Geschichten aus dem Pflegeheim: Aquarell und Demenz

Seit einiger Zeit kommt die stark demente Frau S. in die Malgruppe. Irgendwann habe ich sie einfach mitgenommen – kein großes Problem bei ihr, sie sagt zu beinahe allem Ja. Allerdings sonst so gut wie gar nichts. Bei ihrem ersten Besuch in unserer „Mal- und Kreativrunde“ hatte sie einen Sitznachbarn beobachtet, der mit Aquarellfarben malte und spontan geäußert, das sie so etwa auch mal ausprobieren wolle. Ein Satz von dieser Länge war und ist für Frau S. in etwa so wie eine stundenlange Ansprache für einen orientierten Menschen.

Jedenfalls hat sie Gefallen gefunden am Malen mit den Aquarellfarben und sie scheint sich daran zu erinnern, dass sie Montags immer malen geht. Sicher bin ich mir da aber nicht, da sie auf die Frage, ob sie weiß, dass sie schon öfter beim Malen war, gewohnheitsmäßig „Ja“ antwortet. Wenn sie an ihrem Platz sitzt und wir ihre Bilder aus ihrer Mappe hervorholen, wirkt sie allerdings so, als ob sie wüsste, dass sie es war, die diese Bilder gemalt hat.

Den Vorgang selber hat sich ihr dementiell verändertes Gehirn so gut eingeprägt, dass Frau S. die Abläufe nahezu fehlerfrei abrufen kann: Wasser auftragen, Pinsel in die Farbe tunken, malen – all dies gelingt ich nach einer kurzen Einführung erstaunlich gut. Das ist für demente Menschen beileibe keine Selbstverständlichkeit; schon mal gar nicht für stark demente Personen wie Frau S.

Man merkt ihr an, wie sie das Spiel der Farben auf dem genässten Papier genießt und sich daran erfreut, wie die Farbe verläuft, wie sich Formen und Gestalten bilden, wie die unterschiedlichen Farbstärken mäandern und ineinander übergehen. Ab und zu greife ich behutsam ein und mache ein paar Vorschläge – zum Beispiel ermutige ich Frau S., weitere Farben zu verwenden; sie würde sonst bei der Farbe bleiben, in die sie zuerst ihren Pinsel getunkt hat.

Heute hat sie sich selbst übertroffen und mit hingebungsvoller Konzentration eine ganze Reihe Bilder gemalt, fast alle in Blau-Grün-Tönen. Wenn sie so weitermacht, können wir demnächst eine Ausstellung nur mit ihren Werken bestreiten!