Trügerische Realität: Nichts ist wie es scheint

Die Ankunft zuhause, vor allen Dingen nach einem arbeitsreichen Tag, birgt mitunter Überraschungen, denen selbst der erfahrene Erforscher innerer Welten noch Neues abgewinnen kann. So gelangte ich heute erschöpft, aber zufrieden, nach einem durchwachsenen Tag vielfältiger Pflichten und Aufgaben in meine privaten Gemächer, die mir jedoch seltsam verändert erschienen.

Dieses Gefühl setzte sich fort mit jedem Schritt, den ich vom Entrée zum Salon, vom Salon ins Wohnzimmer und von dort schließlich ins Ankleidezimmer machte, in welchem ich vor der Anrichte zu sitzen kam. Mit jedem Meter schien sich das Gefüge der Realität zum weniger Greifbaren, zum Fremdartigeren zu verändern. Der kurze Weg, den ich zurücklegte, wurde orchestriert von zunehmenden Auflösungerscheinungen des Gewebes der Erscheinungswelt selbst, das sich fortwährend in- und umeinander wickelte, desintegrierte und zu neuen Formen zusammenfloss.

Der Anblick war durchaus faszinierend, hinterließ in mir aber den Eindruck, dass etwas Fundamentales am Zusammenhalt der Dinge unterbrochen oder manipuliert worden war. Wer oder was steckte dahinter? Wer hatte die Macht und Möglichkeit, solche tiefgreifenden Eingriffe in die Raum-Zeit-Koordinaten der physischen Realität vorzunehmen?

Ich beschloß, erstmal gar nichts zu unternehmen und abzuwarten, bis die Wirkung der Droge nachließ. Dann dass ich unter dem Einfluß einer Droge stand, schien mir außer Frage zu stehen. Wer mir was wann und wo untergeschmuggelt hatte, entzog sich allerdings meiner Kenntnis.

War es die Kollegin, die mir nachmittags den Kaffee brachte? Ein Einrichtungsbewohner, der mir seine Medikamente aus seinem Pillenbecherchen in den Kaffee gekippt hatte? Hatten Mitarbeiter eines selbst mir unbekannten, ultra-geheimen staatlichen Dienstes die Klimaanlage meines Autos mit Halluzinogenen versetzt, um mittels eines fingierten Unfalls einen „Putinknecht“ im wahrsten Sinne des Wortes „aus dem Verkehr zu ziehen“?

Während ich mir noch all diese Fragen stellte, schien sich der Zirkus auf der Netzhaut zu beruhigen und in die zuvor schwarz-weiß bzw. grau-in-grau gehaltene Halluzination zog langsam Farbe und Kontur ein. Auch saß ich wieder in meinem Küchensessel, das Tablet in der Hand, angetan mit der Bekleidung des 21. Jahrhunderts. Ich war nicht mehr der Grandseigneur, der nach ausgiebigen Besprechungen mit seinesgleichen zurückkehrt in seine Pariser Stadtwohnung im 7. Arrondissement, sondern ein armutsverrenteter Proletarier in einer Dachwohnung einer westdeutschen Großstadt.

Alles war also wieder normal. Verdutzt blieb ich sitzen und hub an zu sinnieren. Ob diese Normalität mir als Erklärung der Realität genügen sollte, war die Fragestellung meiner Untersuchung; ich gelangte aber zu keinem stringenten Schluss.

Als am nächsten liegende Erklärung für das soeben Erlebte deuchte mich die altersbedingte Veränderung von Geist und Wahrnehmung, der ich mich seit geraumer Zeit unterworfen sehe. Grund dafür, so meine Erkenntnis nach einigem Nachdenken: ein ungnädiges Schicksal hatte mich in eine vergängliche physische Hülle eingesperrt, deren Substanz mehr und mehr verfällt und generell zu wünschen übrig lässt. Meine Hand dafür ins Feuer legen würde ich jedoch nicht.