Geschichten aus dem Pflegeheim: So war der Wilde Westen

Das neue Mitglied unserer „Tagesgruppe Demenz“, Frau B., kommt gerne mit Hut in die Gruppe. Sie ist eine kommunikative, aber wortkarge Dame. Sie redet wenig, beteiligt sich aber lebhaft und gestenreich an allen Aktivitäten und Unterhaltungen; besonders liebt sie es, wenn gesungen und geschunkelt wird oder wenn wir kleine gymnastische Übungen machen.

Ihr Hut jedenfalls gibt mir die Vorlage für einen Streifzug durch den Wilden Westen, wo ja bekanntlich alle mit Hüten unterwegs waren. Jedenfalls die Trapper und Cowboys.

Ich ergreife die Gelegenheit, die unglaubliche Geschichte von Trapper Toni zu erzählen (wie alle Geschichten dieser Art entsteht die Story beim Zeichnen). Trapper Toni, ein Vorfahre des nachmaligen FCB-Trainers Trappatoni, war bekannt wegen seines riesigen Hutes und seiner legendär schlechten Laune.

Wurde er auf seinen Riesenhut angesprochen oder dieser gar ins Verhältnis zu seiner kleinwüchsigen Erscheinung gebracht, sah er rot und ballerte wild um sich. Deswegen war er im ganzen Wilden Westen so berüchtigt, dass niemand auch nur wagte, seinen Namen auszusprechen. Genau aus diesem Grunde ist seine Geschichte auch weitgehend unbekannt geblieben.

Trapper Tonis einziger Schwachpunkt war seine unerfüllte Liebe zur Saloon-Sängerin Rosa Romero. Deren winziger Hut wurde von einem Gummiband auf ihrer üppigen schwarzen Mähne gehalten; das Hütchen war ihr Ein und Alles – sie trug sogar Lippenstift in der Farbe des Hutes.

Rosa Romero dachte allerdings nicht daran, auf das Werben des gelbgesichtigen Alten mit dem riesigen Hut einzugehen. Er war ihr zu alt, zu klein und zu jähzornig.

Wie die Geschichte ausging, weiß keiner. Sicher ist nur, dass Trapper Toni sich irgendwann selber ins Bein schoss und den Rest seines Lebens humpelnd verbrachte. Meine demente Truppe war beeindruckt und schwankte zwischen Mitgefühl und Schadenfreude – auch weil ich an dieser Stelle live vormachte, wie dieses tragische Ereignis vonstatten ging.

Rosa Romera dagegen wurde berühmt, als sie zusätzlich zu ihrem Hut die WILDE WESTE fand und anzog – ein Bekleidungsstück, nach dem (wie der Name schon sagt) immerhin der ganze Wilde Westen benannt ist. Die Wilde Weste war durch einen obskuren Magier mit einem Zauberspruch belegt worden und verführte denjenigen, der leichtsinnig genug war, sie anzuziehen, zu wüstesten Ausschweifungen, Parties ohne Ende und tage- bis monatelangen Gelagen.

Die versammelte Teilnehmerschaft stutzt kurz und ist sich nicht ganz sicher, ob DAS nun wirklich sein kann und ob der Wilde Westen wirklich nach der Wilden Weste benannt wurde. Man findet sich dann aber mit der logisch zwingenden Analogie der Ausdrücke ab, und ohnehin ist die Geschichte einfach zu absurd, um nicht auf gefällige Rezeption durch meine Schützlinge zu treffen.

Außerdem hatte ich schon kurz nach dem Frühstück ein paar Lügenmärchen der Brüder Grimm vorgelesen, so dass wir sozusagen im Thema geblieben sind. Alle sind’s zufrieden, wir singen noch ein paar Schlager und schon ist wieder Mittagszeit – das lange Sitzen ist anstrengend für die Leute, die nach fünf Stunden auch bester Unterhaltung froh sind, wenn sie nach dem Mittagessen in ihre Zimmer und ihre Betten können.