Geschichten aus dem Pflegeheim: die Sünde und der Rock‘n‘Roll
Die „Tagesgruppe Demenz“ kann momentan aus Personalmangel nicht wie gewohnt stattfinden: eine zweite Person wird benötigt, wenn es in dem gewohnten (und gemäß geronto-psychiatrischem Konzept der „Tagesgruppe“ vorgesehenen) separatem Raum stattfinden soll.
„Du musst das mit allen hinten im Speisesaal machen. Ich kann dir niemanden für die Tagesgruppe geben – da finde ich kein Personal für“, informiert mich die Wohnbereichsleiterin stoßseufzend und widmet sich wieder ihrer undankbaren Aufgabe, den von Krankmeldungen und sonstigen Ausfällen in Mitleidenschaft gezogenen Dienstplan irgendwie so umzumodeln, dass ein halbwegs geordneter Betrieb möglich ist.
„Hinten im Speisesaal“ heißt, dass ich es statt mit neun dementen Menschen in der stabilisierenden Umgebung unseres gewohnten vormittäglichen Zusammenseins mit 12 – 15 Personen zu tun habe – und zwar im vergleichsweise unruhigen Umfeld des öffentlichen Speisesaals, einem Durchgangsraum, der neben den Küchenkräften mit ihren Essenswägen von Pflegerkräften, Besuchern, Fußpflegerinnen, Physiotherapeuten und diversen Kollegen frequentiert wird, die alle irgendetwas wollen und so für Ablenkung sorgen.
Für die Bewohner andrerseits – jedenfalls für diejenigen, die nicht ohnehin Mitglied der „Tagesgruppe“ sind – ist es ein Gewinn und eine willkommene Abwechslung. Anstatt unbeschäftigt vor sich hin zu starren und sich zu langweilen, wird ihnen ein unterhaltsames und interessantes Programm geboten. Dement sind sie alle in verschieden Graden, auch wenn nicht alle die offizielle Diagnose haben. In der Altersgruppe der Hochaltrigen (Menschen über 80 Jahre) gibt es statistisch gesehen einen Anteil von einem Viertel bis einem Drittel Demenzkranker – in den Pflegeeinrichtungen allerdings weit mehr als die Hälfte, in manchen Wohnbereichen alle bis auf wenige Ausnahmen.
Ich schließe erstmal die beiden Durchgangstüren, um den morgendlichen Aufstehlärm auszusperren. Der Arbeitsrythmus in Pflegeheimen erfordert es, die Bewohner ab 7:00 aufzuwecken und „frisch zu machen“, also die Grundpflege durchzuführen. Das wird begleitet von oft lautstarker Kommunikation auf den Gängen und aus den Zimmern zwischen Pflegern, Hauswirtschaftskräften, Sozialdienst-Mitarbeitern usw.
Das frühe Aufstehen ist nicht jedermanns Sache, und manch eine beschwert sich darüber. Dann wird versucht, den Leuten mehr Zeit zu lassen – was auch dem ausgedünnten Personalstand bei den Pflegekräften zugutekommt, die sich ohnehin die Arbeit gut einteilen müssen, um alles schaffen zu können. Umgekehrt gibt es Bewohner, die aus irgendwelchen Gründen immer die letzten sind, die aus dem Bett geholt werden und die sich wiederum gerade darüber beschweren; verständlich, wenn man bedenkt, das dies Menschen sind, die gar nicht alleine aufstehen KÖNNEN.
Ab 8.00 Uhr beginnt sich der Speisesaal zu füllen, um kurz nach 9:00 sind auch die letzten erschienen und bis um 10:00 haben alle gefrühstückt. Ich habe mich wie in der regulären „Tagesgruppe“ nützlich gemacht, indem ich Essen verteile, denen helfe, die alleine nicht zurechtkommen, Essen anreiche usw. Vor allem aber habe ich unsere traditionelle Tagesgruppen-Guten-Morgen-Musik aufgelegt, die „Wiener Walzer“-Playlist von einem meiner Endgeräte, die ich seit Jahr und Tag im Heim einsetze. Diese musikalische Begleitung des Frühstücks – in dezenter Lautstärke natürlich – ist ein wichtiger mentaler Anker für Leute, deren ganze Welt im negativen Sinne im Fluß ist und vor ihrem inneren Auge immer fragmentarischer und unübersichtlicher wird.
Jetzt, um kurz vor 10 Uhr , kann es losgehen. Ich verbinde Endgerät 1 (Telefon) mit einem wuchtigen und leistungsfähigen LG-Lautsprecher; Endgerät 2 (Tablet) wird mittels eines HDMI-Kabels mit dem Riesen-Fernseher, der an der Wand montiert ist, verbunden und ich frage meine Zuhörer, womit wir uns heute so gemütlich wie möglich die Zeit vertreiben wollen: Quatsch mit Soße oder kunterbuntes Halligalli? Das frage ich jedesmal, und meistens ist die Antwort „Quatsch mit Soße!“. Auch diesmal will eine qualifizierte Mehrheit Quatsch mit Soße serviert bekommen; ergänzend fügt Frau N. hinzu: „… und ganz viele Lieder!“.
Im Grunde ist es völlig egal, was gewünscht wird, da ich eigentlich immer improvisiere und nie weiss, was bei unseren vormittäglichen Runden rauskommt. Der einzige „gesetzte“ Programmpunkt ist die Musik. Die Musik – in der Regel Schlager der 1930er bis 1970er Jahre – ist der Kitt, der alles verbindet und der Schlüssel zum Tor der Erinnerungen.
Um für meine Truppe ein bißchen die Spannung zu erhöhen und – ich gebe es zu – auch mir selbst ein solides Quantum Entertainment und Spaß zu verschaffen, frage ich aber erstmal in die Runde, was auf dem Bildschirm – der den weißen Hintergrund der Zeichen-App anzeigt – zu sehen ist. Nach ein paar verdutzten Sekunden rufen einige „Nichts!“ In die Runde. Darauf habe ich natürlich nur gewartet, denn nun kann ich aus dem „Nichts“ eine bebilderte Geschichte entstehen lassen, deren Ablauf und Details auch mir selbst noch nicht bekannt sind. Ich zeichne also drauflos und kommentiere dabei, was entsteht.
Wir (mich eingeschlossen) werden Zeuge, wie eine schöne, aber für den Zuschauer unsichtbare, Prinzessin oder Sultanstochter einsam in einem festungsartigen Palast auf der persischen Hochebene festsitzt, während ihr Galan, ein durchaus traditioneller Prinz, sich anschickt, sie in Begleitung seines treuen dicken Dieners und eines Lehrers zu besuchen, vielleicht sogar zu befreien. Wovon? Soweit sind wir noch nicht. Zunächst mal müht sich der dicke Diener mit dem schweren Koffern ab, während der Lehrer angestrengt in das Klassenbuch blickt und sich wundert, wieso alle Schüler gute Noten haben.
Der Lehrer ist überhaupt nur ins Spiel gekommen, weil das ferne Land, in dem die Geschichte spielt, das Land der Blauen Berge ist. Das bekannte Lied ist schnell gefunden, ist den meisten bekannt, und schon singt die ganze Runde einen Pennälersong, den sie bestimmt schon zu Schulzeiten gesungen haben. Und so geht es weiter, vom Hölzchen aufs Stöckchen und von Lied zu Bild und umgekehrt. Aus einem wilden Gekritzel entsteht plötzlich Friedrich Nietzsche, dessen tragisches kurzes Leben und Ende als Pflegefall die Anwesenden fasziniert hören und anscheinend gut nachempfinden können. Jeder hat auch schon mal irgendwo von „Also sprach Zarathustra“ gehört, und sei es – was wahrscheinlicher ist – als musikalisches Werk von Richard Strauss.
Nach diesen Ausflügen in die Kindermusik und zu symphonischen Klassikern kehren wir zurück zu der bei dieser Klientel beliebtesten musikalischen Gattung: dem Schlager. Meine Zuschauer sind gebannt und bestens unterhalten von der Mischung aus Live-Zeichnen und der dank Internet schnell zur Verfügung stehenden Musik. Wir wenden uns jetzt einer Quiz-Show zu, die stets beliebt ist und für allerlei Rätselfragen, Erinnerungsarbeit und biografische Reminiszenzen sorgt: dem Schlager-Raten!
Das Prinzip ist denkbar einfach: ich versuche, zeichnerisch Titel und Thema des Liedes abzubilden und die Anwesenden sollen es erraten. Das ist bei der Arbeit mit dementen Menschen manchmal gar nicht so ohne. Oft muss ich ihnen auf die Sprünge helfen, indem ich sie immer wieder auffordere, zu beschreiben, was sie sehen – von dort ausgehend kommt dann in der Regel jemand auf den gesuchten Titel.
Heute hat die Quiz-Show aber eine besondere Note. Schon beim ersten Bild, dessen musikalische Vorlage („Lass uns träumen am Lago Maggiore“) schnell erraten wird, werden ungewohnt kritische Stimmen laut, als ich den Sänger nenne: Rudi Schuricke, u.a. Urheber des All-Time-Klassikers „Capri-Fischer“. „Bloß nicht!“, läßt sich Frau K., eine neue Bewohnerin, vernehmen. Auf meine erstaunte Frage nach dem Grund ihres Ausrufes antwortet sie: „Ich kann den Schmalz nicht hören!“
Die anderen, quasi der Rudi-Schuricke-Fanclub von Neuss, sind fassungslos. Sie halten sich aber zurück, obwohl man manchen der alten Herrschaften anmerkt, dass sie eine solche Herabsetzung ihres Idols nicht billigen können. Frau K. informiert jetzt noch mich und die Runde, dass sie eigentlich Jazz und Swing bevorzuge, und „von dem ganzen Schlagerkram“ noch nie etwas gehalten habe. Das finde ich nun wieder sehr gut und gebe gleich mal „Swing“ in die Suchfunktion der Musik-App ein.
Um die Mehrheit der Zuhörer nicht allzusehr zu verprellen und um nicht zu drastisch mit den ziemlich konventionellen Hörgewohnheiten meiner Leute zu brechen, wähle ich Glenn Millers „In the Mood“ aus. Am Tag zuvor konnte ich nämlich beobachten, wie die hochdemente Frau Sch. auf dem Weg in ihr Zimmer schnurstracks kehrt macht und mit ihrem Rollator so eilig sie kann zurück in den Speisesaal steuert, als genau dieser Song im Radio läuft. Sie gerät dabei ins Schwärmen: „Diese Musik finde ich so toll! Dazu haben wir getanzt früher!“
„In the mood“ finden alle richtig gut, sie kennen die Melodie; im Übrigen enthalten recht viele Erfolgsschlager aus den 1950er und 1960er Jahren Swing-Elemente, so daß hier nichts gänzlich Unvertrautes oder Schräges die Ohren meines Publikums verwirrt. Tatsächlich gefällt der Swing-Sound einer Bewohnerin, Frau H. aus der „Tagesgruppe“, so gut, dass sie mit Oberkörper, Armen und Händen mitgeht und im wahrsten Sinne des Wortes mitschwingt.
Das allerdings ruft ihre Sitznachbarin, Frau B., auf den Plan. Die hat schon eine ganze Weile mit wachsendem Unmut Frau H.s Sitztänzchen beobachtet und kann nun nicht mehr an sich halten: „Lassen Sie mal den Unsinn. Müssen Sie hier so rumhampeln? Ist ja lächerlich…“, zischt sie Frau H. an. Frau B. ist keine Teilnehmerin der „Tagesgruppe“, sonst hätte sie vermutlich Frau H.s oft spontane und direkte Art gekannt und sich gar nicht erst mit ihr angelegt.
Frau H., die wegen ihrer durch die Demenz verursachten Angst- und Verwirrtheitszustände seit kurzem „Bedarf bekommt“ (Pflege-Deutsch für die Vergabe von ruhigstellenden Psychopharmaka „bei Bedarf“), ist zwar etwas verlangsamt und für ihre Verhältnisse ziemlich milde gestimmt, aber keineswegs so sediert, dass sie nicht zu antworten wüsste. Sie mustert ihre Nachbarin erstaunt und sagt: „Was haben SIE denn? Lassen Sie mich in Ruhe!“
Frau B. läßt sie aber nicht in Ruhe und zetert weiter auf sie ein. Um die Sache nicht eskalieren zu lassen, muß ich eingreifen. Ich stelle mich zwischen die beiden und bitte sie, freundlich zu bleiben und jeden so tanzen und sein zu lassen, wie er oder sie es will. Um Frau B. einzubeziehen – ich weiß, dass sie an Depressionen leidet und oft tagelang das Bett nicht verlässt – und ihr einen Ausweg zu bieten, frage ich sie, was sie denn gerne so für Musik hört oder früher gehört hat.
Mit der Frage bin ich allerdings an die Falsche geraten. „Gar keine!“, bescheidet sie mich abschlägig, „ich musste ARBEITEN!“, wobei sie das Wort „arbeiten“ betont wie eine abscheuliche Krankheit. Hinter ihren Worten sind die Bitterkeit und der entgangenen Spaß am Leben zu spüren. Ich starte einen Versuch, sie vorsichtig in sanfteres Fahrwasser zu bringen und frage, ob sie bestimmte Lieder oder Musik gut fand, als sie jung war, tanzen ging und verliebt war… vielleicht die Musik, die sie beim ersten Kuss gehört hat, denn an die erinnert man sich gern (falls dabei Musik lief). Das kennen die meisten und nicken zustimmend.
Frau B. entgegnet, schon etwas milder, aber immer noch mit einer unterschwelligen Jahrzehnte alten Bitterkeit: „Das war doch Sünde! Das hat doch der Pfarrer verboten!“. Ich kenne ihre persönliche Geschichte nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass sie als junge Frau genau diese bigotte christliche Frömmelei, diese kranke Repression menschlicher Zuneigung und Sexualität erfahren hat und davon bis heute geprägt ist.
Ich bedränge sie nicht weiter mit diesem Thema und spiele zur Versöhnung aller mit allen – außer der Schmalz-Allergikerin Frau K. – einige unserer Standardschnulzen aus den goldenen Fünfzigern und Sechzigern. Das heißt, ich spiele sie nicht einfach ab, sondern lasse meine Leute anhand meiner Zeichnungen raten, welches Lied als nächstes dran kommt. Seefahrtslieder, die oft von Sehnsucht, Heimweh und Verlorenheit in der Fremde singen, sind aus naheliegenden Gründen sehr beliebt bei dementen Menschen, und so erklingt zunächst mal „Wolken, Wind und Wogen“ und „Heimweh nach St. Pauli“ von Freddy Quinn. Die melancholische Melodie des ersten Liedes in Verbindung mit seinem leicht unheimlichen Text („Was das Meer genommen gibt es nie zurück“) scheint auch Frau B. zu gefallen, denn sie hat ihre Nachbarin in Ruhe gelassen, schließt die Augen und wiegt ganz vorsichtig ein bißchen den Kopf dazu.
Um auch Frau K. mit der Schmalz-Aversion zu signalisieren, dass sie gehört und gesehen wird, erinnere ich an die 1950er Jahre, in denen die Musik entstand, die als Vorläufer und Wegbereiter der ganzen nachfolgenden Pop- und auch Schlagermusik gelten kann. Und welche Musik war das? Rätselraten bei meinen Zuhörern. Als ich aber die Namen der bekanntesten Protagonisten nenne, strahlt Frau K. und ruft „RockˋnˋRoll!!“ in die Runde.
Rock‘n‘Roll ist die Musik der Jugendzeit dieser Generation und überfordert auch die Schlagerfans nicht musikalisch. Zu den Klängen von Bill Haley’s „Rock around the clock“ nähern wir uns dem letzten Teil unserer heutigen Runde – die Mittagszeit naht. Für mein schlagerseliges Klientel ist Rock’n’Roll allerdings nicht einfach zu schlucken – egal ob sie alle in ihren Teenager- oder Twen-Jahren waren, als dieser Sound neu war. Ich merke, dass einige überhaupt nichts damit anfangen können und dass auch diejenigen, die die Musik eigentlich gut finden, wegen der englischen Texte nicht mitsingen können – was sie aber gerne würden.
Darum schlage ich jetzt noch einen Bogen bzw. einen Haken zum Schlager und erzähle ein bißchen was über einen weiteren Schmalz- und Schnulzenkönig der deutschen Schlagerwelt und dessen tragisches Ende. Ich lasse die Gruppe raten, mit welcher dänischen Sängerin ein gewisser Ludwig Franz Hirtreiter (so sein legaler Name) unter dem Künstlernamen Rex Gildo ein Lied über einen Stadtpark mit ausgefallener Straßenbeleuchtung zum Besten gegeben hat. Kein Problem für die versierten Schlagerexperten meiner Runde – ich habe kaum die Mauer des Stadtparks und die Laternen fertig skizziert, schon kommen aus verschiedene Richtungen die richtigen Antworten!
Mit dem schönen zweistimmigen Gesang des Duos Rex Gildo/Gitte Haennig und dem positiven und rebellischen Text des Liedes „Vorm Stadtpark die Laternen“ – der Text bricht eine Lanze für die Liebe ohne Kompromisse mit Neidern und Besserwissern – klingt die Runde aus. Noch eine halbe Stunde bis Mittag, und die brauche ich für Abbau und Rücktransport meines Equipments und für die unumgängliche Dokumentation.