Geschichten die das Leben schrieb: wie ein Flachzange den Abend rettete

Schreck in der Abendstunde: beim Öffnen des vorzüglichen „Plage Blanche“ des verdienstvollen Weingutes Lionel Osmin bricht der Korkenzieher schon beim Hineindrehen am Griff ab!

Eine hektische Suche nach weiteren Korkenziehern in Schubladen und sonstigen Winkeln der Wohnung (irgendwo vermute ich auch ein Schweizer Armeemesser, an dem garantiert massenhaft Schrauben-, Korken- und sonstige Zieher befestigt sind) bleibt ergebnisoffen.

Den Korken in die Flasche eindrücken oder mittels irgendwelcher spitzen Instrumente zu durchstechen, um den edlen Rebensaft als Rinnsal ausgießen zu können, verbietet sich für Weinästheten.

Schon wird die Frau nervös und will mich zum Büdchen schicken, um dort Weißwein mit Schraubverschluss zu kaufen. Aber ein Profi wie ich hat auch für solche extremen Notlagen eine Lösung parat. Flugs ist die Werkzeugtasche hervorgeholt, eine Flachzange entnommen und schon geht es dem abgebrochenen Teilstück des ehemaligen Korkenziehers ans Gewinde.

Der Korken wird sauber und professionell entfernt und der 2023er Plage Blanche rinnt geschmeidig in die Gläser und ohne weitere Umstände in unsere durstigen Kehlen. Der Abend ist gerettet, und mein binnen-beziehungsmäßiges Ansehen als Handwerkergott ist wieder mal aufs Vortrefflichste bestätigt.

Geschichten die das Leben schrieb: Murmelndes Stimmengewirr aus den Straßenrestaurants

Das murmelnde Stimmengewirr aus den Straßenrestaurants begleitet jeden Schritt nach Hause.  Überall Menschen, die wichtigen oder unwichtigen Tätigkeiten nachgehen, alle mit ihren persönlichen Plänen, Wünschen und Hoffnungen beschäftigt. 

Wozu all das? Gibt es irgendeinen Zweck hinter all der Geschäftigkeit, außer den unmittelbaren Ergebnissen, die jeder einzelne anstrebt? Gelderwerb, voller Bauch, gesicherte Nahrungsmittelversorgung, Obdach; Sexualtrieb, Partnerschaft, Vermehrung, Nistbau und Brutpflege; beruflicher Erfolg um all das zu ermöglichen…. Darin erschöpfen sich menschliche Aktivitäten. Nirgendwo ist irgendein Sinn zu entdecken außer dem, das Leben – individuell und kollektiv – um jeden Preis zu erhalten und so komfortabel wie möglich zu gestalten.

Das Leben hat den einzigen „Zweck“ darin, sich selbst zu erhalten und zu reproduzieren. Glück im Unglück hat, wem das als Sinn des Lebens reicht. Alle anderen müssen einen „Sinn im Leben“ suchen und in irgendeinem Surrogat finden.

Deshalb gibt es jede Menge Sinn-Angebote weltlicher und außerweltlicher Art. Von Konsumismus bis Spiritualität boomt der Sinnstiftungsmarkt wie nichts Gutes. Alles Un-Sinn, alles Copingversuche.

Trügerische Realität: Nichts ist wie es scheint

Die Ankunft zuhause, vor allen Dingen nach einem arbeitsreichen Tag, birgt mitunter Überraschungen, denen selbst der erfahrene Erforscher innerer Welten noch Neues abgewinnen kann. So gelangte ich heute erschöpft, aber zufrieden, nach einem durchwachsenen Tag vielfältiger Pflichten und Aufgaben in meine privaten Gemächer, die mir jedoch seltsam verändert erschienen.

Dieses Gefühl setzte sich fort mit jedem Schritt, den ich vom Entrée zum Salon, vom Salon ins Wohnzimmer und von dort schließlich ins Ankleidezimmer machte, in welchem ich vor der Anrichte zu sitzen kam. Mit jedem Meter schien sich das Gefüge der Realität zum weniger Greifbaren, zum Fremdartigeren zu verändern. Der kurze Weg, den ich zurücklegte, wurde orchestriert von zunehmenden Auflösungerscheinungen des Gewebes der Erscheinungswelt selbst, das sich fortwährend in- und umeinander wickelte, desintegrierte und zu neuen Formen zusammenfloss.

Der Anblick war durchaus faszinierend, hinterließ in mir aber den Eindruck, dass etwas Fundamentales am Zusammenhalt der Dinge unterbrochen oder manipuliert worden war. Wer oder was steckte dahinter? Wer hatte die Macht und Möglichkeit, solche tiefgreifenden Eingriffe in die Raum-Zeit-Koordinaten der physischen Realität vorzunehmen?

Ich beschloß, erstmal gar nichts zu unternehmen und abzuwarten, bis die Wirkung der Droge nachließ. Dann dass ich unter dem Einfluß einer Droge stand, schien mir außer Frage zu stehen. Wer mir was wann und wo untergeschmuggelt hatte, entzog sich allerdings meiner Kenntnis.

War es die Kollegin, die mir nachmittags den Kaffee brachte? Ein Einrichtungsbewohner, der mir seine Medikamente aus seinem Pillenbecherchen in den Kaffee gekippt hatte? Hatten Mitarbeiter eines selbst mir unbekannten, ultra-geheimen staatlichen Dienstes die Klimaanlage meines Autos mit Halluzinogenen versetzt, um mittels eines fingierten Unfalls einen „Putinknecht“ im wahrsten Sinne des Wortes „aus dem Verkehr zu ziehen“?

Während ich mir noch all diese Fragen stellte, schien sich der Zirkus auf der Netzhaut zu beruhigen und in die zuvor schwarz-weiß bzw. grau-in-grau gehaltene Halluzination zog langsam Farbe und Kontur ein. Auch saß ich wieder in meinem Küchensessel, das Tablet in der Hand, angetan mit der Bekleidung des 21. Jahrhunderts. Ich war nicht mehr der Grandseigneur, der nach ausgiebigen Besprechungen mit seinesgleichen zurückkehrt in seine Pariser Stadtwohnung im 7. Arrondissement, sondern ein armutsverrenteter Proletarier in einer Dachwohnung einer westdeutschen Großstadt.

Alles war also wieder normal. Verdutzt blieb ich sitzen und hub an zu sinnieren. Ob diese Normalität mir als Erklärung der Realität genügen sollte, war die Fragestellung meiner Untersuchung; ich gelangte aber zu keinem stringenten Schluss.

Als am nächsten liegende Erklärung für das soeben Erlebte deuchte mich die altersbedingte Veränderung von Geist und Wahrnehmung, der ich mich seit geraumer Zeit unterworfen sehe. Grund dafür, so meine Erkenntnis nach einigem Nachdenken: ein ungnädiges Schicksal hatte mich in eine vergängliche physische Hülle eingesperrt, deren Substanz mehr und mehr verfällt und generell zu wünschen übrig lässt. Meine Hand dafür ins Feuer legen würde ich jedoch nicht.

Geschichten die das Leben schrieb: Schwiegermutter fürchtet Russenangriff/1941 revisited

Manchmal bricht die Welt des normalen Irrsinns in mein Refugium aus informierter Verständigkeit und kultivierter Dezenz ein; in das Refugium, in das ich mich wenigstens in meinen eigenen vier Wänden, umgeben von Stimmen der Vernunft und Quellen der Inspiration, gewohnheitsmäßig zurückziehen kann vor dem Ansturm der Dummheit und Grobheit, mit der die imperialistische Barbarei sich selbst inszeniert und die Massen in unmündiger Abhängigkeit hält.

Die Frau schwebt vorbei, offensichtlich auf dem Weg von einer ihrer periodischen Fernsehkonsumphasen in die weitläufigen Weinkeller unserer Behausung. Sie lässt ein tiefes Seufzen erklingen, so als hätte sie mental gerade einem monumentalen Berg aus Ignoranz und Verblödung erklimmen müssen. „Die glauben wirklich alle, dass Russland uns demnächst angreifen wird!“,  kommentiert sie entnervt den anscheinend soeben gesehenen Unrat, der sich täglich aus Staats- und Konzernmedien in die Gehirne der Leute ergießt.

Da ich meine bodenständige Liebste kenne, wundere ich mich, dass sie ein solches politisches Thema überhaupt einer Erwähnung wert befindet. Sogleich werde ich aber vertraut gemacht mit dem eigentlichen Grund ihrer besorgten Entnervtheit: „Meine Mutter glaubt das auch! In dieser Generation haben die alle dieses Feindbild vom vergewaltigenden, brutalen Russen, der vor der Tür steht und demnächst einmarschiert…“

Dass die 85-jährige Schwiegermutter, eine westdeutsche Unternehmertochter, die Zeit ihres Lebens nie gearbeitet hat, solche Schreckensgeschichten glaubt, wundert mich nicht. Sie ist der Prototyp der rheinischen Kleinbourgeoisie, deren Weltbild irgendwo zwischen Adenauer, Kirche, Schützenverein und Karneval verdrahtet ist. Zweifler an ihrer geordneten Bürgerwelt sind für sie verdächtige Figuren, die vermutlich psychologisch oder – noch schlimmer – kommunistisch deformiert sind. Auch ich zähle dazu, finde aber durch meine Arbeit im Pflegeheim, also mit Leuten wie ihr, in ihren Augen ein gewisses Maß an Gnade. 

Mein Schwiegervater, ein freundlicher, ruhiger und nahezu unsichtbarer Zeitgenosse, der vollständig unter dem Pantoffel seiner Gattin steht, hat die typische Biografie eines Ostflüchtlings. Geboren und aufgewachsen in Ostpreußen, verlor er seinen Vater im Krieg, eine Schwester wurde „von den Russen verschleppt“ und ward nie wieder gesehen, seine Mutter überlebte der Familiensage nach Vergewaltigungen durch marodierende Soldaten der Roten Armee. Über all diese Themen spricht der fast 90jährige, der gegen Ende des Krieges mit seiner Mutter nach Düsseldorf kam, nie; jedenfalls nicht mir gegenüber. 

Seine Gattin dagegen ist umso überzeugter, dass „vom Russen“ nur Böses zu erwarten ist. Ich erinnere mich, wie der Schwiegervater mir vor zwei Jahren, als der Ukraine-Konflikt in die Phase der SMO eintrat (für Staats- und Konzernmedienkonsumenren der „Beginn des Krieges“), einmal im überzeugten Tonfall eines Tagesschaukommentators versicherte, dass „der Putin unberechenbar“ sei. Das hatte er seiner Tageszeitung entnommen, der „NGZ“ (Neuss-Grevenbroicher Zeitung), einem ländlich-reaktionären Ableger der biederen und tiefschwarzen „Rheinischen Post“, einem der Sudelblätter der Funke-Mediengruppe.

Meine Schwiegereltern und die rheinischen Klein- und Mittelschichtsbürger, in deren Kreisen sie sich bewegen und zu denen sie gehören, sind die exemplarischen Vertreter des westdeutsch sozialisierten Menschenschlags, der in der Alt-BRD, vom Rheinland ausgehend, den Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“ mental besiedelte und formte.

Ihr Russenhass ist in den Beton ihrer Überzeugungen gegossen und bestätigt sich für DIESE Generation mit DIESEN Erfahrungen ganz von selbst; schließlich haben sie „es ja selbst erlebt“. Die kleine Nebensächlichkeit, dass sie bzw. ihre Eltern als brave und willfährige Untertanen beim Krieg gegen das russische Untermenschentum und für Lebensraum im Osten eifrig dabei waren, ist ihnen ein wenig entfallen.

Der Umstand ihrer Teilnahme am faschistischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion (ob als Wehrmachtssoldaten oder als Volksgenossen an der Heimatfront), der 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben gekostet hat, wird rationalisiert durch das klassische Klagelied des Kleinbürgers, der ja „das alles gar nicht gewusst hat“ oder wenn, dann doch „gar nicht hätte machen können“.

Gerechterweise muss man sagen, dass diese Generation zur Zeit des Faschismus im Kindesalter war. Allerdings wurden ihre Ansichten damals geformt und noch heute sind sie identifiziert mit der Volksgemeinschaft, die seinerzeit auf das Feindbild Russland konditioniert wurde – und bei der die heutige erneute Manipulation des kollektiven Geistes mit Russophobie und Kriegstüchtigkeit gegen Russland bestens verfängt.

Vor allem wird der faschistische Terror speziell gegen Russen und Kommunisten völlig in den Schatten gestellt (und damit praktisch entsorgt) durch die ungleich schlimmere Tatsache, dass es bei der Befreiung Europas auch zu Übergriffen und Vergewaltigungen durch Soldaten der sowjetischen Armee gab. Dass es in allen Armeen der Alliierten zu solchen Vorfällen gegenüber der Bevölkerung des faschistischen Gegners kam, bleibt unerwähnt, ebenso die monströsen Grausamkeiten, die die faschistischen Heere vor allem in der Sowjetunion begingen.

Genauso wie der Ukraine-Krieg vor dem 24.02.2022 keine Vorgeschichte kennt, gab es zu Flucht, Vertreibung und Vergewaltigung durch russische Soldaten keine Vorgeschichte. Dass vor 1945 ein ganzer vom deutschen Faschismus begonnener Weltkrieg stattgefunden hatte, wird einfach ausgeblendet. Der deutsche Untertan weiß sich mit seiner Obrigkeit einig: Das Ur-Böse, verkörpert durch den Russen, lauert auch heute wieder und bedroht unsere Freiheit.

Die fügsame Dummheit gewöhnlicher Kleinbürger mag noch nachvollziehbar und verständlich sein, vor allem wenn es sich um Vertreter einer Generation handelt, die den Umgang mit Medien und Informationsquellen außerhalb staatlichen Fernsehens und Konzern-Zeitungen nicht gewohnt ist. Dass heutige Politiker erneut und absichtlich russophobe Schauergeschichten, die der faschistischen Gräuelpropaganda gleichen, gezielt zur Mobilisierung der Bevölkerung für Aufrüstung und Krieg einsetzen, ist eine andere Sache. Die kriegshetzerischen Lügen der Scholze, Baerbocks, Steinmeiers, Pistorius und wie sie alle heißen sind so berechnend wie ihre Ziele – die Vernichtung Russlands (neudeutsch „Die Ruinierung Russlands“) – den Zielen ihrer Vorgängerregierung aus den 1930er und 1940er Jahren gleichen.

Geschichten die das Leben schrieb: Im Zeitungsladen

„Bild“ rechnet scheinheilig vor, wie Durchschnittsbürger sich einzuschränken haben, um für die Kosten von Krieg, Deindustrialisierung und Klimademagogie geradezustehen.

Die Verkäuferin im Zeitungsladen kommentiert desillusioniert: „Heutzutage braucht eine Familie einen, der für die Miete arbeitet und noch einen, der für all die anderen Ausgaben verdient. Einer alleine kann das nicht mehr bezahlen.“

Ihre Desillusionierung geht allerdings nicht so weit, die Gründe für diese immer ungemütlicheren Lebensumständezu verstehen. Für sie ist das alles ein schicksalhaftes Ereignis, das in dieser unsicheren Welt leider jederzeit eintreffen kann und auf das sich der normale arbeitende Mensch sich dann zähneknirschend einzustellen hat. Und in soweit hat sie ja recht.

Schon der Übergang vom Zähneknirschen zum Fäuste ballen, um mit den Fäusten dann – im tatsächlichen und im übertragenen Sinne – die Mistgabeln und Forken zu packen und die Verursacher all der Zumutungen davonzujagen, käme ihr niemals in den Sinn. Und wenn, dann höchstens als Bitte an konkurrierende Amtsträger derselben Obrigkeit, nicht ganz so grausam zu den Beherrschten zu sein.

Soweit jedenfalls mein Eindruck, sobald man sich etwas länger und tiefer gehend mit den Leuten unterhält (mit normalen Lohnarbeitern meine ich, nicht mit dem akademischen grünen Stammklientel aus der urbanen Mittelschichtsfilterblase mit dem „Atomkraft nein danke!“-Aufkleber am 5000-Euro-Elektro-Lastenfahrrad). Die ökomische und soziale Situation, die Lohnarbeiter zurecht als bedrückend und schädlich für ihre elementarsten Interessen – Einkommen, Wohnung, Heizung und ausreichender Lohn -beschreiben, wird in ihren Auswirkungen auf das eigene Leben korrekt wahrgenommen, in ihren Ursachen aber (aufgrund der massiven staatlichen Propaganda) nicht begriffen.

Andrerseits vernimmt man immer öfter Aussagen wie „Das kann so nicht weiter gehen“ oder „Die Reichen werden trotzdem alle immer reicher, und wir ärmer“, wobei das „trotzdem“ im zweiten Satz schon wieder Auskunft gibt über das fundamentale Mißverständnis in Bezug auf Wesen und Zweck kapitalistischen Wirtschaftens. Dennoch spürt man ein Grollen im Untergrund des Volkskörpers, das einem Lavastrom gleicht, der auch einmal ausbrechen könnte.

Wann? Das ist nicht wißbar. Vielleicht demnächst, vielleicht nie.

Geschichten die das Leben schrieb: History Channel oder Karnevalssitzung?

In der Mittagspause beliebt die Frau, sofern sie im Home-Office ist, gerne Fernsehen zu gucken.

Ich höre nur den Ton, sehe das Bild nicht und verstehe auch nicht, was da gesagt beziehungsweise geschrien wird.

Zunächst denke ich, sie hat irgendeinen History Channel angeschaltet, schaut sich eine Dokumentation über die Nazizeit an und irgendein Röhm, Hitler oder Göbbels schreit im Sportpalast herum. Aber nein, es ist ein heutiger Politiker: „Wer brüllt denn da rum?“, frage ich die Frau.

„Der Lindner“, entgegnet sie.

Jetzt höre ich eine halbe Minute hin und höre den neoliberalen Finanzminister irgendetwas salbadern über Leute, die für ihr Geld nicht arbeiten und deswegen aus Gründen der Gerechtigkeit bestraft werden müssen.

Ich bin mir fast sicher, dass er damit nicht die Couponschneider, Immobilienbesitzer und andere Bezieher leistungsloser Einkommen meint, sondern die armen Schweine, die von staatlichen Transferzahlungen leben müssen.

„Hört sich an wie Nazipropaganda, wenn man nicht den Inhalt, sondern nur den Tonfall anhört“, bemerke ich in Richtung Liebste.

„Nee“, antwortet sie, „das kommt mir mir vor wie ne Karnevalssitzung…“

Geschichten die das Leben schrieb: Wir müssen uns Ziele setzen

Die Frau ist mal wieder fest entschlossen, ab sofort noch gesünder leben, den Drogen zu entsagen und vor allem: abzunehmen, bis die engen Jeans wieder passen! Deshalb erhalte ich schon abends, und erneut morgens beim Aufstehen die Ansage, dass heute aber ganz gewiß kein Alkohol konsumiert wird. Bio-Kräutertee ist das Gebot der Stunde, der würde ja auch „sehr lecker schmecken“. 

Ich weiß, was von solchen Vorsätzen zu halten ist und halte mich bedeckt. Am Abend des „Kräutertee-Tages“ erscheint eine fröhliche und bestens gestimmte Liebste mit einem Glas Weißwein für mich, einem für sich selbst und verkündet, dass fortan „unter der Woche“ auf jeden Fall abstinent gelebt werden wird, aber heute sei ja noch Wochenende, weshalb ein Gläschen Wein nicht schaden könne. 

Ich muss jetzt doch mal meinen zarten Zweifeln Raum geben: „Na, warten wir’s mal ab…’ gebe ich vorsichtig zu bedenken. Meine Expertin für eiserne Vorsätze und strenge Disziplin lässt sich aber nicht aus dem Konzept bringen: „Ja, ehrlich jetzt, wir müssen uns mal ZIELE setzen!“ 

„Genau!“ antworte ich, „Wir werden das mal beobachten!“

Das, so habe ich gelernt, ist der Schlüsselsatz ultimativ vager Beliebigkeit. „Wir müssen das beobachten“ heißt: alles bleibt genau so wie es ist, aber wir haben mal drüber gesprochen. Wenn sich was ändert, kann man immer noch sehen, wie man dann reagiert.

Im Bewusstsein der Eleganz dieser Lösung lassen wir die Gläser klingen und prosten uns zu.

Geschichten die das Leben schrieb: Betrachtung über die Müdigkeit

Wenn man genügend lange gelebt hat, ergreift einen gelegentlich eine große Müdigkeit.

Das muss erklärt werden. 

Gemeint ist „lange genug gelebt“ nicht im Sinne von „reicht jetzt“, sondern in der Bedeutung: genügend gesehen und erfahren haben um zu wissen, dass auch die festesten Überzeugungen, die idealistischsten Zielsetzungen und die hingebungsvollsten Bestrebungen dem Realitätstest der Zeit unterworfen sind.

Und auch die Müdigkeit ist nicht die „fatigue“ genannte allumfassende Erschöpfung am Ende eines Lebens, wenn Körper und Geist einfach das Ende der Wegstrecke erreicht haben. Gemeint ist die Ermüdung durch die Hässlichkeit einer Welt, in der das Oben und Unten, der Reichtum und die Armut nicht nur als Dauerzustand eingerichtet ist, sondern obendrein auch noch als conditio sine qua non menschlichen Daseins propagiert wird.

Gemeint ist der bodenlose Ekel vor der Einteilung der Gesellschaft in Klassen und der ewigen Ausnutzung der Mehrheit für die Interessen und den Profit der Minderheit. Gemeint ist der Überdruss an der infantilen Idiotie und den berechnenden Lügen, die einem täglich aus allen Ecken entgegenquellen und einen entweder mit Kauf- und Konsumaufforderungen belästigen oder diese Appelle an Gier und Eigennutz als Sinn menschlicher Existenz bewerben.

Gemeint ist die mörderische Normalität einer Herrschaft, die ihre räuberischen Kriege zu gerechten Interventionen umlügt und ihren gewalttätigen Alltag zum regenbogenbunten Freiheitsparadies. Gemeint ist die verlogene Individualisierung und Vereinzelung der Insassen dieser Ordnung im Namen einer „Diversität“, die in Wirklichkeit die schlimmste (und am besten verborgene) Konformität ist, weil sie menschliche Wesen auf den Status eines Dinges, des homo economicus reduziert.

All das erzeugt in verständigen Menschen eine Müdigkeit, die sich bis ins Knochenmark und tiefer erstreckt und oft nur den einen Wunsch übrig lässt: von all dem Irrsinn nichts mehr hören und sehen zu müssen. Eine Müdigkeit, die manchmal sogar die Energie auffrißt, sich noch zu wünschen, die primitive Barbarei der Herrschaft von Geschäft und Gewalt möge abgelöst werden durch die vernünftige Planung einer freundlichen Gesellschaft:

Einer Welt, in der das ökonomische Dasein kein permanenter Überlebenskampf ist (und in der die Lösung dieses Überlebenskampfes NICHT lediglich darin besteht, dann eben zu den Gewinnern und nicht zu den Verlierern zu gehören). 

Einer, in der das Leben nicht von der Wiege bis zur Bahre den Interessen und dem Profit anderer dient. 

Einer, in der nicht jede Lebensphase nach Kindheit und früher Jugend zu wesentlichen Teilen mit dem Bemühen verbracht werden muss, sich irgendwie ein Dach überm Kopf und genügend Nahrung leisten zu können. 

Einer Welt, in der Zeit und Muße existiert für die „sinnlosen“, aber essentiellen Beschäftigungen des fantastischen Erkenntnisapparates, den wir den menschlichen Geist nennen.

Niemals müde wird man (hoffentlich) der wenigen (?) Freunde und verwandten Gemüter, die dieselbe Abneigung, dieselbe Müdigkeit verspüren, trotzdem den Kontakt halten und sich nicht irre machen lassen in dem und von dem Irrsinn, der hierzulande und fast überall als Normalität durchgeht.

„I hope someday you’ll join us
And the world will be as one“

Geschichten die das Leben schrieb: Einweisung droht

Ich suche morgens mal wieder mein Telefon, dass ich irgendwo hingelegt habe und jetzt nicht finden kann.

„Hast du mein Telefon gesehen?“ frage ich die Liebste, und ergänze: „Als ich aufgestanden bin, hatte ich das noch in der Hand, und jetzt finde ich es nirgendwo…“

Die Frau seufzt und kommentiert: „Schon wieder? Wenn du so weiter machst, kommst du ins Heim!“

Geschichten die das Leben schrieb: Bart gegen Aschenbecher

Die Plastiktüte mit dem Plastikmüll, die an einem Sideboard in der Küche hängt , ist voll. Als Volkskommissar für das Entsorgungswesen unserer kleinen Volksrepublik nehme ich sie vom Haken, um sie vor die Tür zu stellen und bei der ersten Hunderunde morgen früh mitzunehmen. Die Mülltonnen stehen nämlich allesamt im Keller, und das bedeutet, aus dem Dachgeschoß insgesamt acht Treppen runterzulaufen.

„Nee, lass die Tüte mal hängen!“, lässt sich die Frau vernehmen, „es gibt nichts Asozialeres als Müllbeutel vor der Tür stehen zu haben!“

Das ist mir nicht ganz verständlich, da außer uns niemand auf unserem Stockwerk wohnt, und über uns sowieso niemand. Es kann also gar keinem als „asozial“ auffallen außer uns selbst. Als Freund von Frieden und Harmonie im täglichen Leben stelle ich jedoch solche Marotten meiner Liebsten nicht in Frage. Auf ihre letzte Bemerkung reagiere ich allerdings mit einem entschiedenen „Doch!“, und beantworte ihre Nachfrage (mit der ich natürlich gerechnet habe), was das wäre, mit der einzigen Kritik, die ich an einer ihrer Angewohnheiten äußere: „In der Wohnung rauchen zum Bespiel!“

Mein Wink mit dem Zaunpfahl prallt an meiner schlagfertigen Gattin ab wie Fett von der Teflonbeschichtung der Pfanne. Sie kontert souverän mit: „Oder einen Bart tragen…“

Das will ich nicht auf mir sitzen lassen: „Bart tragen ist doch nicht asozial! Alle großen Männer der Weltgeschichte trugen Bärte…“ Bevor ich zu einer Aufzählung der Lichtgestalten der menschlichen Geschichte von Jesus bis Marx und Lenin ansetzen kann, bekomme ich eine Auskunft von ihr, die mich allerdings nachdenklich macht: „Du gefällst mir nicht mit Bart. Mach den doch wieder weg!“

„Ich gefalle mir selber aber momentan ganz gut mit Bart“, mache ich einen schwachen Verteidigungsversuch. „Irgendwann kommt der schon wieder weg… spätestens wenn’s wieder wärmer wird!“ Im Grunde bin ich aber gedanklich schon beim Rasierapparat bzw. beim nächsten Barbershop-Besuch. Denn wenn mein Herzdame mich darum bittet, ihren ästhetischen Preferenzen an dieser Stelle entgegenzukommen, will ich nicht auf Gesichtsbehaarung bestehen. Schon weil‘s mir im Grunde egal ist.

Bevor ich an meine diversen Endgeräte verschwinde, um mich wieder zeichnerischer Versenkung und kommunistischen Umtrieben zu widmen, nähere ich mich ihr mit der Bemerkung: „Krieg ich jetzt trotz Bart noch einen Kuß?“ Sie geht darauf ein, verzieht aber in gespieltem Ekel das Gesicht und quengelt „Iiih, das piekst immer so…!“.

„Und ich küsse ständig einen Aschenbecher!“ kann ich mir nicht verkneifen zu sagen. „Ja, er nur manchmal! Dein blöder Bart piekst immer!“ erhalte ich zur Antwort. Ich sehe ein, dass ich einfach immer den Kürzeren ziehe, was solche Debatten betrifft, und trolle mich in meine Ecke im Wohnzimmer – gefolgt von meinem treuen Hund, der nicht nur bärtig, sondern aufs Üppigste ganzkörperbehaart ist und schon deswegen eindeutig zu seinem Herrchen hält.