Geschichten die das Leben schrieb: Betrachtung über die Müdigkeit

Wenn man genügend lange gelebt hat, ergreift einen gelegentlich eine große Müdigkeit.

Das muss erklärt werden. 

Gemeint ist „lange genug gelebt“ nicht im Sinne von „reicht jetzt“, sondern in der Bedeutung: genügend gesehen und erfahren haben um zu wissen, dass auch die festesten Überzeugungen, die idealistischsten Zielsetzungen und die hingebungsvollsten Bestrebungen dem Realitätstest der Zeit unterworfen sind.

Und auch die Müdigkeit ist nicht die „fatigue“ genannte allumfassende Erschöpfung am Ende eines Lebens, wenn Körper und Geist einfach das Ende der Wegstrecke erreicht haben. Gemeint ist die Ermüdung durch die Hässlichkeit einer Welt, in der das Oben und Unten, der Reichtum und die Armut nicht nur als Dauerzustand eingerichtet ist, sondern obendrein auch noch als conditio sine qua non menschlichen Daseins propagiert wird.

Gemeint ist der bodenlose Ekel vor der Einteilung der Gesellschaft in Klassen und der ewigen Ausnutzung der Mehrheit für die Interessen und den Profit der Minderheit. Gemeint ist der Überdruss an der infantilen Idiotie und den berechnenden Lügen, die einem täglich aus allen Ecken entgegenquellen und einen entweder mit Kauf- und Konsumaufforderungen belästigen oder diese Appelle an Gier und Eigennutz als Sinn menschlicher Existenz bewerben.

Gemeint ist die mörderische Normalität einer Herrschaft, die ihre räuberischen Kriege zu gerechten Interventionen umlügt und ihren gewalttätigen Alltag zum regenbogenbunten Freiheitsparadies. Gemeint ist die verlogene Individualisierung und Vereinzelung der Insassen dieser Ordnung im Namen einer „Diversität“, die in Wirklichkeit die schlimmste (und am besten verborgene) Konformität ist, weil sie menschliche Wesen auf den Status eines Dinges, des homo economicus reduziert.

All das erzeugt in verständigen Menschen eine Müdigkeit, die sich bis ins Knochenmark und tiefer erstreckt und oft nur den einen Wunsch übrig lässt: von all dem Irrsinn nichts mehr hören und sehen zu müssen. Eine Müdigkeit, die manchmal sogar die Energie auffrißt, sich noch zu wünschen, die primitive Barbarei der Herrschaft von Geschäft und Gewalt möge abgelöst werden durch die vernünftige Planung einer freundlichen Gesellschaft:

Einer Welt, in der das ökonomische Dasein kein permanenter Überlebenskampf ist (und in der die Lösung dieses Überlebenskampfes NICHT lediglich darin besteht, dann eben zu den Gewinnern und nicht zu den Verlierern zu gehören). 

Einer, in der das Leben nicht von der Wiege bis zur Bahre den Interessen und dem Profit anderer dient. 

Einer, in der nicht jede Lebensphase nach Kindheit und früher Jugend zu wesentlichen Teilen mit dem Bemühen verbracht werden muss, sich irgendwie ein Dach überm Kopf und genügend Nahrung leisten zu können. 

Einer Welt, in der Zeit und Muße existiert für die „sinnlosen“, aber essentiellen Beschäftigungen des fantastischen Erkenntnisapparates, den wir den menschlichen Geist nennen.

Niemals müde wird man (hoffentlich) der wenigen (?) Freunde und verwandten Gemüter, die dieselbe Abneigung, dieselbe Müdigkeit verspüren, trotzdem den Kontakt halten und sich nicht irre machen lassen in dem und von dem Irrsinn, der hierzulande und fast überall als Normalität durchgeht.

„I hope someday you’ll join us
And the world will be as one“