Geschichten die das Leben schrieb: Einweisung droht

Ich suche morgens mal wieder mein Telefon, dass ich irgendwo hingelegt habe und jetzt nicht finden kann.

„Hast du mein Telefon gesehen?“ frage ich die Liebste, und ergänze: „Als ich aufgestanden bin, hatte ich das noch in der Hand, und jetzt finde ich es nirgendwo…“

Die Frau seufzt und kommentiert: „Schon wieder? Wenn du so weiter machst, kommst du ins Heim!“

Geschichten die das Leben schrieb: Bart gegen Aschenbecher

Die Plastiktüte mit dem Plastikmüll, die an einem Sideboard in der Küche hängt , ist voll. Als Volkskommissar für das Entsorgungswesen unserer kleinen Volksrepublik nehme ich sie vom Haken, um sie vor die Tür zu stellen und bei der ersten Hunderunde morgen früh mitzunehmen. Die Mülltonnen stehen nämlich allesamt im Keller, und das bedeutet, aus dem Dachgeschoß insgesamt acht Treppen runterzulaufen.

„Nee, lass die Tüte mal hängen!“, lässt sich die Frau vernehmen, „es gibt nichts Asozialeres als Müllbeutel vor der Tür stehen zu haben!“

Das ist mir nicht ganz verständlich, da außer uns niemand auf unserem Stockwerk wohnt, und über uns sowieso niemand. Es kann also gar keinem als „asozial“ auffallen außer uns selbst. Als Freund von Frieden und Harmonie im täglichen Leben stelle ich jedoch solche Marotten meiner Liebsten nicht in Frage. Auf ihre letzte Bemerkung reagiere ich allerdings mit einem entschiedenen „Doch!“, und beantworte ihre Nachfrage (mit der ich natürlich gerechnet habe), was das wäre, mit der einzigen Kritik, die ich an einer ihrer Angewohnheiten äußere: „In der Wohnung rauchen zum Bespiel!“

Mein Wink mit dem Zaunpfahl prallt an meiner schlagfertigen Gattin ab wie Fett von der Teflonbeschichtung der Pfanne. Sie kontert souverän mit: „Oder einen Bart tragen…“

Das will ich nicht auf mir sitzen lassen: „Bart tragen ist doch nicht asozial! Alle großen Männer der Weltgeschichte trugen Bärte…“ Bevor ich zu einer Aufzählung der Lichtgestalten der menschlichen Geschichte von Jesus bis Marx und Lenin ansetzen kann, bekomme ich eine Auskunft von ihr, die mich allerdings nachdenklich macht: „Du gefällst mir nicht mit Bart. Mach den doch wieder weg!“

„Ich gefalle mir selber aber momentan ganz gut mit Bart“, mache ich einen schwachen Verteidigungsversuch. „Irgendwann kommt der schon wieder weg… spätestens wenn’s wieder wärmer wird!“ Im Grunde bin ich aber gedanklich schon beim Rasierapparat bzw. beim nächsten Barbershop-Besuch. Denn wenn mein Herzdame mich darum bittet, ihren ästhetischen Preferenzen an dieser Stelle entgegenzukommen, will ich nicht auf Gesichtsbehaarung bestehen. Schon weil‘s mir im Grunde egal ist.

Bevor ich an meine diversen Endgeräte verschwinde, um mich wieder zeichnerischer Versenkung und kommunistischen Umtrieben zu widmen, nähere ich mich ihr mit der Bemerkung: „Krieg ich jetzt trotz Bart noch einen Kuß?“ Sie geht darauf ein, verzieht aber in gespieltem Ekel das Gesicht und quengelt „Iiih, das piekst immer so…!“.

„Und ich küsse ständig einen Aschenbecher!“ kann ich mir nicht verkneifen zu sagen. „Ja, er nur manchmal! Dein blöder Bart piekst immer!“ erhalte ich zur Antwort. Ich sehe ein, dass ich einfach immer den Kürzeren ziehe, was solche Debatten betrifft, und trolle mich in meine Ecke im Wohnzimmer – gefolgt von meinem treuen Hund, der nicht nur bärtig, sondern aufs Üppigste ganzkörperbehaart ist und schon deswegen eindeutig zu seinem Herrchen hält.

Geschichten, die das Leben schrieb: Konfrontation mit der Realität

Ich sitze bei einer Tasse Kaffee in der Küche und beschäftige mich mit Einträgen in unserem subversiven Blog roterdivan.de. Anlässlich eines hochgeladenen Dokumentes spreche ich dem Genossen Sedlmair einige WordPress-spezifische Hinweise in den Messenger.

Die Frau, die an der Spüle steht und sich mit haushaltlichen Tätigkeiten beschäftigt, wendet sich missbilligend zu mir und bemerkt : „Ich wünschte, du steckst so viel Energie in den Haushalt wie in deine kommunistischen Freunde und eure Umtriebe!“

Nur um etwas zu sagen, entgegne ich: „Ich wünschte, du steckst so viel Energie in eine bessere Welt und in den Kommunismus wie in den Haushalt!“

Damit bin ich bei ihr allerdings an der falschen Adresse. Ihre Antwort ist so knapp wie praktisch: „Haha. Das bezahlt aber nicht unsere Rechnungen, und den Haushalt macht es auch nicht.“

Geschichten die das Leben schrieb: „Wer kann sich Wohnraum noch leisten?!“

Seit wir über den Flurfunk erfahren haben, dass unser Vermieter beabsichtigt, den Vier-Parteien-Altbau zu verkaufen, in dem wir wohnen, verbringt die Frau jede freie Minute vor dem Bildschirm. Sie stöbert in den einschlägigen Immobilienportalen nach einer neuen Wohnung und fällt von einem Schreck in den nächsten.

„Also, unsere bisherigen Quadratmeter können wir knicken“, erfahre ich den Zwischenstand. „Für das Geld, das wir jetzt zahlen, gibt‘s höchstens noch Zwei-Zimmer-Wohnungen. In Duisburg kann man aber noch günstig wohnen…“ Der letzte Satz ist eher als Scherz gemeint, denn als eingefleischte Düsseldorferin, schon gleich als eine, die seit 37 Jahren im selben Stadtteil wohnt, ist Duisburg das Letzte, was sich eine Oberkasselerin als Wohnort vorstellen möchte. „Eher ziehe ich nach Neuss!“, verkündet sie, und das will etwas heißen, denn Neuss verhält sich zu Düsseldorf-Oberkassel wie Scholz zu Putin bzw. zu Xi Jinping, wie Dacia zu Daimler, wie Wasser zu Wein.

Nach einem Tag der gefaßt-praktischen Reaktion auf die Neuigkeit ist meine Liebste scheinbar in ein tiefes Loch gefallen. „Ich merke, wie mich das mitnimmt. Mich nervt das alles so sehr, besonders die Ohnmacht…“, sagt sie und stoßseufzt „Wer kann sich Wohnraum denn überhaupt noch leisten?!“. Dann wendet sie sich an mich: „Du nimmst das ja scheinbar gelassen…“

Ich erläutere ihr, warum: erstens bin ich seit meiner Kindheit extrem umzugserfahren und zweitens und vor allem mache ich mir nichts vor über die Welt und die Gesellschaft, in der wir leben. Durch Ereignisse wie einen qua Eigentümerwechsel erzwungenen Umzug werden wir bloß mit der Nase auf die ungemütlichen Realitäten des Kapitalismus gestoßen: als Lohnabhängige sind wir mit den elementaren menschlichen Grundbedürfnissen – Nahrung und Obdach – vollständig abhängig von der Kalkulation anderer.

Deren Kalkulation mit den Grundbedürfnissen der Leute erfolgt nicht, um diese Bedürfnisse zu erfüllen, sondern um den Reichtum der Besitzenden zu vermehren. Die Erfüllung aller Bedürfnisse in dieser Gesellschaft, selbst der elementarsten, erfolgt nur und ausschließlich, wenn und sofern eine zahlungsfähige Nachfrage besteht, die diesen Zweck erfüllt.

„Solche Vorkommnisse sind in einer Weise sogar nützlich. Sie könnten einen ja darauf bringen, dass man in dieser Gesellschaft immer nur die abhängige Variable von den Berechnungen Dritter ist“, sage ich. „Und zwar der Klasse der Eigentümer, für die der ganze Laden eingerichtet ist. Das könnte man feststellen und die entsprechenden Schlüsse ziehen…“

„Der einzige Schluss ist doch, selber Wohneigentum zu haben“, entgegnet mir die Gattin – womit sie einerseits recht hat und andererseits die typische Denkweise jedes Marktwirtschaftsinsassen zum Ausdruck bringt, nach der man in der kapitalistischen Suppe lieber das Fettauge ist, das oben schwimmt, als der Brotkrümel, der in die Suppe getunkt und aufgegessen wird.

Die Wohneigentumsfrage ist mangels Ressourcen allerdings ohnehin eine theoretische, so dass wir schnell wieder bei der Diskussion möglicher Wohnorte landen und die ernüchternde Feststellung machen müssen, dass selbst in den im Vergleich zu Oberkassel unattraktiven Gegenden des Umkreises „der Wohnungsmarkt angespannt“ ist, wie wir Fachleute sagen.

Wir drehen uns im Kreise, auch meine Mahnung, dass wir „offiziell“ noch gar nichts wissen und nichts an Verkauf, Kündigung und Umzug spruchreif ist, trägt nicht zur Entspannung meiner Liebsten bei. „Paradies-Wein?“ fragt sie mich unvermittelt, womit sie einen kürzlich im Jacques‘ Weindepot erstandenen Edel-Primitivo aus Puglia meint, und fügt hinzu: „Das ist das einzige, was jetzt noch hilft!“

Ich halte es nicht für nötig, sie an die gestern und heute mehrfach gemachten Ankündigungen zu erinnern, wonach heute auf jeden Fall und wegen des frühen Aufstehens am Montagmorgen „nur Kräutertee“ getrunken werden würde. In Zeiten wie diesen muss man flexibel bleiben und stets die geeigneten Drogen zur Hand haben, um sich eine kleine Auszeit von der Tatsache zu verschaffen, dass Kapitalismus einfach schon als Kind scheiße war.

Geschichten die das Leben schrieb: man kann nicht alles haben (oder sein)

Die Schwiegereltern haben aus dem Nachlass irgendeines Freundes einen riesengroßen, sehr schönen Spiegel aufgetrieben: hochwertig gerahmt wie ein Gemälde, bräunlich getönt, mit einem Muster aus von goldenen Linien begrenzten Quadraten versehen. Ein Schmuckstück für jede Wohnung, das in der Wohnung der Schwiegereltern aber keinen geeigneten Platz findet und nun an die Frau und mich abgegeben werden soll.

Nachdem ich das gediegene Stück vor Ort begutachtet und mir über Transportmöglichkeiten Gedanken gemacht habe (der Spiegel passt aufgrund seiner Größe nicht in unser Fahrzeug), berichte ich der Frau über die potentielle Neuerrungenschaft für unser gemeinsames Zuhause.

„Und wie wird der befestigt? Kann man den hinstellen?“ will sie wissen.

„Kann man“, entgegne ich, „aber das würde nicht so gut aussehen, wie wenn man ihn hinhängt. Der Rahmen hat extra dafür zwei Halterungen…“

„Dann erst nach Weihnachten. Das kostet doch nur wieder Geld und wir müssen den Handwerker kommen lassen…“ kriege ich zur Antwort. 

Das kann ich auf meinem männlichen Stolz nicht sitzen lassen: 

„Wie ‚den Handwerker kommen lassen“? Den bringe ich selber an der Wand an. Oder traust du mir nicht zu, dass ich mit einer Schlagbohrmaschine umgehen kann?“

„Nee.“ ist die knappe und ernüchternde Antwort. Zur Erläuterung legt sie aber nach: „Das sieht man doch an den kratergroßen Löchern bei deiner letzte Bohraktion!“

Meine handwerklich unbedarfte Gattin weiß natürlich nicht, dass selbst Profis wie ich mitunter mit der Tücke des Objekts zu kämpfen haben und dass Altbauwände von Natur aus schwierig anzubohren sind: oft stößt man unter einen dünnen Schicht von Putz auf steinharte Mauern, an denen der Bohrhammer gerne abrutscht und dann verheerende Löcher in den darüberliegenden Putz reißt – ein Grund, warum ich bei derlei Tätigkeiten immer einen Spachtel und etwas Spachtelmasse dabei habe.

„Du weißt wohl nicht, dass du es bei mir mit einem Handwerkergott zu tun hast“, weise ich sie zurecht. „Wenn du mir noch nicht mal das zutraust, wozu hast du mich dann geheiratet?“

Meine Liebste muss lachen und verweist mich mit folgender Antwort auf die Plätze: „Wegen gutem Sex; bestimmt nicht wegen deiner handwerklichen Fähigkeiten!“

Ich verkneife mir die naheliegende Bemerkung über die umgangssprachlichen Zusatzbedeutungen des Wortes „bohren“ und finde mich, einigermaßen geschmeichelt, fürs erste ab mit den Zweifeln meiner handwerklichen Kompetenz.

Geschichten die das Leben schrieb: Die Küche, der Kriegsminister und der Wein

Alarm im trauten Heim: Die Frau ist mal wieder der Meinung, dass sie 500 Gramm zu viel auf die Waage bringt und verkündet ab sofort eisernste Entschlossenheit und Disziplin, um fortan auf Wein zu verzichten. Den hat sie nämlich als hauptsächlichen Dickmacher ausgemacht.

Ihr guter Vorsatz hat jetzt schon 48 Stunden gehalten, deshalb bin ich geneigt, ihr diesmal zu glauben. Während wir in der Küche das Mittagessen bereiten (sie bereitet und ich scrolle mich derweil durch News-Portale und Websites), konstatiert sie aus dem Nichts „Also, diese fette Ricarda Lang ist ja wohl eine einzige Witzfigur…“.

Offensichtlich hat sie die beleibte Grünenfunktionärin, bei der das intellektuelle Gewicht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zum physischen steht, in der mittäglichen „Drehscheibe“ gesehen, der Mittagspausen-Standardsendung meiner Herzdame. Ich antworte bestätigend, erwähne aber die Sinnlosigkeit von Rückschlüssen von physischer Erscheinung auf die politischen Handlungen von Machthabern.

Die Frau lässt das alles, während sie mit der Pfanne hantiert, kurz sacken und konstatiert dann: „Ich hab mir ja vorgenommen, eine Zeit lang keinen Wein trinken, deswegen will ich solche Nachrichten gar nicht hören! Sonst will ich sofort die nächste Flasche Wein aufmachen, weil ich denke ‚Scheiss auf die Figur!‘. Also erzähl mir sowas bitte erstmal nicht!“

Geschichten die das Leben schrieb: das Knie und die Klassengesellschaft gehen zum Barbier

Ernüchternder Besuch beim Orthopäden, der einen MRT-Befund auswertet: da ist nichts mehr zu wollen mit dem Knie. Arthrose dritten Grades, multipler Meniskusriss an den Seiten und innen, dauerhafte Bewegungseinschränkung.

„Mit den Schmerzen müssen Sie jetzt leben, wenn sie können. Das muss jeder für sich entscheiden, ob er eine konservative Therapie ausprobiert, mit Bandagen, Schwimmen, Physiotherapie und bei Bedarf Schmerzmitteln – oder eine Operation.“

Der sympathische spanische Orthopäde verschreibt mir gleich mal die entsprechenden Hilfsmittel und lecker Schmerzmedikamente, als ich ihm sage, dass ich vorläufig kein künstliches Kniegelenk eingebaut bekommen möchte. Auf meine Nachfrage nach anständigen Schmerzmitteln, also Opioiden, guckt er mich verdutzt an und sagt: „Die machen aber ABHÄNGIG! Solange Sie mit Ibuprofen gut zurechtkommen, bleiben Sie dabei, wenn nicht, können wir immer noch Novaminsulfon einsetzen…“

Meine Entgegnung, dass eine Abhängigkeit (mir) relativ egal ist, wenn man eine wahrscheinliche Lebenserwartung von weiteren maximal 20 Jahren hat, lässt er nicht gelten. Damit bin ich entlassen und kann direkt in den Sanitätsladen gehen, der sich marktwirtschaftlich konsequent direkt neben der Orthopädiepraxis angesiedelt hat. Dort erwartet mich ein typisches Beispiel der Klassengesellschaft und ihrer Zweiklassenmedizin: die für Kassenpatienten gedachte Kniebandage ist die Billigversion, die außer der günstigen Zuzahlung von zehn Euro keine erwähnenswerte Eigenschaften besitzt.

Leute, die eine anständige Kniebandage von höherem medizinischen und orthopädischen Wirkungsgrad, besser gewebt, insgesamt stabiler und durch und durch höherwertiger, haben möchten, müssen 35 Euro zu zahlen. Dieser Umstand veranlasst mich zu einigen entsprechenden Bemerkungen über die medizinisch Versorgung in der Klassengesellschaft, welche von der Verkäuferin mit einem lapidaren „Das ist eben Demokratie!“ beantwortet wird. Ich zahle zähneknirschend die 35 Euro, streife mir die Kniebandage unter Stöhnen und Ächzen über das kaputte Knie und merke bereits nach wenigen Schritten, dass dies tatsächlich eine Hilfe ist. Somit bin ich also halbwegs versöhnt mit der Ausgabe und gehe meiner Wege. 

Auf all diese schlechten Nachrichten muss ich mir jetzt irgendetwas Gutes tun. Einige Schritte weiter befindet sich ein Barbershop. Ich ergreife die Gelegenheit und lasse meine wuchernde Gesichtsbehaarung von einem syrischen Profi akkurat stutzen und behandeln – eine sehr angenehme Erfahrung. Allerdings ist das Zeug, das er mir nach Abschluss der Prozedur ins Gesicht sprüht, von derartig penetranter olfaktorischer Intensität, dass ich beide vorderen Autoscheiben runterlassen muss, um die Rückfahrt nach Hause zu ertragen.

Dort angekommen, wasche ich mir das Stinkezeug sofort aus dem Gesicht und präsentiere mich der Gattin, die bislang meine Bärtigkeit äußerst kritisch kommentiert („Du siehst aus wie ein Heckenpenner!“) Jetzt findet der Look allerdings ihre gnädige Billigung. An dieser Front also schon mal Entspannung, der Rest wird sich ebenfalls finden. Dass die physische Hülle, die mich durchs Leben trägt, sich zügig dem Haltbarkeitsdatum nähert, ist mir ohnehin bekannt und insofern keine Überraschung. Mein Lebensmotto ist, neben dem Standard „Peace and Harmony in Daily Living“, der ebenso zeitlose Klassiker „Mit den richtigen Drogen lässt sich alles ertragen!“ Darum mache ich mir fürs Erste keine größeren Sorgen über den Verfall meiner körperlichen Hardware.

Geschichten die das Leben schrieb: Flaschensammelnde Armutsrentner

cof

Das „famila“ ist das größte Einkaufszentrum im 5000-Einwohner-Ort Lütjenburg, einer gemütlichen Kleinstadt im Kreis Plön in der „Holsteinischen Schweiz“. Ich stehe mit dem Hund vor dem Haupteingang und warte auf die Frau, die dort die „Besser als gut!“-Einkaufsoptionen erkundet.

Ich werde auf einen alten Mann mit Rollator aufmerksam, der plötzlich neben mir auftaucht und den Abfalleimer nach Pfandflaschen durchsucht. Wobei – so alt ist er vermutlich gar nicht. Ich schätze ihn auf mein Alter oder jünger. Seine langen Haare lassen ihn wie einen alten Hippie aussehen, sein zahnloser Mund verrät ihn als Angehörigen der Klasse, die durch Lohnarbeit und Armut gezwungen ist, zahnersatzfrei durchs Restleben zu laufen. Oder eben am Rollator zu gehen.

Da ich noch einen ganzen Stoffbeutel mit Pfandflaschen im Auto habe, spreche ich ihn an und biete ihm diese an. Wir gehen zusammen zum Auto und kommen ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er eine Rente von 920 Euro bezieht, von der 800 für ein Zimmer im Betreuten Wohnen draufgehen. 250 Euro muss er an Krankenkassenbeiträgen zahlen, so dass er für die Differenz von 130 Euro auf die sogenannte „Grundsicherung bei Hilfebedürftigkeit“ angewiesen ist.

Der Mann hat für den ganzen Rest seines Lebens keinen einzigen Cent für sich selbst übrig, für irgendwelche kleinen Wünsche oder Freuden – und sei es mal eine Flasche Bier oder einen Kaffee irgendwo. Dafür muss er in Papierkörben und Abfalleimern wühlen, um durch das Sammeln von Pfandflaschen ein Taschengeld zu ergattern, das ihm wenigstens zu ein paar minimalen Vergnügungen verhilft und ein bißchen Freude und Abwechslung in seinen Alltag bringt.

Dabei macht mein Gegenüber keineswegs einen depressiven oder frustrierten Eindruck. Er ist freundlich und sachlich, er spricht über seine Situation wie über das Wetter: ist halt so, kann man nichts machen. Er hat sich in sein Los gefügt, doch hinter seinen Worten und hinter seinen Augen ist die Traurigkeit und die Erschöpfung spürbar, die ein solches Leben unweigerlich mit sich bringt.

Ich halte nichts von sozialmoralischen Gegenüberstellungen von Ausgaben für Renten, Pflege, für Soziales allgemein und denen für Aufrüstung, Krieg, Steuergeschenken für Reiche und Konzerne usw. Es ist ja nicht so, dass ein grundsätzlich wohlmeinender Staat aufgrund der Dummheit oder des bösen Willens „der Politiker“ das ganze schöne Geld für Militär und deutsches Unternehmertum ausgibt statt für Kindergärten, Pflegeheime, Sozialwohnungen und Rentner.

Jetzt aber fallen mir die 100 Milliarden Euro ein, die die Ampelkoalition per Federstrich mal eben für Rüstung und Kriegsgerät bereitgestellt hat. Mir fällt das berechnende Geschachere um eine „Kindergrundsicherung“ ein, die von 12 auf 3,5, dann auf 2 Mrd. Euro zusammengestrichen wurde und die dem neoliberalen Arschgesicht, das hierzulande den Finanzminister gibt, Anlass war zu zynischen und rassistischen Bemerkungen über Arme, die erstmal ins Verdienen kommen sollten, bevor sie sich vom Staat alimentieren lassen.

Zum tausendsten Male frage ich ich mich, wieso und wie lange noch ein ganzes Volk sich die Behandlung bieten lassen will, die die besitzende Klasse und ihre politischen Handlanger ihr zugedacht haben: als immer weiter auszuwringende und zu verarmende Manövriermasse der Herrschenden, als Rohmaterial, das für die Reichtumsproduktion der Besitzenden geradezustehen hat.

Die Liebste kommt aus dem „famila“ zurück und ich muss meine Unterhaltung mit dem Rentnerkollegen abbrechen. Er freut sich jedenfalls über die ca. 4 oder 5 Euro in Form von Pfandflaschen in dem Stoffbeutel, den ich ihm aushändige und verabschiedet sich mit einem gut gelaunten „Moin!“

Geschichten die das Leben schrieb: Haus und Hanf 

Im Urlaubsort gehen wir eine Runde durch die Ansiedlung und kommen an einem Haus vorbei, das uns bereits im letzten Jahr auffiel: es war weitgehend fertiggestellt, schon bewohnt, aber sämtliche Zufahrten, Vorgarten, Eingangsstufen zur Haustür usw. fehlten, überall ragten Rohre und Kabel aus der Erde, Auto, Kinderroller und Fahrräder standen auf einem improvisierten Schotterplatz – kurzum: das Ganze wirkte wie das Projekt einer jungen Familie, der kurzfristig die finanzielle Puste ausgegangen war.

Diesmal, als wir zum ersten Mal wieder an dem Haus vorbeikommen, sieht alles haargenau wie im letzten Sommer aus: derselbe unfertige Zustand, derselbe Schotterplatz, dieselbe Holzpalette vor der Haustür als Ersatz für eine Treppenstufe.

Wir mutmaßen über die Gründe und sinnieren über Teuerung und Inflation, gestiegene Baustoff- und Handwerkerpreise u. ä.

Am nächsten Abend dieselbe Runde, derselbe Anblick, man hört Kinderstimmen, der Abend ist milde, die See ist fast unhörbar, so wenig Wellengang hat es heute Abend.

Die Liebste, die mit dem Hund ein paar Meter vorausgegangen ist, blickt in Richtung des Hauses, bleibt abrupt stehen und wartet, bis ich zu ihr aufgeschlossen habe.

Sie deutet mit einer Kopfbewegung in Richtung Haus und sagt: „Ey, kein Wunder dass das Haus nicht fertig wird! Der sitzt da und kifft!“

Tatsächlich hockt der junge Familienvater und Bauherr (ich nehme an, dass er das ist) an der Längsseite seines Eigenheimes auf dem Baustellenboden und zieht gemütlich an einem Joint, dessen Rauchschwaden unverkennbar duftend bis hin zu mir ziehen.

Ich grinse ihn an, laufe weiter und stelle mir vor, um wieviel angenehmer ein solides High auch eine finanzielle Durststrecke macht – solange jedenfalls, wie es noch für das beliebte Kräutlein reicht. Andrerseits könnte einem auch die cannaboid geschärfte Sinneswahrnehmung einen Strich durch die Rechnung machen und den Anblick des tristen Baustellenchaos rund um das traute neue Heim zu einer Herausforderung ästhetischer Art machen. Wer weiß das schon…

Ich wünsche dem  kiffenden Hausherrn jedenfalls einen unversiegbaren Nachschub an THC-haltigen Pflanzenprodukten und die nötigen finanziellen Mittel, um sein Häuschen auch äußerlich und rundherum zu vollenden.