Geschichten aus dem Pflegeheim: Ferdinand das Fischstäbchen

Es gibt zum Glück noch etwas anders als Krieg und Russophobie. Im Pflegeheim läuft zwar bei den meisten Bewohnern fast pausenlos der Fernseher, aber nicht wegen der Ukraine, sondern aus Gewohnheit.

Den wenigen Orientierten unter der Bewohnerschaft mag das westliche Propaganda-Narrativ vom aggressiven, bösen Russen einleuchten – die Dementen jedoch sind aus dem Spiel raus; Politik ist für sie nur eine der vielen seltsamen und unverständlichen Erscheinungsformen in ihrer stetig rätselhafteren, unbegreiflicheren Welt.

So widmen wir uns heute in der „Tagesgruppe Demenz“ dem Potpourri aus Liedern, Geschichten und Bildern, das – wenn ich für den Vormittag verantwortlich bin – immer spontan entsteht und meistens vom Hölzchen aufs Stöcken kommt.

Weil Freitag ist (schon allein aus dieser Tatsache kann man mit etwas Fantasie eine ganze Raterunde aufziehen) kommen wir schnell auf das diakonieübliche Mittagstisch-Angebot, nämlich Fisch. Schon die spannende Frage, was für Fisch es denn heute gibt, beschäftigt uns einige Minuten. Ein Kundschafter des Essens wird zur Wohnbereichsküche entsendet und soll den heutigen Speiseplan möglichst komplett in Erfahrung bringen. Keine leichte Aufgabe bei zwei Menüs samt Vorspeise und Nachtisch!

Diese verdeckte Ermittlung benötigt speziell geschulte Einsatzkräfte, weshalb wir auf die FSJler verfallen, die ich als Assistenten in der Tagesgruppe habe. Kurze Zeit später meldet unser Kundschafter Vollzug: es gibt tatsächlich Fisch (Überraschung!) und als Vorspeise eine Fischsuppe! DAS ist jetzt tatsächlich eine Neuigkeit, die erstmal verdaut und diskutiert werden muss. Es gibt bei den Bewohnern Suppen-Fans und Suppen-Gegner, aber bei der Aussicht auf Fischsuppe sortieren sich die Fronten neu.

Das allgemeine fischige Thema ist nicht schwer zu erweitern auf die erstaunlichen Geschichten, die es über das Meer im allgemeinen und einige der darin herumschwimmenden Fische im speziellen zu erzählen gibt.

Zunächst mal das erstaunliche Leben von Fred, dem rosa Fisch, der von all seinen Fischkumpels gedisst wird, weil er nicht nur rosa ist, sondern auch noch lila Punkte hat. Er fristet ein ziemlich trauriges Außenseiterdasein in seiner Fischgruppe, alle machen sich lustig über sein Aussehen – dabei ist er wunderschön anzusehen Mut seinen schillernden Farben, im Gegensatz zu seinen langweiligen Fischgenossen die bloß langweilig silbergrau sind.

Der Grund natürlich: die Langweiler und Spießer sind nur neidisch auf Fred! Deswegen machen sie ihn mies und ärgern ihn. Solches Verhalten können meine Schützlinge, ob dement oder nicht, jedenfalls nachvollziehen und sympathisieren ordentlich mit Fred.

Da ich sie aber nicht mit einer Geschichte ohne Happy End entlassen will, wird jetzt noch Erwin, der flotte Fisch-Impresario eingeführt. Er kommt zufällig dahergeschwommen, weil er Talente für die große Unterwasser-Show im Fisch-TV sucht, und ein Naturwunder wie Fred kommt ihm da gerade recht. Zufällig kann Fred auch schön singen – onomatopoetische Lautfolgen wie „Hottentotten wetten Motten“ u.ä. sind seine Lieblingslieder (ein Singsang, den die Anwesenden von einem unserer Bewohner, Herrn H. gut kennen).

Erwin der Impresario zückt ein dickes Bündel Fisch-Euros, heuert Fred für seine Show an und bringt ihn groß raus als Star der Show! Jetzt werden die neidischen Fischgenossen erst recht neidisch, weil Fred es ihnen allen gezeigt hat. Das erfreut auch meine Zuschauer, die schon befürchtet haben, dass der arme Fred unglücklich und ungeliebt alleine weiterschwimmen müsste.

Als die mittlerweile schwerstdemente Frau H., die aufgrund einer Art infantiler Regression sich im Zustand eines dauerunglücklichen nörgelnden Kleinkindes befindet, in einem ihrer lichteren Momente – als wir über Wale sprechen – mit der Reim- und gesungenen Tonfolge „Wal, Wal, Aal, Aal…“ die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ergibt sich die Gelegenheit für eine Größenvergleich zwischen diesen beiden Meeresbewohnern.

Langsam neigt sich der Vormittag seinem Ende zu, und da unser Kundschafter herausgefunden hat, dass es Fischstäbchen zu Mittag gibt, breite ich vor meiner faszinierten Truppe noch das bizarre Leben von Ferdinand dem Fischstäbchen aus: es durchschwamm die Weltmeere jahrelang, ohne von einem der Fischkutter Käpt’n Iglos gefangen zu werden. Ferdinand war nämlich ein schlaues Kerlchen und wusste aufs Geschickteste, Schleppnetzen und Angeln auszuweichen.

Auch als Elise, das schwarzhaarige Mädchen an der neufundländischen Küste, ihre Angel ins Wasser hielt um zum Muttag Fischstäbchen zu fangen, ließ Ferdinand sich nicht aufs Glatteis bzw. zum Anbeißen locken. Sowieso, sind wir uns einig, wäre Ferdinand viel zu groß und schwer gewesen als dass Elise ihn hätte herausziehen können.

Wir überlegen noch eine Weile, wie Elise sich mit so einem dicken Brocken am Haken angestellt hätte, kommen aber zu keinem Ergebnis, denn schon ertönt vom Gang her das vertraute Scheppern des Essenswagens und das Highlight das Tages beginnt: das Mittagessen!