Geschichten aus dem Pflegeheim: Immersion

Ich hab schon oft über den Zusammenhang von Demenz und künstlerischem Ausdruck durchs Aquarellieren geschrieben. Ich will mich nicht wiederholen, nur diese Bilder der dementiell stark veränderten Frau S. zeigen. Die Farbigkeit und Intensität der Aquarelle sprechen für sich – Frau S. kann es nicht mehr; aber ihr ist die Freude anzumerken, mit der jeder Pinselstrich und jede neue Farbe ihre Immersion in den Vorgang des Malens vertieft.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Verloren in einem unendlichen Universum unerklärlicher Manifestationen


Die stille, zurückhaltende, fast schüchtern wirkende Frau S. kommt seit einigen Monaten in meine Mal- und Kreativrunde. Wobei „kommt“ leicht übertrieben ist, denn von alleine kommt sie nirgendwo hin. Einmal weil sie im Rollstuhl sitzt, zum anderen (und im wesentlichen) weil sie aufgrund ihrer Demenz keinerlei Antrieb hat und zeitlich wie räumlich stark desorientiert ist.

Sie antwortet immer mit einem freundlichen „Ok!“ oder „Ja, gerne!“, wenn ich sie frage, ob sie wieder mit zum Malen kommen möchte; außerdem ist ihr in der Gruppe anzumerken, dass sie Freude im Umgang mit den Farben findet, die sie auf das feuchte Aquarellpapier tupft und pinselt.

Bei den letzten drei, vier Treffen allerdings ist mir aufgefallen, dass Frau S. kognitiv immer weiter eingeschränkt und verlangsamt wirkt. Ohne direkte Anleitung bei jedem Handgriff, bei jedem Arbeitsschritt, bleibt sie einfach auf ihrem Platz sitzen und blickt auf Material und Utensilien als handele es sich dabei um außerirdische Artefakte, deren Wesen und Bestimmung sich menschlichem Verständnis komplett entziehen. Wenn sie dann, nachdem ich bis zum Pinsel-in-die-Farbe-tunken ihr alles „mundgerecht“ eingerichtet habe, ins Malen kommt, erinnert sie an einen batteriebetriebenen Gegenstand, der am Anfang noch mit etwas Restladung ruckelt und zuckelt, dann immer langsamer wird, bis er zum Schluß ganz zum Stillstand kommt.

Auch heute wieder beginnt sie einigermaßen schwungvoll, malt Farbe auf das Blatt und bleibt dann mit dem Pinsel in der Hand sitzen, als hätte ihr jemand den Stecker gezogen. Ich lasse sie eine weitere Farbe aussuchen, tauche ihr den Pinsel in das Farbtöpfchen ein und überlasse sie ihrem Aquarellbild. Nach einer Weile schaue ich wieder nach ihr; sie hat tatsächlich ein bißchen weitergemalt, sitzt aber erneut wie in Trance vor ihrem Bild. „Na, Frau S., wie sieht’s aus? Wollen Sie noch einen neuen Bogen Papier?“ frage ich sie. Zu meinem Erstaunen antwortet sie: „Nein, ich möchte an diesem Bild weiter malen!“

Nach etwa zehn Minuten als ich erneut nach ihr schaue, wirkt sie besorgt und etwas beunruhigt. Sie sagt zu mir „Ich weiß ja nicht, wie ich von hier wieder dorthin komme, wo ich hin muss. Also dahin, wo ich wohne.“ Dabei schaute sie mich mit einem Ausdruck äußerster Verlorenheit und Desorientiertheit an. Ich spüre ihre essenzielle Unsicherheit und Ratlosigkeit in diesem für Sie unerklärlichen Universum, in dem sie sich – wie von der Hand eines ungnädigen Gottes abgesetzt – wiederfindet wie in einem Irrgarten, dessen Sinn und Zweck ihr rätselhaft sind und bleiben.

„Keine Sorge, Frau S.“, antworte ich ihr. „Ich bringe Sie dahin, wo sie jetzt wohnen. Sie wohnen ja jetzt bei uns hier, im Stift, nicht mehr in ihrer früheren Wohnung. Deswegen kommt Ihnen das alles manchmal so komisch vor…“. Dass ich ihre Verwirrung und Verlorenheit bemerke, anerkenne und darauf eingehe, erleichtert meine Gesprächspartnerin schon mal ein wenig. Sie erzählt mir ihre Sorge, dass „die Leute, die bei mir wohnen und die mich immer besuchen“ nicht wissen, wo sie ist und sie deswegen nicht finden können. Sie fragt sich bzw. mich, welche Verkehrsmittel sie benutzen müsse, um zu „diesen Leuten“ zu kommen. Damit meint sie ihre Söhne und ihre Schwiegertöchter, die nicht weit entfernt wohnen und von denen sie einigermaßen regelmäßig besucht wird.

Ich bringe Frau S. erstmal wieder in ihren Wohnbereich und erkläre ihr nochmal in kurzen, einfachen Worten und Sätzen, dass dies jetzt ihr Zuhause ist. Ich sage ihr, dass ich sehr gut weiß, dass das NICHT ihr Zuhause von früher ist, dass es aber für sie einfacher ist, hier zu leben, weil sie sich selber nicht mehr versorgen kann.  Wir alle würden uns darum kümmern, dass sie sich hier wohl fühlt und alles bekommt, was sie braucht, versichere ich ihr.

Weil ich merke, dass sie im Moment alles überfordert und zu viele Sätze für sie eine Informationsüberlastung bedeuten, die sie nicht verarbeiten kann, schiebe ich sie in ihrem Rollstuhl den Gang zu ihrem Zimmer entlang. Ich zeige ihr die Tür, an der ihr Name steht, fahre mit ihr ins Zimmer hinein und wieder hinaus und bringe sie zurück in den Gemeinschaftsräume des Wohnbereichs, wo schon das Abendessen vorbereitet wird.

Das entspannt sie fürs erste, doch nach einer Weile winkt sie mich mit sehr besorgtem Gesichtsausdruck wieder zu sich: „Wie kann ich denn wissen, wie ich da hin gelange, wo die wohnen?  Ich brauche doch irgendeine Sicherheit, dass die mich finden…“, teilt sie mir ihre innere Not und Furcht mit, dass die Reste der familiären emotionalen Verbindungen, die ihrem dementiell veränderten Gehirn noch zugänglich sind, auch noch verloren gehen. 

Hier helfen jetzt nur noch praktische Maßnahmen, die einem dementen Menschen zugänglich und verständlich sind. Ich erkläre Frau S., dass ich mich jetzt persönlich darum kümmern würde, dass sie und ihre Verwandten immer zueinander finden. Die Sicherheit, die sie – ohne dass sie es so formulieren oder auch nur denken könnte – zurecht bedroht sieht durch den Fortschritt der Demenz, muss dieser in einem unüberschaubaren, unerklärlichen Universum verlorenen Frau vermittelt werden durch ganz simple und handfeste Dinge oder Zeichen. Ich gehe ins Büro, rufe mir am PC ihre Datei auf und notiere Namen, Adressen und Telefonnummern ihrer beiden Söhne auf zwei Zettel. Diese nehme ich wieder mit nach oben in den Wohnbereich und lege sie Frau S. links und rechts neben ihren Abendbrotteller.

Ich lese ihr die Namen ihrer Söhne vor, sie nickt und seufzt erleichtert auf. „Ach ja, genau, das sind sie!“ Irgendetwas scheint auf seinen Platz zu fallen in ihrem inneren Durcheinander und die ganze Frau wirkt etwas gelöster und ruhiger als zuvor. Vielleicht hat sie jetzt das Gefühl, dass die Sicherheit, die die Verbindung zu ihrer Familie für sie darstellt – oder dargestellt hat – noch nicht ganz dahin ist und dass es auch in diesen neuen, veränderten, unerklärlichen Umständen, in denen sie sich hier wiederfindet, eine Verbindung zum Kern ihrer Erinnerungen existiert.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Aquarell und Demenz

Seit einiger Zeit kommt die stark demente Frau S. in die Malgruppe. Irgendwann habe ich sie einfach mitgenommen – kein großes Problem bei ihr, sie sagt zu beinahe allem Ja. Allerdings sonst so gut wie gar nichts. Bei ihrem ersten Besuch in unserer „Mal- und Kreativrunde“ hatte sie einen Sitznachbarn beobachtet, der mit Aquarellfarben malte und spontan geäußert, das sie so etwa auch mal ausprobieren wolle. Ein Satz von dieser Länge war und ist für Frau S. in etwa so wie eine stundenlange Ansprache für einen orientierten Menschen.

Jedenfalls hat sie Gefallen gefunden am Malen mit den Aquarellfarben und sie scheint sich daran zu erinnern, dass sie Montags immer malen geht. Sicher bin ich mir da aber nicht, da sie auf die Frage, ob sie weiß, dass sie schon öfter beim Malen war, gewohnheitsmäßig „Ja“ antwortet. Wenn sie an ihrem Platz sitzt und wir ihre Bilder aus ihrer Mappe hervorholen, wirkt sie allerdings so, als ob sie wüsste, dass sie es war, die diese Bilder gemalt hat.

Den Vorgang selber hat sich ihr dementiell verändertes Gehirn so gut eingeprägt, dass Frau S. die Abläufe nahezu fehlerfrei abrufen kann: Wasser auftragen, Pinsel in die Farbe tunken, malen – all dies gelingt ich nach einer kurzen Einführung erstaunlich gut. Das ist für demente Menschen beileibe keine Selbstverständlichkeit; schon mal gar nicht für stark demente Personen wie Frau S.

Man merkt ihr an, wie sie das Spiel der Farben auf dem genässten Papier genießt und sich daran erfreut, wie die Farbe verläuft, wie sich Formen und Gestalten bilden, wie die unterschiedlichen Farbstärken mäandern und ineinander übergehen. Ab und zu greife ich behutsam ein und mache ein paar Vorschläge – zum Beispiel ermutige ich Frau S., weitere Farben zu verwenden; sie würde sonst bei der Farbe bleiben, in die sie zuerst ihren Pinsel getunkt hat.

Heute hat sie sich selbst übertroffen und mit hingebungsvoller Konzentration eine ganze Reihe Bilder gemalt, fast alle in Blau-Grün-Tönen. Wenn sie so weitermacht, können wir demnächst eine Ausstellung nur mit ihren Werken bestreiten!

Volkskrankheit Demenz: Der „Präsident“ der USA

Ein demenzkranker alter Mann, missbräulich von seinen politischen Strippenziehern als „Präsident“ eingesetzt, wendet sich nach dem Ablesen vom Teleprompter bzw. dem Nachsprechen der Stimme aus dem Knopf in seinem Ohr ins Leere, um dort Hände zu schütteln.

An soviel kann er sich in seiner Desorientiertheit noch erinnern: wenn man aufgesagt hat, was einem ungetragen wurde, muß man wichtigen Menschen in der näheren Umgebung die Hand geben.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Das Katzentaxi

Seit Anfang November gibt es wieder die „Tagesgruppe Demenz“ für die Mehrzahl derjenigen Bewohner des Wohnbereiches (plus zwei weitere von anderen Wohnbereichen), die eine „offizielle“ Demenzdiagnose haben. Die Leute freuen sich darüber, wieder in der familiären Atmosphäre der vertrauten kleinen Runde gesellig und gemütlich Zeit zu verbringen und „etwas geboten“ zu kriegen.

Wie in jeder Familie gibt es natürlich auch in unserer Runde unterschiedliche Charaktere, die nicht immer miteinander harmonieren, die aber irgendwie unter einen Hut gebracht werden müssen, damit die Gruppe „funktioniert“.

Eine Teilnehmerin aus dem Wohnbereich 1, Frau B., hat in der langen „Tagesgruppen“-Pause anscheinend zunehmend begonnen, mit ihrem körperlichen und mentalen Schicksal zu hadern. An buchstäblich jedem Vormittag kann man sie spätestens ab 10:00 klagen hören, dass sie „nach Hause möchte“ und „nicht mehr kann“.

Nun ist das bei dementiell veränderten Menschen nichts Ungewöhnliches; das Bedürfnis, die innere Verlorenheit und fortschreitende Auflösung der Gedächtnisinhalte kompensieren zu wollen, drückt sich sehr häufig in der Sehnsucht nach dem Ort in Zeit und Raum aus, an dem noch alles in Ordnung war: zuhause eben. Das Pflegeheim, das faktisch ja das jetzige Zuhause ist, wird von keinem meiner Leute als „zuhause“ empfunden. Einem dementen Menschen braucht man gar nicht erst mit „Aber Frau Sowieso, Sie sind doch jetzt HIER zuhause!“ und ähnlichen Floskeln zu kommen. Neben verständnislosen Blicken erntet man auf solche Versuche mitunter Bemerkungen wie „Nee, ZUHAUSE meine ich, da wo meine Eltern sind…“

Frau B. jedenfalls ist alle zwei bis drei Minuten mit dem Satz zu vernehmen „Ich kann nicht mehr!“, ersatzweise „Ich will nach Hause“. Dass diese Stoßseufzer keine konkreten, zielgerichteten Wünsche sind, merkt man daran, dass Frau B. – wenn man ihr anbietet, sie zurück in ihren Wohnbereich zu bringen – entschieden ablehnend reagiert. Sie weiss ziemlich genau, dass die Alternative zur „Tagesgruppe“ in langweiligem Alleine-im-Zimmer-sitzen besteht, und das will sie auf gar keinen Fall. Außerdem ist sie, entgegen dem äußeren bzw. hörbaren Anschein, sehr gerne in der Gesellschaft der anderen und braucht geradezu die Aufmerksamkeit, die ihr durch ihr Dauerlamento zwangsläufig zuteil wird.

Heute allerdings überspannt sie den Bogen deutlich. Ihre Sitznachbarin Frau Sch., ansonsten als ostpreußische Landsmännin eine geschätzte Gesprächspartnerin, wendet sich entnervt ab und murmelt gelegentlich „Das hält ja keiner aus…“ oder „Wie oft will die das denn noch sagen??“.

Frau Sch. jedoch ist eine zurückhaltende, freundliche Person; Frau H. dagegen, die Frau B. gegenüber sitzt, nimmt erstens selten ein Blatt vor den Mund und fühlt sich zweitens massiv in ihrer – wohl medikamentös verursachten – vormittäglichen Schläfrigkeit gestört.

Es entspinnt sich, nachdem Frau B. zum gefühlt fünfzigsten Male „Ich will nach Hause!“ gestoßseufzt hat, folgender Dialog:

Frau H.: „Jetzt halten Sie doch mal endlich die Klappe!“

Frau B. (unbeeindruckt): „Ich kann nicht mehr, ich will nach Hause…“

Frau H.: „Geben Sie doch mal Ruhe! Oder GEHEN sie nach Hause! Gehen Sie zu Fuß oder nehmen Sie sich `n Taxi…“

Frau B. (verdutzt): „ Ne Katze??“

Frau H.: „Ja!“

Frau B.: „Ne Katze? Ich bin doch nicht bescheuert!“

Frau H. „Doch, sind Sie!“

Inzwischen haben alle gebannt den Schlagabtausch mitverfolgt und müssen über das akustische Missverständnis lachen. Die halbe Stunde bis zum Mittagessen überbrücke ich mit einer Ordensverleihung an Frau B.: sie hat sich nach unser aller Auffassung den IKNM („Ich kann nicht mehr“)-Orden am laufenden Band redlich verdient und erhält ihn in einer kleinen Zeremonie mit Malerkreppband an die Bluse geheftet.

Der Applaus der anderen Teilnehmer stimmt sie etwas milder und wir hören, bis die Teller auf dem Tisch stehen, nur noch etwa fünf oder sechs Mal eine ihrer beiden Wehklagen.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Der Kartoffelkäfer hätte keine Heimat mehr

Letztes Blatt aus dem „Ich male Peter-Hacks-Gedichte“-Zyklus. Meine überwiegend demente Zuhörer- und Zuschauerschaft sitzt schon in erwartungsfroher Antizipation im Speisesaal des Wohnbereiches, als ich mit Flipchart und Stiften anrücke. Zur Einstimmung hören wir wieder die schwungvolle Vertonung des Gedichtes, eingespielt von „Simone und den Kita-Fröschen“; jeder kann mittlerweile mitsingen und freut sich an dem lustigen Gedicht, dem frechen Zeisig und der beleidigten Tanne.

Da das Bild zu malen länger dauert als die zwei oder drei Minuten des Liedes, lasse ich die Playlist („Die 30 schönsten Herbstlieder“) weiterlaufen. Kurze Zeit später hören wir den „Kartoffel-Song“, der meine Truppe zu allerlei Erinnerungen und Geschichten von früher anregt: jeder zweite hat in der unmittelbaren Nachkriegszeit dieselbe Erfahrung gemacht, die ich ich von meinen eigenen Eltern und Großeltern gehört habe, dass man nämlich zur Nahrungsbeschaffung auf die abgeernteten Kartoffelfelder geht (oder geschickt wird), um die übrig gebliebenen kleinen Kartoffeln zu sammeln.

Jedenfalls singt Simone mit ihren Kita-Fröschen: „Wenn die Kartoffel nicht wär, dann wär die Pommesbude leer und der Kartoffelkäfer hätte keine Heimat mehr..“ und ruft damit umfangreiche Debatten unter meinen Leuten hervor. Den Kartoffelkäfer kennen sie nämlich als üblen Schädling; fast alle haben Nebenerwerbslandwirtschaft betrieben und können erstens ein Lied vom Kartoffelkäfer singen (was sie gerade tun, zur eingängigen Melodie des Kartoffel-Songs) und zweitens auch den Kartoffelkäfer ziemlich genau beschreiben.

So kann ich das Bild noch um einen netten kleinen (bzw. ziemlich groß geratenen) Kartoffelkäfer ergänzen, der sich an einer Kartoffel (woran sonst) gütlich tut. Der Vormittag ist gerettet, die Zeit wie im Fluge vergangen und schon hört man vom Gang her das Geschepper des Essenswagens. Heute gibt’s Hähnchen mit Reis, keine Kartoffeln.

Geschichten aus dem Pflegeheim: der freche Zeisig kriegt auch was ab und der Junge kommt bald wieder

Dritte Bunte Herbstrunde mit Peter Hacks Gedicht „Der Herbst steht auf der Leiter“. Zur Einstimmung hören wir noch mal die Vertonung in der Version von „Simone Sommerland und den Kita-Fröschen“.

Mittlerweile können einige schon mitsingen und freuen sich vor allem an den mittleren Versen von frechen Zeisig und der beleidigten Tanne.

Da wir ja bereits den letzten und den ersten Vers (in dieser Reiehenfolge) bildlich und musikalisch ausgiebig gewürdigt haben, ist nun der zweite Vers dran. Der freche Zeisig stellt uns bzw. mich erstmal vor Herausforderungen künstlerischer Art: ich habe keine Ahnung, wie so ein Vogel aussieht.

Natürlich könnte ich schnell „Zeisig“ googeln (was ich schließlich auch tue), aber zunächst frage ich mal meine Runde, ob sie weiß, was für ein Kamerad so ein Zeisig ist. Man rätselt hin und her und neigt schließlich mehrheitlich zu der Meinung, dass sich „Zeisig“ irgendwie anhört wie „klein, witzig und irgendwie so wie ein Spatz oder ein Zaunkönig“.

Das passt ja, und nach kurzem Blick in die Bildergebnisse bei der Google-Suche für „Zeisig“ male ich einen ziemlich fetten Zeisig auf den Zweig neben die Blätter, die der Herbst auf seiner Leiter gerade anmalt. Allerdings ist unser Zeisig, der natürlich grundsätzlich ähnlich rotzfrech ist wie ein Sperling, in diesem Fall eher von der faulen Sorte. Er kriegt den Klecks vom Herbst ab, weil zu faul zum Wegfliegen ist.

Hintergrund dieser Abweichung vom Gedichttext: der Zeisig hatte schon reichlich von den Wintervorräten gefressen und wollte jetzt auf dem Ast sein Verdauungsschläfchen halten, was meinem mittagsschlafgewöhnten Publikum auf Anhieb einleuchtet.

Jetzt müssen wir noch die Kleiderfrage des Herbstes klären, denn ein Herbst kann nicht in irgendwas rumlaufen, sondern muss im standes- und saisongemäßen Outfit auftreten. Ein Hut ist schon mal gut, aber er darf nicht zu bayerisch bzw. tirolerisch aussehen, sonst müssten wir gleich wieder Billy Mo‘s beliebten All-Time-Klassiker von 1962, „Ich Kauf mir lieber einen Tirolerhut“ spielen und singen, den DEN kennt jeder hier auswendig.

Deswegen, weiß die Runde, darf der Hut nicht grün sein, denn dann wäre er ein Tirolerhut. Gut, der Hut wird ein grauer Filzhhut mit Herbstblättern statt mit Gamsbart. Der Mantel allerdings darf nach einem Vorschlag aus der Runde gerne grün sein, nämlich ein Lodenmantel. Der lila Schal ist ein Selbstgänger; jeder weiß, dass es im Herbst kühler wird und ständig zieht.

Begleitend von einem Potpourri aus Herbst- und weiteren Volksliedern wird das Bild beendet und zum Schluss der Runde aufgehängt. Jetzt fehlt nur noch der Vers von der beleidigten Tanne; mein Lieblingsvers und zeichnerisch am leichtesten zu bewältigen.

Zum Abschied frage ich meine Truppe, welches Lied sie sich als letztes wünschen. „Junge, komm bald wieder!“ ertönt es aus der Gruppe. „Damit du bald wieder kommst!“

Ich bin gerührt und geschmeichelt und verabschiede mich mit Freddys Top-Hit von meinen betagten Fans.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Bundestagswahl entschieden!

„Tagesgruppe Demenz“: nach dem Frühstück unterhalten wir uns, wie wir den gemeinsamen Vormittag gestalten wollen. D.h. ich frage – mehr aus rhetorischen Gründen – meine Truppe, wonach ihnen heute zumute ist. Meistens kommen dann Antworten wie „uns unterhalten“ oder „singen“. Alles andere ist zu weit „draußen“, außerhalb des Zugriffs eines dementiell veränderten Gehirns, und muß, wenn schon, als Anregung von mir kommen.

„Wir könnten ja mal wieder ein schönes Märchen lesen. Oder eine Zeitung…“, beginne ich, und frage gleich in die Runde, wer von den Anwesenden überhaupt Zeitung liest. Tatsächlich ist eine Dame dabei (allerdings die einzige ohne „offizielle“ Demenz-Diagnose), die sogar die „Rheinische Post“ abonniert hat und täglich Stunden mit dem darin enthaltenen Kreuzworträtsel verbringt.

Das würde sie aber so nicht ohne weiteres zugeben; auf meine Nachfrage, was sie in der Zeitung so liest und warum sie das Blatt abonniert hat, erhalte ich zur Antwort: „Ja, um mich über das Geschehen in der Welt zu informieren, die Nachrichten und so…“.

Schon haben wir unser heutiges Vormittagsthema gefunden und ich frage mal nach, ob jemand weiß, was für ein besonderes politisches Ereignis im September ansteht. Frau N., die RP-Abonnentin, weiß auch wirklich Bescheid und verkündet stolz, dass dann Bundestagwahlen sind.

Damit haben wir einen schönen Aufhänger für weitere Gedächtnistrainings- und Erinnerungsaktivierungs-Einheiten. Da ich lauter westdeutsch sozialisierte Leute vor mir habe, frage ich sie nach den Kanzlern der BRD seit 1949.

An Adenauer kann sich auch jeder erinnern („Adenauer war der Beste!“, stellt Frau Sch. im Ton endgültiger Gewissheit fest, und ringsum erschallt zustimmendes Gemurmel), an Ludwig Erhard grad noch so (ich muss nachhelfen mit dem Hinweis „Der Dicke mit der Zigarre!“), aber den Rest außer der derzeitigen Kanzlerin kennt keiner mehr auf Anhieb. Bei Nennung der jeweiligen Namen fallen ihnen die Kanzler von Kiesinger bis Schröder dann aber doch wieder ein, und es wird sich an das eine oder andere anekdotische Detail erinnert.

Da wir nun schon mal beim Thema sind und Rate-, Gewinn- und Abstimmspiele bei meinen Schützlingen ohnehin beliebt sind, beschließen wir, die Bundestagswahl einfach vorzuziehen und direkt in der Tagesgruppe den nächsten Kanzler (oder die Kanzlerin) zu ermitteln.

Meine Leute sind erfreut über die Aussicht eines hochoffiziellen Wahlvorganges, da sie sonst höchstens Briefwahl machen (de facto nur eine einzige von ihnen, die besagte Frau N.). Ich erstelle also höchst professionelle Wahlzettel mit den drei Kandidaten, nachdem wir vorher aus der Kandidatenfrage wieder ein Ratespiel gemacht haben.

Laschet kennen alle, wohl weil er Ministerpräsidemt in NRW ist und man hier ständig irgendwas von ihm sieht oder hört. Von Baerbock haben ein oder zwei der Teilnehmer schon mal gehört, Scholz dagegen kennt scheinbar keiner.

Ich erkläre also, was sie mit den Wahlzetteln machen müssen, vor allem natürlich, dass diese nach der Wahl zusammengefaltet werden müssen, da es schließlich eine demokratische Wahl ist und damit die Wahl hinterher nicht angefochten werden kann.

Nach einer Weile und etlichen Mühen sind dann alle acht Wahlzettel beisammen und es kann an die Auswertung gehen. Ich verwandle mich flugs in Jörg Schönenborn und kommentiere beim Auszählen der Stimmen bereits aufs Demokratisch-Medialste den Trend und die Wählerwanderungen sowie Rückschlüsse und Koalitionsmöglichkeiten, bedanke mich aber auch namens der Politiker bei allen Wählern; betone, dass bei der Besetzung der Posten selbstverständlich Sachthemen vor Parteienproporz gehen wird und gebe dann „zurück nach Berlin“!

Mein Wahlvolk ist fasziniert und erwartet gebannt die Verkündung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses. Drei der acht Teilnehmer geben trotz meiner Erläuterungen ungültige Stimmzettel ab, entweder weil sie von den Auswahlmöglichkeiten überfordert sind und vorsichtshalber bei jedem Kandidaten ein Kreuz machen, oder weil sie nicht wissen, wenn sie wählen sollen.

Frau P., die den gesamten Vormittag gewohnheitsmäßig in ein- und derselben Position dasitzt und vor sich hinstarrt, kriegt alles mit und überrascht manchmal durch plötzliche Einlassungen, die es in sich haben. Als der Wahlzettel vor ihr liegt und es ans Ausfüllen geht, sagt sie indigniert: „Was soll ich mit dem Blödsinn? Ich hab noch nie gewählt und tu es auch jetzt nicht!“

Das Wahlergebnis selbst ist dann eine handfeste Überraschung. Womit keiner gerechnet hat, tritt ein, und der unbekannteste Kandidat, ein Herr Scholz von der Kleinpartei „SPD“, wird mit klarem Vorsprung neuer Bundeskanzler der BRD!

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das jetzt alten Parteipräferenzen und Wahlgewohnheiten zuzuschreiben ist, oder ob es einfach daran liegt, dass Olaf Scholz ganz unten auf dem Wahlzettel steht und damit für die meisten am einfachsten anzukreuzen ist.

Meine Leute jedenfalls wirken nicht besonders überrascht über das Endergebnis und finden, dass auch mit dem neuen Kanzler alles bestens geordnet ist. Ich kann mich allerdings des Eindruckes nicht erwehren, dass Interesse und Enthusiasmus meiner Gruppe bei der jede Woche einmal anstehenden Wahl der Mittagsmenüs für die kommende Woche deutlich ausgeprägter sind als bei einer letzen Endes doch irgendwie unbedeutenden Bundestagswahl.

Kurze Zeit später sitzen alle beim Mittagessen, und Frau S., die einen leeren Stimmzettel abgegeben hat, vereint sämtliche Anteile ihres Mittagessen zu einer Großen Koalition, indem sie Vorsuppe, Hauptgericht, Joghurt und Pudding kunstvoll durcheinander mischt und sich an den resultierenden Farbeffekten erfreut. „Sehr lecker!“, sagt sie und löffelt zufrieden weiter.

Geschichten aus dem Pflegeheim: So war der Wilde Westen

Das neue Mitglied unserer „Tagesgruppe Demenz“, Frau B., kommt gerne mit Hut in die Gruppe. Sie ist eine kommunikative, aber wortkarge Dame. Sie redet wenig, beteiligt sich aber lebhaft und gestenreich an allen Aktivitäten und Unterhaltungen; besonders liebt sie es, wenn gesungen und geschunkelt wird oder wenn wir kleine gymnastische Übungen machen.

Ihr Hut jedenfalls gibt mir die Vorlage für einen Streifzug durch den Wilden Westen, wo ja bekanntlich alle mit Hüten unterwegs waren. Jedenfalls die Trapper und Cowboys.

Ich ergreife die Gelegenheit, die unglaubliche Geschichte von Trapper Toni zu erzählen (wie alle Geschichten dieser Art entsteht die Story beim Zeichnen). Trapper Toni, ein Vorfahre des nachmaligen FCB-Trainers Trappatoni, war bekannt wegen seines riesigen Hutes und seiner legendär schlechten Laune.

Wurde er auf seinen Riesenhut angesprochen oder dieser gar ins Verhältnis zu seiner kleinwüchsigen Erscheinung gebracht, sah er rot und ballerte wild um sich. Deswegen war er im ganzen Wilden Westen so berüchtigt, dass niemand auch nur wagte, seinen Namen auszusprechen. Genau aus diesem Grunde ist seine Geschichte auch weitgehend unbekannt geblieben.

Trapper Tonis einziger Schwachpunkt war seine unerfüllte Liebe zur Saloon-Sängerin Rosa Romero. Deren winziger Hut wurde von einem Gummiband auf ihrer üppigen schwarzen Mähne gehalten; das Hütchen war ihr Ein und Alles – sie trug sogar Lippenstift in der Farbe des Hutes.

Rosa Romero dachte allerdings nicht daran, auf das Werben des gelbgesichtigen Alten mit dem riesigen Hut einzugehen. Er war ihr zu alt, zu klein und zu jähzornig.

Wie die Geschichte ausging, weiß keiner. Sicher ist nur, dass Trapper Toni sich irgendwann selber ins Bein schoss und den Rest seines Lebens humpelnd verbrachte. Meine demente Truppe war beeindruckt und schwankte zwischen Mitgefühl und Schadenfreude – auch weil ich an dieser Stelle live vormachte, wie dieses tragische Ereignis vonstatten ging.

Rosa Romera dagegen wurde berühmt, als sie zusätzlich zu ihrem Hut die WILDE WESTE fand und anzog – ein Bekleidungsstück, nach dem (wie der Name schon sagt) immerhin der ganze Wilde Westen benannt ist. Die Wilde Weste war durch einen obskuren Magier mit einem Zauberspruch belegt worden und verführte denjenigen, der leichtsinnig genug war, sie anzuziehen, zu wüstesten Ausschweifungen, Parties ohne Ende und tage- bis monatelangen Gelagen.

Die versammelte Teilnehmerschaft stutzt kurz und ist sich nicht ganz sicher, ob DAS nun wirklich sein kann und ob der Wilde Westen wirklich nach der Wilden Weste benannt wurde. Man findet sich dann aber mit der logisch zwingenden Analogie der Ausdrücke ab, und ohnehin ist die Geschichte einfach zu absurd, um nicht auf gefällige Rezeption durch meine Schützlinge zu treffen.

Außerdem hatte ich schon kurz nach dem Frühstück ein paar Lügenmärchen der Brüder Grimm vorgelesen, so dass wir sozusagen im Thema geblieben sind. Alle sind’s zufrieden, wir singen noch ein paar Schlager und schon ist wieder Mittagszeit – das lange Sitzen ist anstrengend für die Leute, die nach fünf Stunden auch bester Unterhaltung froh sind, wenn sie nach dem Mittagessen in ihre Zimmer und ihre Betten können.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Das Rätsel der verschwundenen Zähne und der Fliegende Holländer

Die „Tagesgruppe Demenz“ ist heute wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, bzw. erinnert an das Kinderlied von den Zehn kleinen Negerlein: einer muss mal, die nächste ist müde und will aufs Zimmer, der dritte wird vom Physiotherapeuten abgeholt, die vierte muss zum Blutdruckmessen oder zum Wiegen – von neun Leuten waren’s jedenfalls irgendwann nur noch vier.

Seit um 7:15 der erste Teilnehmer erscheint bin ich mit den Leuten zusammen. Als gegen 9:30 alle Anwesenden gefrühstückt haben, begleitet von ständigen Unterberechungen und einem dauernden Raus und Rein, ist die Energie im Raum chaotisch und zerstreut. Das Wetter trägt seinen Teil zum Stress bei; es ist drückend und stickig, wenn auch zum Glück nicht zu heiß.

Frau F. kommt mir heute optisch anders vor als sonst. Ihr Gesicht wirkt kindlicher und älter zugleich. Plötzlich geht mir ein Licht auf: sie hat ihre Zahnprothese nicht drin!

Es ist eigentlich Aufgabe der Pflegekollegen, die die Bewohner aufwecken, waschen und anziehen, auch dafür zu sorgen, dass Gebiß und Hörgeräte eingesetzt sind.

Ich schaue Frau F. an, die bereits ein ganzes Brötchen ohne sichtbare Probleme verzehrt hatte, und frage sie, ob sie nicht ihre Zähne vermissen würde. „Wie? Die Zähne? Wirklich??“ – sie greift sich in den Mund und stellt anscheinend zum ersten Mal heute fest, dass sich die Zähne nicht an ihrem üblichen Platz befinden.

Die labbrigen Gummibrötchen, über die sich die Bewohner in der Regel verärgert beschweren, scheinen diesmal einen positiven Effekt gehabt zu haben. Frau F. konnte sie problemlos auch ohne Zähne verspeisen. Ich rufe eine Pflegekraft herbei und frage, wieso die Frau heute keine Zähne im Mund hat. „Ja, irgendwie waren die nicht da… ich konnte die nirgends finden“, gibt die gestresste Kollegin an. Ich vermute, sie hatte einfach keine Zeit um zu suchen.

Fürs Erste müssen wir aber damit leben, dass Frau F.s Zähne verschwunden sind. Das ist natürlich eine spannende Geschichte, eine zwischen Kriminalfall und Abenteuerroman, die wir sogleich aufgreifen und ausspinnen: Haben sich die Zähne etwa selbständig gemacht? Sind sie auf der Flucht? Und wenn ja: warum? Was ist ihnen widerfahren?

Meine Schützlinge sind angetan von der Idee, dass die Zähne sich von alleine auf die Socken gemacht haben und auf eigene Faust die Welt erkunden. Das ist genau die absurde Situationskomik, die bei dementen Menschen gut ankommt. Gleichzeitig machen sie sich natürlich zusammen mit Frau F. Sorgen, dass den kleinen Kameraden Ungemach drohen könnte, jetzt, wo sie so allein und verloren in die große Welt geraten sind.

Nach 5-sekündiger eingehender Nachforschung liegt der Tathergang klar vor mir: die Zähne haben sich gelangweilt und sind kantapper, kantapper in den Wald hinein, wie einst der dicke fette Pfannekuchen. Dort lauern allerlei Gefahren, vor allem vom schlauen Fuchs, der die Zähne dummerweise als Beute betrachtet. Der Hase dagegen lässt sich vom Geklapper der Zähne in die Flucht schlagen. Was werden die armen Zähne so ganz allein im Wald jetzt anstellen? Sie fürchten sich ein bißchen, denn es ist Nacht, und vom Himmel blinkt die bleiche Sichel des Mondes….

An dieser Stelle bricht die abenteuerliche Geschichte der Zähne abrupt ab, denn die Zeile mit der bleichen Mondsichel entstammt dem „Capri-Fischer“-Lied von Rudi Schuricke, das jeder hier auswendig kennt. Jetzt steht als erstmal eine Musik- und Gesangsrunde an.

Wir spielen und singen ein paar Schlager; Frau N. fragt nach irgendeinem Lied, von der ihr gerade eine Verszeile einfällt und nach zwei, drei Schlagern landen wir bei den Seemannsliedern von Freddy Quinn. Wir singen, erzählen, schwelgen in Erinnerungen an vergangene Zeiten, vor allem aber freuen sich die Teilnehmer, dass sie die Lieder kennen und die Texte mitsingen können. In all der Verlorenheit und Unerklärlichkeit des dementen Geistes ist es umso wichtiger, dass die Fragmente der Erinnerung, die erhalten geblieben sind, gepflegt und aktiviert werden.

Mit Musik geht das erfahrungsgemäß am besten – selbst Demente in den Endphasen ihrer Erkrankung erinnern sich an Melodien und häufig auch an Texte der ersten Lieder, die sie kennengelernt haben.

Durch die Seemannslieder inspiriert sprechen wir auch über Seemansgarn. Das wiederum führt uns direkt zum „Fliegenden Holländer“, wohl die bekannteste Seemanns-Sage. Da ich selber nicht ganz firm bin, was die Details dieser Story betrifft, lese ich meiner Runde einen kurzen Erklärtext vor. Darin heisst es über Bernard Fokke, das historische Vorbild für die Sagenfigur des Fliegenden Holländers, unter anderem:

“Die einen nannten ihn einen Zauberer. Andere sprachen von einem Bund mit dem Bösen und dergleichen. Dieser Glaube wurde noch gestärkt durch Fokke’s ganz ungewöhnliche Größe und Körperkraft, durch ein höchst abschreckendes Äußere und ein rohes zurückstoßendes Benehmen, so wie seine Gewohnheit, bei den geringsten Hindernissen fürchterlich zu fluchen.“

Meine Runde ist fasziniert. Um ihre Fantasie bildlich zu unterstützen, male ich ihnen den raubeinigen Kapitän aufs Flipchart und gebe ihnen ein paar Beispiel für kräftiges Fluchen, die ich hier keinesfalls wiedergeben kann und will. Das finden alle klasse, lachen und sind beeindruckt von Käpt’n Fokke, der auf meiner Zeichnung gerade den Kombüsen-Smutje Hein Mück zusammenstaucht, weil der die Kartoffeln zu dick geschält hat.

Nur Herr V., der ganz vorne, direkt neben dem Flipchart, sitzt, hat irgendein Problem. Während ich zeichne, zupft er mich am Hemd und versucht, seinen Einwand zu artikulieren. Da seine Aussprache kaum verständlich ist, ist das keine einfache Angelegenheit. „Holzschuh zu!“ höre ich schließlich raus, und er wiederholt diese Worte immer wieder, wobei er mich am Hemd zupft und auf die Tafel zeigt. Jetzt kapiere ich, was er meint: die Holzschuhe, die ich dem Käpt’n und dem Smutje gezeichnet habe, sind hinten offen. Die Original holländische Holzpantinen – die Klompen – sind hinten geschlossen!

Dieser darstellerische Lapsus hat Herrn V. dermaßen gestört, dass er mit all dem Nachdruck, zu dem er fähig ist, mich darauf aufmerksam macht. Ich korrigiere also meinen Fehler und bestätige vor der Runde, dass Herr V. selbstverständlich Recht hat.

Inzwischen betritt die Wohnbereichsleiterin den Gruppenraum, um mal nach dem dementen Teil der ihr anvertrauten Bewohnerschaft zu schauen. Sie erfährt von dem Waldabenteuer der Zähne und kommentiert: „Ach was! Die sind oben auf dem zweiten Regal in einer Plastikdose…“

Somit ist auch dieses Rätsel gelöst, wobei offen bleibt, ob die Zähne nie fortgelaufen waren oder ob sie nach bestandenen Abenteuern lieber wieder zurück in Frau F.s Zimmer geschlichen sind. Ein Praktikant wird nach den Zähnen geschickt und keine 3 Minuten später sind die ausgebüxten Racker wieder ordnungsgemäß im Mund von Frau F. – gerade rechtzeitig zum Mittagessen, das jetzt ansteht. Die weichen Kohlrouladen mit Hackfleischfüllung plus Kartoffeln allerdings, die heute auf dem Menüplan stehen, hätte sie auch ohne die Zähne locker weggefuttert.