Geschichten aus dem Pflegeheim: Ein Tag wie jeder andere

Die „Tagesgruppe Demenz“ ist aus räumlichen und betreuungstechnischen Gründen erweitert auf die gesamte mobilisierte Bewohnerschaft des Wohnbereiches. „Mobilisiert“ heißen im Pflegejargon die Nicht-Bettlägrigen.

Das heißt, ich habe jetzt statt 6-8 Leuten dreizehn oder vierzehn erwartungsfrohe, unterhaltungsbedürftige alte Leute vor mir sitzen. Fünf Stunden lang muß ich für Zeitvertreib und Kurzweil sorgen, auf dass sich keiner langweile, niemand der Pflege zur Last falle und der Betrieb auf dem Wohnbereich möglichst störungsfrei verlaufe. Zusätzlich habe ich die Essensbegleitung zu machen und neben- oder hinterher alles zu dokumentieren, was ich in der Einrichtung so treibe.

Die Aufgabe wäre schon mit orientierten Alten und hochbetagten eine Herausforderung; mit überwiegend dementen Menschen ist es jedesmal ein Neue Reise ins Unbekannte. Ich selber weiß nie, was ich mit den Leuten machen werde und wohin uns unsere wilde Fahrt durch Zeit, Raum, Musik, Geschichten und Bildern führen wird.

Nicht jeder ist mental und ressourcenmäßig gerüstet für diese Tätigkeit. Ein junger Kollege bewältigt gerade mal eine Handvoll Leute in einem separaten Raum und überläßt die übrigen, die zahlenmäßig auch noch in der Mehrheit sind, sich selbst bzw. als zusätzliche Belastung den Kollegen der Pflege. Die sind dann entsprechend gestresst und entnervt.

Es wundert mich also nicht, wenn ich nach zwei dienstfreien Tagen von den gestandenen Pflegekollegen erfreut begrüßt werde: „Gottseidank bist du wieder hier!“, „Oh wie gut! Dein Kollege hat uns hier gestern wieder mit all den Leuten sitzen gelassen, und in der Frühschicht war eine krank und wir hatten keinen für die Küche…“

Ich genieße kurz die Bauchpinseleien und schaue mir die Runde an. Alle da? Nein, eine ist letzte Nacht gestorben, eine nette und gebildete Dame, gebürtig aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. Ihr Tod kommt überraschen, obwohl sie 95 Jahre alt war.

Nach und nach trudeln alle ein bzw. werden von den Pflegekräften gebracht – selber aufstehen, eine Basis-Morgentoilette durchführen und in den Speisesaal kommen können von den 24 Bewohnern des Wohnbereiches höchstens zwei oder drei.

Was stelle ich heute an mit der Gruppe? Keine Ahnung. Das Datum gibt auch nichts her, aber immerhin ist Freitag und das bedeutet: es gibt Fisch! Darauf aufbauend könnte man – sehr beliebt! – einen erzählerischen, historischen anekdotischen und vor allem MUSIKALISCHEN Ausflug machen in die Welt von Seefahrt, Meer, Wellen, Schiffen und großen Abenteuern in der fernen Weite, an Sehnsuchtsorten und in fantastische Geschichten von Seeräubern, Meeresungeheuern und Fliegenden Holländern usw.

Eine sichere Bank ist immer die Musik. In dieser Generation – die 1925 – 1940 geborenen – ist das in der Regel Volksmusik und Schlager. Besonders für die Dementen sind gesungene Worte manchmal die einzige Form, in der sie zusammenhängende Sätze verbalisieren. Die Region des Großhirns, die Melodiefolgen, Töne, Klänge usw. speichert, ist dieselbe, in der früheste Erinnerungen abgespeichert werden. Man sieht gelegentlich überraschte Anverwandte, die von ihrem hochdementen Familienmitglied seit Monaten oder Jahren nur unverständliches Gebrabbel zu hören gekriegt haben, vor Staunen schier aus den Schuhen kippen, weil der liebe Opa oder die alte Mutter plötzlich irgendein Kindheutslied fehlerfreie und mit Begeisterung mitsingt.

In diesem Bild sind drei Schlager aus den 1950er und 1960er Jahren versteckt. Meine überwiegend dementen Zuhörer und Zuschauer konnten sie alle erraten (allerdings tw. auch erst nach den deutlichen textlichen Hinweisen):

Geschichten aus dem Pflegeheim: Sterben III

Bei Dienstantritt morgens um 8:00 erfahre ich als erstes, dass unser „Sorgenkind“ (in Wirklichkeit eine 87jährige Frau mit zunehmend starker Demenz) gestern nacht mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

„Sorgenkind“, weil die Frau in ihrer inneren Not und Verlorenheit, in der immer tiefer und verworren werdenden Unübersichtlichkeit und Zerstückelung ihrer inneren Welt, den ganzen Wohnbereich auf Trab hielt, die anderen Bewohner massiv (ver-)störte und eigentlich eine Einzelbetreuung rund um die Uhr benötigt hätte – was natürlich weder eine Pflegeeinrichtung noch eine Privatperson leisten kann.

Als Mitglied unserer „Tagesgruppe Demenz“ war Frau H. eine feste Bank, was ungeschminkte Kommentare, zotige Lieder und witzige Sprüche anbelangt. Ihr teilweise drastischer Humor überraschte nicht nur die anderen Teilnehmer immer wieder, sondern begeisterte und faszinierte auch mich. Im Laufe der Zeit entwickelten wir eine Beziehung zueinander, die so etwas wie eine Freundschaft zwischen Ungleichen, aber auf Augenhöhe war.

Ich war ihr erklärter Liebling; sie schwor, mich immer zu lieben und alles für mich tun zu wollen und wollte mich sogar heiraten. Sie fand sich dann damit ab, das ich bereits verheiratet bin, ließ aber auf unsere spezielle Verbindung nichts kommen.

Die Nachricht von ihrem Zustand bewegt mich, sofort nach Erfüllung meines Dienstes zu ihr ins Krankenhaus zu fahren, wo sich bereits seit 4:00 morgens nach und nach ihre ganze Familie versammelt hat. Frau H. liegt bleich, schwer atmend und stark sediert im Bett, Kinder und Enkel samt Anhang um sie herum sind aufgelöst und in Tränen. Es sind ihre letzten Stunden – wie viele, kann niemand wissen – auf dieser Welt. Ihre Herz-Aorta ist geplatzt, die Lungen füllen sich mit Blut und das Atmen wird irgendwann unmöglich werden.

Als ich mich zu ihr beuge und ihr sage, das ich gekommen bin, öffnet sie abrupt die Augen; Erkennen und Wiedersehensfreude drücken sich darin aus, sie gurgelt etwas Unverständliches mehr als dass sie es spricht, aber etwas in ihr scheint sich zu entspannen. Ihre Familie ist völlig perplex, denn bislang hatte sie die Augen geschlossen und schien nicht mehr zu reagieren – nachdem sie früh morgens, als ihre Familie kam, einige Momente völliger Klarheit hatte, in denen sie sogar ihren Kindern gute Ratschläge gab und ihnen sagte, dass sie „von oben“ auf sie aufpassen werde.

Danach wirkt sie ruhiger, atmet gleichmäßiger und schläft oder döst vor sich hin. Trotzdem scheint sie alles oder viel von dem zu verstehen, was um sie herum gesprochen wird, wie an ihren Reaktionen bemerkbar ist.

Ich bleibe 5 Stunden bei ihr und beobachte, wie ihre Kräfte nachlassen und ihr Atem gurgelt und rasselt und langsamer wird. Der Sterbeprozess zeichnet sich ab: die Nase wirkt spitzer, rings um Nase und Augen wird sie sehr blass; das Blut sinkt nach und noch an die tieferen Stellen des Körpers, wodurch ihr Gesicht schmal und der Hals dick wird. Ab und zu erzähle ich ihr, was ihr gerade passiert und dass dies ein natürlicher Prozess ist, den man nicht fürchten muss.

Sie hat das unglaubliche Glück, das ihre Familie bei ihr ist in ihrer Sterbestunde. Die Kinder und Enkel scheinen sich auch mittlerweile gefangen zu haben und akzeptieren die Situation. Sie wollen sich abwechseln mit Wachen und Schlafen, um ihre Mutter/Großmutter auf keinen Fall alleine zu lassen. Das Krankenhaus hat auf seiner Palliativstation ein komfortables Einzelzimmer, in dem Platz für alle ist, zur Verfügung gestellt und ist ich sonst äußerst entgegenkommend und großzügig im Umgang mit den Verwandten und Besuchern.

Als ich am Frühabend nach Hause fahre, lebt Frau H. noch, aber es ist klar, dass diese Nacht ihre letzte sein wird. Ich verabschiede mich von ihr und ihrer Familie und hoffe, dass die kommenden Stunden für alle von Verstehen und Frieden geprägt sein können.

Ich frage mich, wie es Leuten in Kriegsgebieten gehen mag, speziell alten und dementen Menschen in Pflegeheimen, die in solchen äußeren Extremsituationen die Reise ins Jenseits antreten müssen. Was machen eigentlich Bewohner und Mitarbeiter in ukrainischen oder Donbass-Pflegeheimen? Gibt’s da überhaupt mit hiesigen vergleichbare Pflegeheime?

Aus dem Autoradio quillt die aktuellste Hetz- und Lügenpropaganda der NATO-Kriegspartei; ich schalte schnell auf CD um und fahre zu den Klängen von Jagjit und Chitra Singh nach Hause.

https://youtu.be/UeSEom7unBE

Geschichten aus dem Pflegeheim: Ferdinand das Fischstäbchen

Es gibt zum Glück noch etwas anders als Krieg und Russophobie. Im Pflegeheim läuft zwar bei den meisten Bewohnern fast pausenlos der Fernseher, aber nicht wegen der Ukraine, sondern aus Gewohnheit.

Den wenigen Orientierten unter der Bewohnerschaft mag das westliche Propaganda-Narrativ vom aggressiven, bösen Russen einleuchten – die Dementen jedoch sind aus dem Spiel raus; Politik ist für sie nur eine der vielen seltsamen und unverständlichen Erscheinungsformen in ihrer stetig rätselhafteren, unbegreiflicheren Welt.

So widmen wir uns heute in der „Tagesgruppe Demenz“ dem Potpourri aus Liedern, Geschichten und Bildern, das – wenn ich für den Vormittag verantwortlich bin – immer spontan entsteht und meistens vom Hölzchen aufs Stöcken kommt.

Weil Freitag ist (schon allein aus dieser Tatsache kann man mit etwas Fantasie eine ganze Raterunde aufziehen) kommen wir schnell auf das diakonieübliche Mittagstisch-Angebot, nämlich Fisch. Schon die spannende Frage, was für Fisch es denn heute gibt, beschäftigt uns einige Minuten. Ein Kundschafter des Essens wird zur Wohnbereichsküche entsendet und soll den heutigen Speiseplan möglichst komplett in Erfahrung bringen. Keine leichte Aufgabe bei zwei Menüs samt Vorspeise und Nachtisch!

Diese verdeckte Ermittlung benötigt speziell geschulte Einsatzkräfte, weshalb wir auf die FSJler verfallen, die ich als Assistenten in der Tagesgruppe habe. Kurze Zeit später meldet unser Kundschafter Vollzug: es gibt tatsächlich Fisch (Überraschung!) und als Vorspeise eine Fischsuppe! DAS ist jetzt tatsächlich eine Neuigkeit, die erstmal verdaut und diskutiert werden muss. Es gibt bei den Bewohnern Suppen-Fans und Suppen-Gegner, aber bei der Aussicht auf Fischsuppe sortieren sich die Fronten neu.

Das allgemeine fischige Thema ist nicht schwer zu erweitern auf die erstaunlichen Geschichten, die es über das Meer im allgemeinen und einige der darin herumschwimmenden Fische im speziellen zu erzählen gibt.

Zunächst mal das erstaunliche Leben von Fred, dem rosa Fisch, der von all seinen Fischkumpels gedisst wird, weil er nicht nur rosa ist, sondern auch noch lila Punkte hat. Er fristet ein ziemlich trauriges Außenseiterdasein in seiner Fischgruppe, alle machen sich lustig über sein Aussehen – dabei ist er wunderschön anzusehen Mut seinen schillernden Farben, im Gegensatz zu seinen langweiligen Fischgenossen die bloß langweilig silbergrau sind.

Der Grund natürlich: die Langweiler und Spießer sind nur neidisch auf Fred! Deswegen machen sie ihn mies und ärgern ihn. Solches Verhalten können meine Schützlinge, ob dement oder nicht, jedenfalls nachvollziehen und sympathisieren ordentlich mit Fred.

Da ich sie aber nicht mit einer Geschichte ohne Happy End entlassen will, wird jetzt noch Erwin, der flotte Fisch-Impresario eingeführt. Er kommt zufällig dahergeschwommen, weil er Talente für die große Unterwasser-Show im Fisch-TV sucht, und ein Naturwunder wie Fred kommt ihm da gerade recht. Zufällig kann Fred auch schön singen – onomatopoetische Lautfolgen wie „Hottentotten wetten Motten“ u.ä. sind seine Lieblingslieder (ein Singsang, den die Anwesenden von einem unserer Bewohner, Herrn H. gut kennen).

Erwin der Impresario zückt ein dickes Bündel Fisch-Euros, heuert Fred für seine Show an und bringt ihn groß raus als Star der Show! Jetzt werden die neidischen Fischgenossen erst recht neidisch, weil Fred es ihnen allen gezeigt hat. Das erfreut auch meine Zuschauer, die schon befürchtet haben, dass der arme Fred unglücklich und ungeliebt alleine weiterschwimmen müsste.

Als die mittlerweile schwerstdemente Frau H., die aufgrund einer Art infantiler Regression sich im Zustand eines dauerunglücklichen nörgelnden Kleinkindes befindet, in einem ihrer lichteren Momente – als wir über Wale sprechen – mit der Reim- und gesungenen Tonfolge „Wal, Wal, Aal, Aal…“ die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ergibt sich die Gelegenheit für eine Größenvergleich zwischen diesen beiden Meeresbewohnern.

Langsam neigt sich der Vormittag seinem Ende zu, und da unser Kundschafter herausgefunden hat, dass es Fischstäbchen zu Mittag gibt, breite ich vor meiner faszinierten Truppe noch das bizarre Leben von Ferdinand dem Fischstäbchen aus: es durchschwamm die Weltmeere jahrelang, ohne von einem der Fischkutter Käpt’n Iglos gefangen zu werden. Ferdinand war nämlich ein schlaues Kerlchen und wusste aufs Geschickteste, Schleppnetzen und Angeln auszuweichen.

Auch als Elise, das schwarzhaarige Mädchen an der neufundländischen Küste, ihre Angel ins Wasser hielt um zum Muttag Fischstäbchen zu fangen, ließ Ferdinand sich nicht aufs Glatteis bzw. zum Anbeißen locken. Sowieso, sind wir uns einig, wäre Ferdinand viel zu groß und schwer gewesen als dass Elise ihn hätte herausziehen können.

Wir überlegen noch eine Weile, wie Elise sich mit so einem dicken Brocken am Haken angestellt hätte, kommen aber zu keinem Ergebnis, denn schon ertönt vom Gang her das vertraute Scheppern des Essenswagens und das Highlight das Tages beginnt: das Mittagessen!

Geschichten aus dem Pflegeheim: Wie Mozart einmal nicht mehr leben wollte

Macht mit beim Großen Schlagerraten!

Meine dementen Schützlinge haben nach einigem Nachdenken und mit etwas Nachhilfe alle Lieder erraten.

Das vierte Bild ist kein Song, sondern Illustration zu einer Geschichte, die beim Walzer hören entstand (Wiener Walzer habe ich vor Jahr und Tag als Frühstücks-Begleitmusik in der „Tagesgruppe Demenz“ eingeführt; der Soundtrack ist mittlerweile ein essentielles Ritual, da vermisst wird, wenn mal was anderes läuft oder jemand anders die „Tagesgruppe“ betreut):

Der junge Mozart war nämlich einmal total niedergeschlagen, weil keiner von dem adligen reichen Pack, für das er musizieren mußte, ihm seine Noten abkaufen oder ihm eine Stelle als Kapellmeister anbieten wollte.

Er sah keinen Sinn mehr in seinem Ableben und wollte ins Wasser gehen – in die schöne blaue Donau, weil er grad in Wien war. Als er da am befestigen Donauufer stand und gerade die Treppe runtergehen wollte, kam aber Johann Strauß der Jüngere angelaufen und beschwor ihn, es nicht zu tun.

Er versicherte dem Lebensmüden, dass er, Mozart, noch viele schöne Stücke schreiben und ganz gewiß auch eine gut dotierte Anstellung als Kapellmeister oder Hofmusikant finden würde. Außerdem, so der etwas außer Atem geratene Strauß jr., würde der Nachwelt sonst so viel geniale Musik entgehen, das es eine Schande wäre.

Mozart sah es ein und die beiden gingen erstmal einen saufen. So blieb der Welt zum Glück das musikalische Genie des begabten Österreichers erhalten!

(Dass die beiden noch nicht einmal Zeitgenossen waren, fiel keinem meiner Truppe auf; tut auch nichts zur erbaulichen Moral der Geschicht‘)

Auflösung der Bilderrätsel vom Schlagerraten:

1) Jupp Schmitz: Wer soll das bezahlen?

2) Richard Tauber: Ich küsse Ihre Hand Madame

3) Hans Albers: Kleine Möve flieg nach Helgoland

Geschichten aus dem Pflegeheim: die Sünde und der Rock‘n‘Roll

Die „Tagesgruppe Demenz“ kann momentan aus Personalmangel nicht wie gewohnt stattfinden: eine zweite Person wird benötigt, wenn es in dem gewohnten (und gemäß geronto-psychiatrischem Konzept der „Tagesgruppe“ vorgesehenen) separatem Raum stattfinden soll.

„Du musst das mit allen hinten im Speisesaal machen. Ich kann dir niemanden für die Tagesgruppe geben – da finde ich kein Personal für“, informiert mich die Wohnbereichsleiterin stoßseufzend und widmet sich wieder ihrer undankbaren Aufgabe, den von Krankmeldungen und sonstigen Ausfällen in Mitleidenschaft gezogenen Dienstplan irgendwie so umzumodeln, dass ein halbwegs geordneter Betrieb möglich ist.

„Hinten im Speisesaal“ heißt, dass ich es statt mit neun dementen Menschen in der stabilisierenden Umgebung unseres gewohnten vormittäglichen Zusammenseins mit 12 – 15 Personen zu tun habe – und zwar im vergleichsweise unruhigen Umfeld des öffentlichen Speisesaals, einem Durchgangsraum, der neben den Küchenkräften mit ihren Essenswägen von Pflegerkräften, Besuchern, Fußpflegerinnen, Physiotherapeuten und diversen Kollegen frequentiert wird, die alle irgendetwas wollen und so für Ablenkung sorgen.

Für die Bewohner andrerseits – jedenfalls für diejenigen, die nicht ohnehin Mitglied der „Tagesgruppe“ sind – ist es ein Gewinn und eine willkommene Abwechslung. Anstatt unbeschäftigt vor sich hin zu starren und sich zu langweilen, wird ihnen ein unterhaltsames und interessantes Programm geboten. Dement sind sie alle in verschieden Graden, auch wenn nicht alle die offizielle Diagnose haben. In der Altersgruppe der Hochaltrigen (Menschen über 80 Jahre) gibt es statistisch gesehen einen Anteil von einem Viertel bis einem Drittel Demenzkranker – in den Pflegeeinrichtungen allerdings weit mehr als die Hälfte, in manchen Wohnbereichen alle bis auf wenige Ausnahmen.

Ich schließe erstmal die beiden Durchgangstüren, um den morgendlichen Aufstehlärm auszusperren. Der Arbeitsrythmus in Pflegeheimen erfordert es, die Bewohner ab 7:00 aufzuwecken und „frisch zu machen“, also die Grundpflege durchzuführen. Das wird begleitet von oft lautstarker Kommunikation auf den Gängen und aus den Zimmern zwischen Pflegern, Hauswirtschaftskräften, Sozialdienst-Mitarbeitern usw.

Das frühe Aufstehen ist nicht jedermanns Sache, und manch eine beschwert sich darüber. Dann wird versucht, den Leuten mehr Zeit zu lassen – was auch dem ausgedünnten Personalstand bei den Pflegekräften zugutekommt, die sich ohnehin die Arbeit gut einteilen müssen, um alles schaffen zu können. Umgekehrt gibt es Bewohner, die aus irgendwelchen Gründen immer die letzten sind, die aus dem Bett geholt werden und die sich wiederum gerade darüber beschweren; verständlich, wenn man bedenkt, das dies Menschen sind, die gar nicht alleine aufstehen KÖNNEN.

Ab 8.00 Uhr beginnt sich der Speisesaal zu füllen, um kurz nach 9:00 sind auch die letzten erschienen und bis um 10:00 haben alle gefrühstückt. Ich habe mich wie in der regulären „Tagesgruppe“ nützlich gemacht, indem ich Essen verteile, denen helfe, die alleine nicht zurechtkommen, Essen anreiche usw. Vor allem aber habe ich unsere traditionelle Tagesgruppen-Guten-Morgen-Musik aufgelegt, die „Wiener Walzer“-Playlist von einem meiner Endgeräte, die ich seit Jahr und Tag im Heim einsetze. Diese musikalische Begleitung des Frühstücks – in dezenter Lautstärke natürlich – ist ein wichtiger mentaler Anker für Leute, deren ganze Welt im negativen Sinne im Fluß ist und vor ihrem inneren Auge immer fragmentarischer und unübersichtlicher wird.

Jetzt, um kurz vor 10 Uhr , kann es losgehen. Ich verbinde Endgerät 1 (Telefon) mit einem wuchtigen und leistungsfähigen LG-Lautsprecher; Endgerät 2 (Tablet) wird mittels eines HDMI-Kabels mit dem Riesen-Fernseher, der an der Wand montiert ist, verbunden und ich frage meine Zuhörer, womit wir uns heute so gemütlich wie möglich die Zeit vertreiben wollen: Quatsch mit Soße oder kunterbuntes Halligalli? Das frage ich jedesmal, und meistens ist die Antwort „Quatsch mit Soße!“. Auch diesmal will eine qualifizierte Mehrheit Quatsch mit Soße serviert bekommen; ergänzend fügt Frau N. hinzu: „… und ganz viele Lieder!“.

Im Grunde ist es völlig egal, was gewünscht wird, da ich eigentlich immer improvisiere und nie weiss, was bei unseren vormittäglichen Runden rauskommt. Der einzige „gesetzte“ Programmpunkt ist die Musik. Die Musik – in der Regel Schlager der 1930er bis 1970er Jahre – ist der Kitt, der alles verbindet und der Schlüssel zum Tor der Erinnerungen.

Um für meine Truppe ein bißchen die Spannung zu erhöhen und – ich gebe es zu – auch mir selbst ein solides Quantum Entertainment und Spaß zu verschaffen, frage ich aber erstmal in die Runde, was auf dem Bildschirm – der den weißen Hintergrund der Zeichen-App anzeigt – zu sehen ist. Nach ein paar verdutzten Sekunden rufen einige „Nichts!“ In die Runde. Darauf habe ich natürlich nur gewartet, denn nun kann ich aus dem „Nichts“ eine bebilderte Geschichte entstehen lassen, deren Ablauf und Details auch mir selbst noch nicht bekannt sind. Ich zeichne also drauflos und kommentiere dabei, was entsteht.

Wir (mich eingeschlossen) werden Zeuge, wie eine schöne, aber für den Zuschauer unsichtbare, Prinzessin oder Sultanstochter einsam in einem festungsartigen Palast auf der persischen Hochebene festsitzt, während ihr Galan, ein durchaus traditioneller Prinz, sich anschickt, sie in Begleitung seines treuen dicken Dieners und eines Lehrers zu besuchen, vielleicht sogar zu befreien. Wovon? Soweit sind wir noch nicht. Zunächst mal müht sich der dicke Diener mit dem schweren Koffern ab, während der Lehrer angestrengt in das Klassenbuch blickt und sich wundert, wieso alle Schüler gute Noten haben.

Der Lehrer ist überhaupt nur ins Spiel gekommen, weil das ferne Land, in dem die Geschichte spielt, das Land der Blauen Berge ist. Das bekannte Lied ist schnell gefunden, ist den meisten bekannt, und schon singt die ganze Runde einen Pennälersong, den sie bestimmt schon zu Schulzeiten gesungen haben. Und so geht es weiter, vom Hölzchen aufs Stöckchen und von Lied zu Bild und umgekehrt. Aus einem wilden Gekritzel entsteht plötzlich Friedrich Nietzsche, dessen tragisches kurzes Leben und Ende als Pflegefall die Anwesenden fasziniert hören und anscheinend gut nachempfinden können. Jeder hat auch schon mal irgendwo von „Also sprach Zarathustra“ gehört, und sei es – was wahrscheinlicher ist – als musikalisches Werk von Richard Strauss.

Nach diesen Ausflügen in die Kindermusik und zu symphonischen Klassikern kehren wir zurück zu der bei dieser Klientel beliebtesten musikalischen Gattung: dem Schlager. Meine Zuschauer sind gebannt und bestens unterhalten von der Mischung aus Live-Zeichnen und der dank Internet schnell zur Verfügung stehenden Musik. Wir wenden uns jetzt einer Quiz-Show zu, die stets beliebt ist und für allerlei Rätselfragen, Erinnerungsarbeit und biografische Reminiszenzen sorgt: dem Schlager-Raten!

Das Prinzip ist denkbar einfach: ich versuche, zeichnerisch Titel und Thema des Liedes abzubilden und die Anwesenden sollen es erraten. Das ist bei der Arbeit mit dementen Menschen manchmal gar nicht so ohne. Oft muss ich ihnen auf die Sprünge helfen, indem ich sie immer wieder auffordere, zu beschreiben, was sie sehen – von dort ausgehend kommt dann in der Regel jemand auf den gesuchten Titel.

Heute hat die Quiz-Show aber eine besondere Note. Schon beim ersten Bild, dessen musikalische Vorlage („Lass uns träumen am Lago Maggiore“) schnell erraten wird, werden ungewohnt kritische Stimmen laut, als ich den Sänger nenne: Rudi Schuricke, u.a. Urheber des All-Time-Klassikers „Capri-Fischer“. „Bloß nicht!“, läßt sich Frau K., eine neue Bewohnerin, vernehmen. Auf meine erstaunte Frage nach dem Grund ihres Ausrufes antwortet sie: „Ich kann den Schmalz nicht hören!“

Die anderen, quasi der Rudi-Schuricke-Fanclub von Neuss, sind fassungslos. Sie halten sich aber zurück, obwohl man manchen der alten Herrschaften anmerkt, dass sie eine solche Herabsetzung ihres Idols nicht billigen können. Frau K. informiert jetzt noch mich und die Runde, dass sie eigentlich Jazz und Swing bevorzuge, und „von dem ganzen Schlagerkram“ noch nie etwas gehalten habe. Das finde ich nun wieder sehr gut und gebe gleich mal „Swing“ in die Suchfunktion der Musik-App ein.

Um die Mehrheit der Zuhörer nicht allzusehr zu verprellen und um nicht zu drastisch mit den ziemlich konventionellen Hörgewohnheiten meiner Leute zu brechen, wähle ich Glenn Millers „In the Mood“ aus. Am Tag zuvor konnte ich nämlich beobachten, wie die hochdemente Frau Sch. auf dem Weg in ihr Zimmer schnurstracks kehrt macht und mit ihrem Rollator so eilig sie kann zurück in den Speisesaal steuert, als genau dieser Song im Radio läuft. Sie gerät dabei ins Schwärmen: „Diese Musik finde ich so toll! Dazu haben wir getanzt früher!“

„In the mood“ finden alle richtig gut, sie kennen die Melodie; im Übrigen enthalten recht viele Erfolgsschlager aus den 1950er und 1960er Jahren Swing-Elemente, so daß hier nichts gänzlich Unvertrautes oder Schräges die Ohren meines Publikums verwirrt. Tatsächlich gefällt der Swing-Sound einer Bewohnerin, Frau H. aus der „Tagesgruppe“, so gut, dass sie mit Oberkörper, Armen und Händen mitgeht und im wahrsten Sinne des Wortes mitschwingt.

Das allerdings ruft ihre Sitznachbarin, Frau B., auf den Plan. Die hat schon eine ganze Weile mit wachsendem Unmut Frau H.s Sitztänzchen beobachtet und kann nun nicht mehr an sich halten: „Lassen Sie mal den Unsinn. Müssen Sie hier so rumhampeln? Ist ja lächerlich…“, zischt sie Frau H. an. Frau B. ist keine Teilnehmerin der „Tagesgruppe“, sonst hätte sie vermutlich Frau H.s oft spontane und direkte Art gekannt und sich gar nicht erst mit ihr angelegt.

Frau H., die wegen ihrer durch die Demenz verursachten Angst- und Verwirrtheitszustände seit kurzem „Bedarf bekommt“ (Pflege-Deutsch für die Vergabe von ruhigstellenden Psychopharmaka „bei Bedarf“), ist zwar etwas verlangsamt und für ihre Verhältnisse ziemlich milde gestimmt, aber keineswegs so sediert, dass sie nicht zu antworten wüsste. Sie mustert ihre Nachbarin erstaunt und sagt: „Was haben SIE denn? Lassen Sie mich in Ruhe!“

Frau B. läßt sie aber nicht in Ruhe und zetert weiter auf sie ein. Um die Sache nicht eskalieren zu lassen, muß ich eingreifen. Ich stelle mich zwischen die beiden und bitte sie, freundlich zu bleiben und jeden so tanzen und sein zu lassen, wie er oder sie es will. Um Frau B. einzubeziehen – ich weiß, dass sie an Depressionen leidet und oft tagelang das Bett nicht verlässt – und ihr einen Ausweg zu bieten, frage ich sie, was sie denn gerne so für Musik hört oder früher gehört hat.

Mit der Frage bin ich allerdings an die Falsche geraten. „Gar keine!“, bescheidet sie mich abschlägig, „ich musste ARBEITEN!“, wobei sie das Wort „arbeiten“ betont wie eine abscheuliche Krankheit. Hinter ihren Worten sind die Bitterkeit und der entgangenen Spaß am Leben zu spüren. Ich starte einen Versuch, sie vorsichtig in sanfteres Fahrwasser zu bringen und frage, ob sie bestimmte Lieder oder Musik gut fand, als sie jung war, tanzen ging und verliebt war… vielleicht die Musik, die sie beim ersten Kuss gehört hat, denn an die erinnert man sich gern (falls dabei Musik lief). Das kennen die meisten und nicken zustimmend.

Frau B. entgegnet, schon etwas milder, aber immer noch mit einer unterschwelligen Jahrzehnte alten Bitterkeit: „Das war doch Sünde! Das hat doch der Pfarrer verboten!“. Ich kenne ihre persönliche Geschichte nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass sie als junge Frau genau diese bigotte christliche Frömmelei, diese kranke Repression menschlicher Zuneigung und Sexualität erfahren hat und davon bis heute geprägt ist.

Ich bedränge sie nicht weiter mit diesem Thema und spiele zur Versöhnung aller mit allen – außer der Schmalz-Allergikerin Frau K. – einige unserer Standardschnulzen aus den goldenen Fünfzigern und Sechzigern. Das heißt, ich spiele sie nicht einfach ab, sondern lasse meine Leute anhand meiner Zeichnungen raten, welches Lied als nächstes dran kommt. Seefahrtslieder, die oft von Sehnsucht, Heimweh und Verlorenheit in der Fremde singen, sind aus naheliegenden Gründen sehr beliebt bei dementen Menschen, und so erklingt zunächst mal „Wolken, Wind und Wogen“ und „Heimweh nach St. Pauli“ von Freddy Quinn. Die melancholische Melodie des ersten Liedes in Verbindung mit seinem leicht unheimlichen Text („Was das Meer genommen gibt es nie zurück“) scheint auch Frau B. zu gefallen, denn sie hat ihre Nachbarin in Ruhe gelassen, schließt die Augen und wiegt ganz vorsichtig ein bißchen den Kopf dazu.

Um auch Frau K. mit der Schmalz-Aversion zu signalisieren, dass sie gehört und gesehen wird, erinnere ich an die 1950er Jahre, in denen die Musik entstand, die als Vorläufer und Wegbereiter der ganzen nachfolgenden Pop- und auch Schlagermusik gelten kann. Und welche Musik war das? Rätselraten bei meinen Zuhörern. Als ich aber die Namen der bekanntesten Protagonisten nenne, strahlt Frau K. und ruft „RockˋnˋRoll!!“ in die Runde.

Rock‘n‘Roll ist die Musik der Jugendzeit dieser Generation und überfordert auch die Schlagerfans nicht musikalisch. Zu den Klängen von Bill Haley’s „Rock around the clock“ nähern wir uns dem letzten Teil unserer heutigen Runde – die Mittagszeit naht. Für mein schlagerseliges Klientel ist Rock’n’Roll allerdings nicht einfach zu schlucken – egal ob sie alle in ihren Teenager- oder Twen-Jahren waren, als dieser Sound neu war. Ich merke, dass einige überhaupt nichts damit anfangen können und dass auch diejenigen, die die Musik eigentlich gut finden, wegen der englischen Texte nicht mitsingen können – was sie aber gerne würden.

Darum schlage ich jetzt noch einen Bogen bzw. einen Haken zum Schlager und erzähle ein bißchen was über einen weiteren Schmalz- und Schnulzenkönig der deutschen Schlagerwelt und dessen tragisches Ende. Ich lasse die Gruppe raten, mit welcher dänischen Sängerin ein gewisser Ludwig Franz Hirtreiter (so sein legaler Name) unter dem Künstlernamen Rex Gildo ein Lied über einen Stadtpark mit ausgefallener Straßenbeleuchtung zum Besten gegeben hat. Kein Problem für die versierten Schlagerexperten meiner Runde – ich habe kaum die Mauer des Stadtparks und die Laternen fertig skizziert, schon kommen aus verschiedene Richtungen die richtigen Antworten!

Mit dem schönen zweistimmigen Gesang des Duos Rex Gildo/Gitte Haennig und dem positiven und rebellischen Text des Liedes „Vorm Stadtpark die Laternen“ – der Text bricht eine Lanze für die Liebe ohne Kompromisse mit Neidern und Besserwissern – klingt die Runde aus. Noch eine halbe Stunde bis Mittag, und die brauche ich für Abbau und Rücktransport meines Equipments und für die unumgängliche Dokumentation.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Küchendienst und Kommunismusverdacht!

Nach 3,5 Stunden Schlaf am Neujahrsmorgen um 7:30 im Pflegeheim antreten zu dürfen, um den Küchendienst für ca. 20 Bewohner zu machen – ein würdiger Start in ein weiteres Jahr der Lohnarbeit.

Die WBL sitzt mit Bandscheibenvorfall fitgespritzt im Büro und koordiniert die immer weniger werdenden verfügbaren Pflege-, Betreuungs- und Hauswirtschaftskräfte.

Der einzige Kollege vom Fach (auch er jedoch nur Pflegehelfer), der neben den zwei Azubis heute für die Bewohner da ist, flucht lautstark vor sich hin über den Diakonievorstand, dem es „nur ums Geld geht“ (er macht das Geldzähl-Zeichen mit den Fingern), weshalb die Personalsituation ist, wie sie ist.

Ein relativ neuer FSJler ist, wie ich von ihm erfahre, zur Einzelbetreuung eingeteilt, während ich – als Kunstgeragoge im Sozialen Dienst – mich in die Küche stellen soll. Mir fällt erstmal die Kraft aus dem Gesicht, als ich das höre.

Es stellt sich aber heraus, dass der FSJler ursprünglich den Küchenmenschen des anderen Wohnbereiches ersetzen sollte; dieser ist aber heute wieder erschienen und so kann ich den FSJ-Kollegen sofort dienstverpflichten, mir zur Hand zu gehen.

Auf diese Weise kann ich zwischen den Essenszeiten mein Vormittagsprogramm anbieten, den einrichtungsweit populären Frühschoppen, in welchem ich im Wesentlichen die Rolle des gutmütigen Kneipenwirtes zu verkörpern habe

Nach einer knappen Stunde fröhlichen Palavers und Biertrinkens betreten zwei neue Bewohnerinnen den Raum, angelockt durch mein großes Hinweisplakat vor der Tür und die offenkundig gut gelaunte Gesellschaft drinnen. Die beiden geraten mitten in die feucht-fröhliche Debatte, was es am Jahreswechsel überhaupt zu feiern gäbe – ich ergreife die Gelegenheit, um der Runde meinen gereimten Beitrag zum Thema vorzutragen:

„Hurra Hurra, ein neues Jahr!

Da alte, das schon scheisse war,

weicht einem neuen, das gewiß

so scheisse wie das letzte ist“

Über sowas können Demente wie Orientierte lachen, alle freuen sich über die frechen Verse, nur die demente Frau S. sagt „Scheisse sagt man nicht!“, muß aber lachen, als ich ihr antworte „Jetzt haben Sie’s aber selber gesagt, oder?

Die Frühschoppenbesucher (alle 14 Tage mache ich das) sind immer mehr oder weniger dieselben Leute und eine verschworene kleine Gemeinschaft – unsere beiden Neuzugänge wirken leicht indigniert, es sind KZP(Kurzzeitpflege)-Gäste, beide orientiert, bildungsbürgerlich erkennbar über dem Durchschnitt. Sie erheben sich, bedanken sich artig und verlassen unsere zotige Kneipe.

Es ist her ohnehin schon wieder kurz nach Elf und ich muss die Leute anspornen, jetzt zügig die Sache zu beenden, weil ich zurück in die Küche muß, um das Mittagessen vorzubereiten.

Herr T., unser (von mir ernannter) „Präsident“ hatte mir zu Beginn der Runde ein Set verschiedenere Weine in 0,5l-Flachen überreicht („Weinreise Deutschland“) und wirkt ohnehin erfreut, dass ich nach einer Woche Urlaub wieder auf der Bildfläche erschienen bin. Als ich abschließend resümiere, das wir all unsere von der Frühschoppen-Tradition vorgeschriebenen Themen gehakt haben (Fußball, Politik, Krieg/Flucht/Vertreibung und Essen), bemerkt er: „Das nächste Mal sprechen wir mal über Kapitalismus/Kommunismus!“

Mit einem anzüglichen Seitenblick auf mich ergänzt er: „Da hat uns der Herr Strathus bestimmt einiges zu erzählen… ich kenn’ doch ihre politischen Ansichten!“ Er hört sich aber nicht an wie ein Gesinnungsinquisitor, sondern eher wie ein diskutierfreudiger Demokrat, der dem kommunismusverdächtigen Sozialer-Dienst-Mitarbeiter mal auf den Zahn fühlen möchte.

„Können wir gerne machen, Herr T.“, antworte ich. „ich bringe ihnen vorab schon mal ein bißchen Marx- und sonstige Lektüre mit, damit wir wissen, über was wir reden und Sie sich ein bißchen ins Thema einlesen können!“

Ich weiß natürlich, dass er aufgrund einer diabetesbedingten Sehschwäche kaum noch lesen kann, aber wir flachsen uns gerne mal ein bißchen gegenseitig an. Immerhin scheint er neugierig zu sein, und sei es nur, um „den Kommunisten“ zu bekehren oder um wie bei Werner Höfers Frühschoppen ein bißchen über Politik zu streiten.

Für ein Wochenende mit Küchendienst ist dieser Samstag meiner Einschätzung nach ganz ordentlich gelaufen.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Nikolaustag

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An meinem ersten Arbeitstag nach dreiwöchiger Abwesenheit genieße ich erstmal die rührende Zuneigung meiner betagten Fans, die mich trotz ihrer Demenz nicht vergessen haben. Frau H. reißt, kaum dass sie meiner von weitem ansichtig wird, beide Hände hoch, wirft mir Kusshände zu und ruft „Gottseidank! Dass du wieder da bist! Das wurde aber Zeit! Du kannst dir nicht vorstellen, was ich….“ und holt aus zu einer ausführlichen Erzählung über allerlei Unbill und Beschwerlichkeiten, die ihr andauernd widerfahren (und die im Wesentlichen aus ihrem Unvermögen bestehen, ihr zeitliches und räumliches Erleben bzw. ihren Wach- und Traum- und Erinnerungszustand unter einen Hut zu kriegen).

Frau K. ist die nächste, die mir im Rollstuhl entgegen gerollt kommt. „Na endlich!!“, strahlt sich mich mit 2000 Watt an, „da sind Sie ja wieder!“. Die halbblinde Frau Sch. hört meine Stimme, wendet abrupt ihren Rollator in meine Richtung, eilt mir entgegen so behende wie sie es vermag, und fragt: „Kay? Sind Sie der Kay?! Ach, da bin ich aber froh…“

Und so weiter; überall vernehme ich Stoßseufzer der Erleichterung und Ausrufe schieren Glückes über mein Wiederauftauchen aus der Versenkung einer dreiwöchigen Reha, die allerdings krankheitsbedingt nur drei Tage dauerte (den Rest der Zeit hütete ich mit Grippe das Bett). Ich bin entsprechend gerührt und verspreche allen, dass wir uns gleich im Speisesaal zu einer großen Bunten Runde versammeln werden, wie immer mit viel Unterhaltung, Musik, und natürlich Bildern und Geschichten.

Am 6. Dezember kommt man in einem Pflegeheim nicht umhin, anlassbezogen allerlei nikolausige und weihnachtliche Themen aufzugreifen. Das ist im Grunde ein Selbstläufer, denn jeder hat natürlich allerlei – meistens angenehme – Erinnerungen und Gewohnheiten, die mit diesem Datum verknüpft sind. Diese muß man nur mit entsprechenden Hinweisen, Liedern, Erzählungen, Fragen usw. wachkitzeln.

So liegt es auf der Hand, den Nikolaustag mit der Frage zu beginnen: Wer war eigentlich dieser Nikolaus? Und wieso wird der dauernd mit dem Weihnachtsmann verwechselt? Ich gebe mein vorher bei Wikipedia angelesenes Detailwissen in demenztauglicher Anpassung zum Besten, während ich einen „Nikolaus“ auf das Flipchart zeichne.

Dabei merke ich allerdings, dass ich mal wieder der Verwechslung von Nikolaus und Weihnachtsmann erlegen bin, denn während ersterer auf eine historische Figur und Kirchenheiligen – Nikolaus von Myrna – aus dem dritten und vierten Jahrhundert zurückgeht, ist der andere rotgewandete weißbärtige Alte eine Figur der Volkssage und der populären Märchen.

Das ist natürlich ein Grund, endlich und ein für allemal die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden zu klären. Das Thema wird heiß diskutiert unter den wacheren Anwesenden. Die müderen dösen vor sich hin oder schlafen mit dem Kopf auf den Armen am Tisch. Die Runde ist sich jedenfalls einig, dass der Weihnachtsmann an Heiligabend kommt, der Nikolaus aber viel früher, nämlich heute, am Nikolaustag. Weitere Unterscheidungsmerkmale fallen keinem ein, bis Frau B. einen Geistesblitz hat und laut „Knecht Ruprecht!!“ in die Runde ruft. Beifälliges Nicken rundum.

Knecht Ruprecht als Begleiter des Nikolauses ist allen irgendwie ein Begriff. Jetzt mach ich’s aber noch eine Ecke schwieriger und frage, wieso denn bei manchen an Heiligabend der Weihnachtsmann kommt, bei anderen dagegen das Christkind (ein Umstand, der mir schon immer ein Rätsel war). Meine glaubensfeste Truppe ist aber besser informiert als ich und klärt mich auf, dass das Christkind bei den Katholiken kommt, der Weihnachtsmann aber zu den Protestanten. Deswegen muss jetzt auch noch das Christkind auf das Bild, was ich unter allgemeinen Zurufen und Hinweisen („Wie ein Engel!“, „Blonde Haare!“, „mit Geschenken!“) auch umsetze. Die Frage, wie ein kindgroßes Engelchen einen derart schweren Sack mit jeder Menge Geschenke durch die Luft tragen kann, erklären wir mit der ausgeprägten Heiligkeit des Christkindes, das irgendwie auch Jesus ist und von daher sowieso wundertätig.

Meine Runde ist angenehm unterhalten, die Stimmung ist bestens und wir wenden uns nun der entscheidenden Frage des Nikolaustages zu: welche Schuhe nimmt man und was tut man da so rein an Leckereien, Geschenken, Süßigkeiten usw. Hier hat jeder eine eigene Geschichte zu erzählen, entweder aus der eigenen Kindheit oder von den Kindern, für sie man als Eltern den Nikolaus spielte. Auch ich weiß eine Geschichte, nämlich eine, die ich mir beim Zeichnen ausdenke: der Zwist des linken und rechten Damenstiefels! Beide lebten ein einträchtiges und vergnügtes Leben miteinander, nie gab es Streit, alles wurde gemeinsam unternommen. Es waren teure Lederstiefel mit Innenfutter aus Schaffell, Schwestern im Geiste, Zwillinge von Geburt an und die Lieblinge ihrer Besitzerin.

An Nikolaus jedoch kam es zum Zerwürfnis, denn nur der rechte Stiefel wurde ausgewählt, vor der Tür auf den Nikolaus zu warten und mit Süßigkeiten gefüllt zu werden. Verständlich, dass der linke Stiefel stinksauer war und mit dem rechten haderte und grummelte. Die auf Stiefelisch dahingefluchten Invektive (die ich glaubhaft für meine Zuhörerschaft verbalisiere) gingen auf keine Kuhhaut und die beiden waren kurz vor der endgültigen Entzweiung.

Meine Truppe hört gespannt zu. Wie löst sich dieses Drama auf? Kann es noch ein Happy End für die beiden Stiefel geben? Am Ende ging es glimpflich aus: man einigte sich stiefel-intern darauf, dass nächstes Jahr einfach der linke Stiefel dran ist. Alle sind erleichtert; die Geschichte ist ganz nach dem Geschmack meiner Leutchen, die wohl selber ein Lied zu singen wissen vom Zukurzkommen und vom Neid auf die Bevorzugten.

Jetzt erklingt vom Gang die sonore Glocke des echten Nikolauses, diesmal vom Kollegen F. verkörpert. Er hat sich freiwillig das seit Jahren im Einsatz befindliche und nie gewaschene schmuddelige rote Nikolaus- bzw. Weihnachtsmannkostüm angezogen und den Rauschebart aus Plastik über die FFP2-Maske gehängt (eine Großtat, die nur derjenige zu würdigen weiß, der einmal zwei Stunden lang in so einer Verkleidung auf drei Wohnbereichen eines chronisch überheizten Pflegeheimes unterwegs war).

Jetzt wird es richtig festlich und andächtig. Die feierliche Atmosphäre, die stimmungsvolle Musik, die Gaben (gestiftet von einem großzügigen Angehörigen) begeistern und erfreuen die Bewohner, alle strahlen, manche haben Tränchen in den Augen und kollektiv sehen wir unserem Nikolaus nach, dass er eigentlich wie ein Weihnachtsmann gekleidet ist, also eine Zipfelmütze aufhat statt einer Mitra. Einen Knecht Ruprecht allerdings hat er dabei: der FSJler des Sozialen Dienstes schiebt den Wagen mit den Gaben und Geschenken hinter dem Nikolaus her, dessen Jutesack nur Geschenke für maximal 10-12 Bewohner aufnehmen kann.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Das Katzentaxi

Seit Anfang November gibt es wieder die „Tagesgruppe Demenz“ für die Mehrzahl derjenigen Bewohner des Wohnbereiches (plus zwei weitere von anderen Wohnbereichen), die eine „offizielle“ Demenzdiagnose haben. Die Leute freuen sich darüber, wieder in der familiären Atmosphäre der vertrauten kleinen Runde gesellig und gemütlich Zeit zu verbringen und „etwas geboten“ zu kriegen.

Wie in jeder Familie gibt es natürlich auch in unserer Runde unterschiedliche Charaktere, die nicht immer miteinander harmonieren, die aber irgendwie unter einen Hut gebracht werden müssen, damit die Gruppe „funktioniert“.

Eine Teilnehmerin aus dem Wohnbereich 1, Frau B., hat in der langen „Tagesgruppen“-Pause anscheinend zunehmend begonnen, mit ihrem körperlichen und mentalen Schicksal zu hadern. An buchstäblich jedem Vormittag kann man sie spätestens ab 10:00 klagen hören, dass sie „nach Hause möchte“ und „nicht mehr kann“.

Nun ist das bei dementiell veränderten Menschen nichts Ungewöhnliches; das Bedürfnis, die innere Verlorenheit und fortschreitende Auflösung der Gedächtnisinhalte kompensieren zu wollen, drückt sich sehr häufig in der Sehnsucht nach dem Ort in Zeit und Raum aus, an dem noch alles in Ordnung war: zuhause eben. Das Pflegeheim, das faktisch ja das jetzige Zuhause ist, wird von keinem meiner Leute als „zuhause“ empfunden. Einem dementen Menschen braucht man gar nicht erst mit „Aber Frau Sowieso, Sie sind doch jetzt HIER zuhause!“ und ähnlichen Floskeln zu kommen. Neben verständnislosen Blicken erntet man auf solche Versuche mitunter Bemerkungen wie „Nee, ZUHAUSE meine ich, da wo meine Eltern sind…“

Frau B. jedenfalls ist alle zwei bis drei Minuten mit dem Satz zu vernehmen „Ich kann nicht mehr!“, ersatzweise „Ich will nach Hause“. Dass diese Stoßseufzer keine konkreten, zielgerichteten Wünsche sind, merkt man daran, dass Frau B. – wenn man ihr anbietet, sie zurück in ihren Wohnbereich zu bringen – entschieden ablehnend reagiert. Sie weiss ziemlich genau, dass die Alternative zur „Tagesgruppe“ in langweiligem Alleine-im-Zimmer-sitzen besteht, und das will sie auf gar keinen Fall. Außerdem ist sie, entgegen dem äußeren bzw. hörbaren Anschein, sehr gerne in der Gesellschaft der anderen und braucht geradezu die Aufmerksamkeit, die ihr durch ihr Dauerlamento zwangsläufig zuteil wird.

Heute allerdings überspannt sie den Bogen deutlich. Ihre Sitznachbarin Frau Sch., ansonsten als ostpreußische Landsmännin eine geschätzte Gesprächspartnerin, wendet sich entnervt ab und murmelt gelegentlich „Das hält ja keiner aus…“ oder „Wie oft will die das denn noch sagen??“.

Frau Sch. jedoch ist eine zurückhaltende, freundliche Person; Frau H. dagegen, die Frau B. gegenüber sitzt, nimmt erstens selten ein Blatt vor den Mund und fühlt sich zweitens massiv in ihrer – wohl medikamentös verursachten – vormittäglichen Schläfrigkeit gestört.

Es entspinnt sich, nachdem Frau B. zum gefühlt fünfzigsten Male „Ich will nach Hause!“ gestoßseufzt hat, folgender Dialog:

Frau H.: „Jetzt halten Sie doch mal endlich die Klappe!“

Frau B. (unbeeindruckt): „Ich kann nicht mehr, ich will nach Hause…“

Frau H.: „Geben Sie doch mal Ruhe! Oder GEHEN sie nach Hause! Gehen Sie zu Fuß oder nehmen Sie sich `n Taxi…“

Frau B. (verdutzt): „ Ne Katze??“

Frau H.: „Ja!“

Frau B.: „Ne Katze? Ich bin doch nicht bescheuert!“

Frau H. „Doch, sind Sie!“

Inzwischen haben alle gebannt den Schlagabtausch mitverfolgt und müssen über das akustische Missverständnis lachen. Die halbe Stunde bis zum Mittagessen überbrücke ich mit einer Ordensverleihung an Frau B.: sie hat sich nach unser aller Auffassung den IKNM („Ich kann nicht mehr“)-Orden am laufenden Band redlich verdient und erhält ihn in einer kleinen Zeremonie mit Malerkreppband an die Bluse geheftet.

Der Applaus der anderen Teilnehmer stimmt sie etwas milder und wir hören, bis die Teller auf dem Tisch stehen, nur noch etwa fünf oder sechs Mal eine ihrer beiden Wehklagen.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Der Kartoffelkäfer hätte keine Heimat mehr

Letztes Blatt aus dem „Ich male Peter-Hacks-Gedichte“-Zyklus. Meine überwiegend demente Zuhörer- und Zuschauerschaft sitzt schon in erwartungsfroher Antizipation im Speisesaal des Wohnbereiches, als ich mit Flipchart und Stiften anrücke. Zur Einstimmung hören wir wieder die schwungvolle Vertonung des Gedichtes, eingespielt von „Simone und den Kita-Fröschen“; jeder kann mittlerweile mitsingen und freut sich an dem lustigen Gedicht, dem frechen Zeisig und der beleidigten Tanne.

Da das Bild zu malen länger dauert als die zwei oder drei Minuten des Liedes, lasse ich die Playlist („Die 30 schönsten Herbstlieder“) weiterlaufen. Kurze Zeit später hören wir den „Kartoffel-Song“, der meine Truppe zu allerlei Erinnerungen und Geschichten von früher anregt: jeder zweite hat in der unmittelbaren Nachkriegszeit dieselbe Erfahrung gemacht, die ich ich von meinen eigenen Eltern und Großeltern gehört habe, dass man nämlich zur Nahrungsbeschaffung auf die abgeernteten Kartoffelfelder geht (oder geschickt wird), um die übrig gebliebenen kleinen Kartoffeln zu sammeln.

Jedenfalls singt Simone mit ihren Kita-Fröschen: „Wenn die Kartoffel nicht wär, dann wär die Pommesbude leer und der Kartoffelkäfer hätte keine Heimat mehr..“ und ruft damit umfangreiche Debatten unter meinen Leuten hervor. Den Kartoffelkäfer kennen sie nämlich als üblen Schädling; fast alle haben Nebenerwerbslandwirtschaft betrieben und können erstens ein Lied vom Kartoffelkäfer singen (was sie gerade tun, zur eingängigen Melodie des Kartoffel-Songs) und zweitens auch den Kartoffelkäfer ziemlich genau beschreiben.

So kann ich das Bild noch um einen netten kleinen (bzw. ziemlich groß geratenen) Kartoffelkäfer ergänzen, der sich an einer Kartoffel (woran sonst) gütlich tut. Der Vormittag ist gerettet, die Zeit wie im Fluge vergangen und schon hört man vom Gang her das Geschepper des Essenswagens. Heute gibt’s Hähnchen mit Reis, keine Kartoffeln.

Geschichten aus dem Pflegeheim: der freche Zeisig kriegt auch was ab und der Junge kommt bald wieder

Dritte Bunte Herbstrunde mit Peter Hacks Gedicht „Der Herbst steht auf der Leiter“. Zur Einstimmung hören wir noch mal die Vertonung in der Version von „Simone Sommerland und den Kita-Fröschen“.

Mittlerweile können einige schon mitsingen und freuen sich vor allem an den mittleren Versen von frechen Zeisig und der beleidigten Tanne.

Da wir ja bereits den letzten und den ersten Vers (in dieser Reiehenfolge) bildlich und musikalisch ausgiebig gewürdigt haben, ist nun der zweite Vers dran. Der freche Zeisig stellt uns bzw. mich erstmal vor Herausforderungen künstlerischer Art: ich habe keine Ahnung, wie so ein Vogel aussieht.

Natürlich könnte ich schnell „Zeisig“ googeln (was ich schließlich auch tue), aber zunächst frage ich mal meine Runde, ob sie weiß, was für ein Kamerad so ein Zeisig ist. Man rätselt hin und her und neigt schließlich mehrheitlich zu der Meinung, dass sich „Zeisig“ irgendwie anhört wie „klein, witzig und irgendwie so wie ein Spatz oder ein Zaunkönig“.

Das passt ja, und nach kurzem Blick in die Bildergebnisse bei der Google-Suche für „Zeisig“ male ich einen ziemlich fetten Zeisig auf den Zweig neben die Blätter, die der Herbst auf seiner Leiter gerade anmalt. Allerdings ist unser Zeisig, der natürlich grundsätzlich ähnlich rotzfrech ist wie ein Sperling, in diesem Fall eher von der faulen Sorte. Er kriegt den Klecks vom Herbst ab, weil zu faul zum Wegfliegen ist.

Hintergrund dieser Abweichung vom Gedichttext: der Zeisig hatte schon reichlich von den Wintervorräten gefressen und wollte jetzt auf dem Ast sein Verdauungsschläfchen halten, was meinem mittagsschlafgewöhnten Publikum auf Anhieb einleuchtet.

Jetzt müssen wir noch die Kleiderfrage des Herbstes klären, denn ein Herbst kann nicht in irgendwas rumlaufen, sondern muss im standes- und saisongemäßen Outfit auftreten. Ein Hut ist schon mal gut, aber er darf nicht zu bayerisch bzw. tirolerisch aussehen, sonst müssten wir gleich wieder Billy Mo‘s beliebten All-Time-Klassiker von 1962, „Ich Kauf mir lieber einen Tirolerhut“ spielen und singen, den DEN kennt jeder hier auswendig.

Deswegen, weiß die Runde, darf der Hut nicht grün sein, denn dann wäre er ein Tirolerhut. Gut, der Hut wird ein grauer Filzhhut mit Herbstblättern statt mit Gamsbart. Der Mantel allerdings darf nach einem Vorschlag aus der Runde gerne grün sein, nämlich ein Lodenmantel. Der lila Schal ist ein Selbstgänger; jeder weiß, dass es im Herbst kühler wird und ständig zieht.

Begleitend von einem Potpourri aus Herbst- und weiteren Volksliedern wird das Bild beendet und zum Schluss der Runde aufgehängt. Jetzt fehlt nur noch der Vers von der beleidigten Tanne; mein Lieblingsvers und zeichnerisch am leichtesten zu bewältigen.

Zum Abschied frage ich meine Truppe, welches Lied sie sich als letztes wünschen. „Junge, komm bald wieder!“ ertönt es aus der Gruppe. „Damit du bald wieder kommst!“

Ich bin gerührt und geschmeichelt und verabschiede mich mit Freddys Top-Hit von meinen betagten Fans.