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Anstelle eines Lebenslaufes

Als Heranwachsender in einer aus der Arbeiterklasse in die bürgerliche obere Mittelschicht aufgestiegenen Familie konnte ich weder mit den Werten meiner Eltern etwas anfangen noch meinen Platz in der Gesellschaft sehen und finden, in der sie und alle anderen sich scheinbar so zuhause fühlten.

Ich durchlief die Schule, bestand mit sowenig Aufwand wie möglich das Abitur und begann – mangels anderer Ideen und unter Ausnutzung einer gewissen künstlerischen Begabung – ein Grafik-Studium, das ich ganze drei Semester durchhielt. Von da an reihte sich ein Gelegenheitsjob an den nächsten, darunter auch hochkarätige bzw. besser bezahlte, als ich einige Jahre für einen Versicherungskonzern (u.a. in Portugal) tätig war.

Im Grunde war aber mein ganzes Leben, und darin insbesondere die Gelderwerbstätigkeiten, nur die Kulisse meiner Selbstfindungsversuche. Es spielte keine Rolle, womit ich Geld verdiente, solange ich in meinem selbstgewählten Lebensumfeld, das der Alternativentwurf zur Monotonie der bürgerlichen Tristesse sein sollte, bleiben und meine Suche nach der Wahrheit des Ganzen fortsetzen konnte.

Für die kapitalistische Version der Normalität hegte ich schon immer tiefste Verachtung, aber auch die sozialistische Variante war mir wegen ihrer Spießigkeit und Beengtheit ein Graus, auch wenn ich für ihre sozialen Errungenschaften Respekt empfand. Ein Staat allerdings, in dem es keinen Raum für gute Musik, gute Drogen und die Erforschung des menschlichen Geistes gab, erschien mir nicht wünschenswert. Das galt zwar auch für die BRD, aber im sozialistischen Staatswesen im Osten vermutete ich noch weniger Verständnis für mein dringlichstes Anliegen: die radikale individuelle Freiheit zur Sinnsuche in alle Richtungen.

Als in den 1970er-Jahren im BRD-Kapitalismus sozialisierter Jugendlicher konnte ich also gar nicht anders, als in den 1980ern beim Guru in Indien bzw. in Oregon, USA, zu landen. 

Die Suche schien erfüllt, der Sinn sich in realer Gestalt vor mir zu manifestieren und ich blieb diesem mystischen Ort – in Oregon, in Poona, in Wahrheit aber in mir selbst – bis in die 2000er-Jahre treu. In all der Zeit spielte die berufliche Tätigkeit eine völlig untergeordnete Rolle, nämlich die des Gelderwerbs für den höheren Zweck: der Reise nach Innen und zur Erfüllung meiner menschlichen Bestimmung, der Erleuchtung und des ewigen Glücks.

Es war mir im Grunde egal, womit ich Geld verdiente, Hauptsache es reichte irgendwie, um meinem eigentlichen Streben nachzugehen. Im selben Maße, wie der Job irrelevant war (von „Beruf“ konnte und wollte ich noch nicht mal sprechen; normale bürgerliche Erwerbsbiographien mit ihrem erbarmungswürdigen Stolz auf irgendwelche Ausbildungen und Karrieren erschienen mir lächerlich und unwesentlich im Vergleich zu den hohen und hehren Anliegen, denen ich mich verschrieben hatte!), war mir auch das Gefüge der äußeren Welt egal, die soziale Struktur der Klassengesellschaft, die Einteilung in Herrschende und Beherrschte, in arm und reich usw. 

Mein Fokus war nahezu ausschließlich bei der INNEREN Wirklichkeit, alles Äußere reduzierte sich in meiner Wahrnehmung auf eine kontinuierliche Fata Morgana illusionärer Erscheinungen, die ernst zu nehmen nur weltliche Narren fertigbrachten.

Das änderte sich erst mit dem Quereinstieg in ein Berufsfeld, das – wie sich herausstellte – sowohl meiner „sozialen Ader“ wie meinen künstlerischen Neigungen Raum zur Entfaltung bot: der sozialen Betreuung alter und dementiell veränderter Menschen, insbesondere der künstlerischen bzw. kunstgeragogischen Tätigkeit mit ihnen. Zum ersten Mal spürte ich in ganz normaler (Lohn-)Arbeit einen Sinn. Erst durch diese konkrete Arbeit mit und für Menschen, die auf Hilfe durch Dritte angewiesen sind, öffnete sich für mich der Zugang zu der Realität der wirklichen sozialen – und damit menschlichen – Sphäre der bestehenden Gesellschaft. Damit natürlich auch der unmittelbare Einblick in diejenigen Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion, die sich dem unerbittlichen Gesetz der Verwertbarkeit teilweise entziehen und vom bürgerlichen Staat als Kostgänger der Kapitalakkumulation durchgefüttert werden müssen. 

Mit der Einbindung in ein Berufsfeld, das mir entspricht, in dem ich mich wohl fühle, und in dem ich die paar Fähigkeiten und Begabungen, die mir in die Wiege gelegt wurden – plus diejenigen, die ich mir angeeignet habe – nutzbringend für andere einsetzen kann, hat sich mein Blick auf das Verhältnis Individuum/Gesellschaft, Einzelner/Kollektiv gewandelt. Nicht in dem Sinne, dass jetzt die Gesellschaft, das Kollektiv „wichtiger“ als der Einzelne geworden wäre, sondern dass endlich eine Balance eingetreten ist, eine Balance jedenfalls in meiner inneren Wahrnehmung. 

Beide gehören zueinander. Sie sind komplementär, sie bedingen sich gegenseitig. Mir wurde die Täuschung klar, die darin liegt, die gesellschaftliche Wirklichkeit auszublenden zugunsten einer inneren Erforschung; eine Erforschung, die für ein menschliches Wesen wichtig und erforderlich ist, die aber nicht die Einbettung des Individuums in den sozialen Verbund ignorieren darf (was sie in meinem Fall mit Gewissheit tat). Auch das reflexionslose Mitmachen im sozialen Räderwerk einer gegebenen Gesellschaftsordnung gehört übrigens zu dieser einseitigen Ignoranz; das Individuum muss die Gesellschaft radikal in Frage stellen und die Gesellschaft muss dem Individuum insoweit Schranken setzen, als niemand sich auf Kosten anderer bereichern und, ja, „selbst verwirklichen“ kann.