Ungelöste Kriminalfälle: Marlow und das Loch im Boden

Das versiegelte Buch, das sich wie aus dem Nichts über dem Opfertisch materialisierte, war von einem elektrisch leuchtenden Schimmer umgeben. Instinktiv wusste Marlow, dass es nicht nur das „Geheimnis des Inneren Kindes“ enthüllen würde, von dem die rätselhafte Kundin gesprochen hatte, sondern ihm auch Hinweise auf den noch immer ungelösten Fairbanks-Fall geben könnte.

Wenn er doch nur des Buches habhaft werden könnte; des Buches, das keine zwei Meter vor ihm leicht vibrierend in der Luft schwebte, aber durch einen volatilen Abgrund aus reiner Antimaterie geschützt war, der sich mit jedem Versuch, dem Buch nahezukommen, zwischen Buch und Näherkommenden schob. Es handelte sich um eine Art Loch im Boden, dessen Tiefe unauslotbar war und das direkt in die Hölle zu führen schien.

Marlow beschloss, sich zunächst einmal einen Scotch einzugießen, die Sache zu beobachten und dabei das weitere Vorgehen zu kontemplieren.

Trügerische Realität: Nichts ist wie es scheint

Die Ankunft zuhause, vor allen Dingen nach einem arbeitsreichen Tag, birgt mitunter Überraschungen, denen selbst der erfahrene Erforscher innerer Welten noch Neues abgewinnen kann. So gelangte ich heute erschöpft, aber zufrieden, nach einem durchwachsenen Tag vielfältiger Pflichten und Aufgaben in meine privaten Gemächer, die mir jedoch seltsam verändert erschienen.

Dieses Gefühl setzte sich fort mit jedem Schritt, den ich vom Entrée zum Salon, vom Salon ins Wohnzimmer und von dort schließlich ins Ankleidezimmer machte, in welchem ich vor der Anrichte zu sitzen kam. Mit jedem Meter schien sich das Gefüge der Realität zum weniger Greifbaren, zum Fremdartigeren zu verändern. Der kurze Weg, den ich zurücklegte, wurde orchestriert von zunehmenden Auflösungerscheinungen des Gewebes der Erscheinungswelt selbst, das sich fortwährend in- und umeinander wickelte, desintegrierte und zu neuen Formen zusammenfloss.

Der Anblick war durchaus faszinierend, hinterließ in mir aber den Eindruck, dass etwas Fundamentales am Zusammenhalt der Dinge unterbrochen oder manipuliert worden war. Wer oder was steckte dahinter? Wer hatte die Macht und Möglichkeit, solche tiefgreifenden Eingriffe in die Raum-Zeit-Koordinaten der physischen Realität vorzunehmen?

Ich beschloß, erstmal gar nichts zu unternehmen und abzuwarten, bis die Wirkung der Droge nachließ. Dann dass ich unter dem Einfluß einer Droge stand, schien mir außer Frage zu stehen. Wer mir was wann und wo untergeschmuggelt hatte, entzog sich allerdings meiner Kenntnis.

War es die Kollegin, die mir nachmittags den Kaffee brachte? Ein Einrichtungsbewohner, der mir seine Medikamente aus seinem Pillenbecherchen in den Kaffee gekippt hatte? Hatten Mitarbeiter eines selbst mir unbekannten, ultra-geheimen staatlichen Dienstes die Klimaanlage meines Autos mit Halluzinogenen versetzt, um mittels eines fingierten Unfalls einen „Putinknecht“ im wahrsten Sinne des Wortes „aus dem Verkehr zu ziehen“?

Während ich mir noch all diese Fragen stellte, schien sich der Zirkus auf der Netzhaut zu beruhigen und in die zuvor schwarz-weiß bzw. grau-in-grau gehaltene Halluzination zog langsam Farbe und Kontur ein. Auch saß ich wieder in meinem Küchensessel, das Tablet in der Hand, angetan mit der Bekleidung des 21. Jahrhunderts. Ich war nicht mehr der Grandseigneur, der nach ausgiebigen Besprechungen mit seinesgleichen zurückkehrt in seine Pariser Stadtwohnung im 7. Arrondissement, sondern ein armutsverrenteter Proletarier in einer Dachwohnung einer westdeutschen Großstadt.

Alles war also wieder normal. Verdutzt blieb ich sitzen und hub an zu sinnieren. Ob diese Normalität mir als Erklärung der Realität genügen sollte, war die Fragestellung meiner Untersuchung; ich gelangte aber zu keinem stringenten Schluss.

Als am nächsten liegende Erklärung für das soeben Erlebte deuchte mich die altersbedingte Veränderung von Geist und Wahrnehmung, der ich mich seit geraumer Zeit unterworfen sehe. Grund dafür, so meine Erkenntnis nach einigem Nachdenken: ein ungnädiges Schicksal hatte mich in eine vergängliche physische Hülle eingesperrt, deren Substanz mehr und mehr verfällt und generell zu wünschen übrig lässt. Meine Hand dafür ins Feuer legen würde ich jedoch nicht.

Die Indifferenz, die Ignoranz: wie vor neunzig Jahren?

Ein Facebook-Freund schreibt:

Die Verhältnisse ändern sich in einer Geschwindigkeit, die einem kaum Luft lassen. Ähnlich muss es einigen politischen Beobachtern Anfang 1933 gegangen sein. Die Bürger- und Freiheitsrechte werden stetig eingeschränkt. Meinungsfreiheit zählt nicht mehr. Wer gegen den Strom schwimmt wird arbeitslos gemacht und geächtet. Enttäuschend ist, dass es kaum Intellektuelle gibt, die sich gegen diese Bewegung des gedankenlosen Niedermachens wehren und aufstehen. (Ein Hinweis darauf, dass Intellekt und Intelligenz oft getrennte Wege gehen.) Wenige kommen auf die Idee, dass die Mechanismen, der heute die eine Gruppe zum Schweigen bringen soll, schon morgen gegen einen selbst gewendet werden kann. Am Ende werden die Anständigen wieder ins Exil gehen müssen.

Facebook

Für mich das erstaunlichsten ist die Indifferenz der Leute. Bis auf die paar Freunde auf Facebook oder im echten Leben, die sehen was gerade passiert, zeigen die Leute in meinem persönlichen Umfeld (Arbeit, Familie, Bekannte) eine selige Ignoranz, die an Realitätsverweigerung grenzt – so wie Kinder, die die Hände vor die Augen halten und dann denken, man sieht sie nicht mehr.

So als könnte das Leben im Großen und Ganzen so weitergehen wie bisher, auch wenn man öfters über die Teuerung meckert und sich über die Unfähigkeit und Dummheit der Baerbocks, Habecks und Scholzens lustig macht.

Die tatsächlichen drastischen Umverteilungen des gesellschaftlichen Reichtums durch den Krieg, an dem die Bundesregierung beteiligt ist, die weitreichenden Einschränkungen von Bürgerrechten wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit usw, die schrittweise Verwandlung der BRD von der demokratischen zu einer wenn nicht faschistischen, dann aber autoritären Form des Kapitalstandortes scheint oder möchte niemand bemerken.

In meinem eigenen Fall der strafrechtlichen Verfolgung wegen angeblicher „Störung des öffentlichen Friedens“ durch „Befürwortung des russischen Angriffskrieges“ höre ich gelegentlich Sätze wie „Du musst ja auch nicht immer alles laut sagen, was du so denkst!“ oder „Warum legst du dich auch immer mit dem Gesetz an, du hättest ja auch vorsichtiger sein können!“.

Es scheint insgesamt eine Stimmung der Verdrängung und des St. Florian-Prinzips zu herrschen: man hofft, dass man die Zeiten irgendwie ohne allzu großen Schaden übersteht und passt sich den neuen Bedingungen an – dazu gehört, dass man bei heiklen Themen die Klappe hält, ein niedriges Profil beibehält und nicht mit der verschärft nach Dissens Ausschau haltenden (und diesen sanktionierenden) Staatsmacht aneinander gerät.

Mir wird verständlicher, wie das gesellschaftliche Klima in den Dreißigerjahren war.