht-demente Neunzigjährige eine ziemliche Herausforderung.

Frau D. ist erkennbar sauer und wiederholt auf dem Weg nach oben immer wieder, dass ihr das alles „überhaupt nicht gefallen hat“. Ich entschuldige mich bei ihr, das ich ihr überhaupt die Acrylstifte empfohlen habe. Mir ist klar, dass ich bei etwas mehr Aufmerksamkeit jetzt nicht eine frustrierte alte Dame zurück in ihren Wohnbereich bringen, sondern eine zufriedene Eiermalerin unten sitzen haben würde.

Sie mault noch eine Weile vor sich hin und fordert mich dann auf, sie in ihr Zimmer zu begleiten. Sie wolle mir mal zeigen, wie Ostereier aussehen müssen. Und richtig, dort hat sie nicht nur einen Strauß Stab-Eier, sondern einen ganzen Karton Ostereier in verschiedene Größen, alle filigran mit Stoffbordüren, kleinen Röschen und ähnlichem beklebt, alles selbstgemacht und alles in einer Art „Sofakissen-Stil“, wenn ich einen Ausdruck dafür finden müsste.

Ich würdige ihre Arbeiten, die tatsächlich einen hohen Grad an Präzision, Geduld und Geschick für feine Handarbeit erfordern. Sie kramt in ihrer Kiste und schenkt mir eines der „Sofakissen“-Eier. „Das können Sie mal denen da unten zeigen!“, fordert sie mich auf, und ich komme dem nach, indem ich mir das Ei als Ohrring anhänge und zur Freude der anderen so dekoriert wieder im Gruppenraum erscheine.

Natürlich sind alle schwer beeindruckt von der professionellen Qualität des geschenkten Eies. Aber unserer bzw. ihre chaotisch bemalten Rieseneier finden meine Leute dann doch insgesamt genauso großartig. Vor allem, weil wir sie inzwischen mittels Zahnstochern zum Aufrechtstehen gebracht haben und sie somit auf den Tischen in den Wohnbereichen platziert werden können.