Geschichten die das Leben schrieb: Schwiegermutter fürchtet Russenangriff/1941 revisited

Manchmal bricht die Welt des normalen Irrsinns in mein Refugium aus informierter Verständigkeit und kultivierter Dezenz ein; in das Refugium, in das ich mich wenigstens in meinen eigenen vier Wänden, umgeben von Stimmen der Vernunft und Quellen der Inspiration, gewohnheitsmäßig zurückziehen kann vor dem Ansturm der Dummheit und Grobheit, mit der die imperialistische Barbarei sich selbst inszeniert und die Massen in unmündiger Abhängigkeit hält.

Die Frau schwebt vorbei, offensichtlich auf dem Weg von einer ihrer periodischen Fernsehkonsumphasen in die weitläufigen Weinkeller unserer Behausung. Sie lässt ein tiefes Seufzen erklingen, so als hätte sie mental gerade einem monumentalen Berg aus Ignoranz und Verblödung erklimmen müssen. „Die glauben wirklich alle, dass Russland uns demnächst angreifen wird!“,  kommentiert sie entnervt den anscheinend soeben gesehenen Unrat, der sich täglich aus Staats- und Konzernmedien in die Gehirne der Leute ergießt.

Da ich meine bodenständige Liebste kenne, wundere ich mich, dass sie ein solches politisches Thema überhaupt einer Erwähnung wert befindet. Sogleich werde ich aber vertraut gemacht mit dem eigentlichen Grund ihrer besorgten Entnervtheit: „Meine Mutter glaubt das auch! In dieser Generation haben die alle dieses Feindbild vom vergewaltigenden, brutalen Russen, der vor der Tür steht und demnächst einmarschiert…“

Dass die 85-jährige Schwiegermutter, eine westdeutsche Unternehmertochter, die Zeit ihres Lebens nie gearbeitet hat, solche Schreckensgeschichten glaubt, wundert mich nicht. Sie ist der Prototyp der rheinischen Kleinbourgeoisie, deren Weltbild irgendwo zwischen Adenauer, Kirche, Schützenverein und Karneval verdrahtet ist. Zweifler an ihrer geordneten Bürgerwelt sind für sie verdächtige Figuren, die vermutlich psychologisch oder – noch schlimmer – kommunistisch deformiert sind. Auch ich zähle dazu, finde aber durch meine Arbeit im Pflegeheim, also mit Leuten wie ihr, in ihren Augen ein gewisses Maß an Gnade. 

Mein Schwiegervater, ein freundlicher, ruhiger und nahezu unsichtbarer Zeitgenosse, der vollständig unter dem Pantoffel seiner Gattin steht, hat die typische Biografie eines Ostflüchtlings. Geboren und aufgewachsen in Ostpreußen, verlor er seinen Vater im Krieg, eine Schwester wurde „von den Russen verschleppt“ und ward nie wieder gesehen, seine Mutter überlebte der Familiensage nach Vergewaltigungen durch marodierende Soldaten der Roten Armee. Über all diese Themen spricht der fast 90jährige, der gegen Ende des Krieges mit seiner Mutter nach Düsseldorf kam, nie; jedenfalls nicht mir gegenüber. 

Seine Gattin dagegen ist umso überzeugter, dass „vom Russen“ nur Böses zu erwarten ist. Ich erinnere mich, wie der Schwiegervater mir vor zwei Jahren, als der Ukraine-Konflikt in die Phase der SMO eintrat (für Staats- und Konzernmedienkonsumenren der „Beginn des Krieges“), einmal im überzeugten Tonfall eines Tagesschaukommentators versicherte, dass „der Putin unberechenbar“ sei. Das hatte er seiner Tageszeitung entnommen, der „NGZ“ (Neuss-Grevenbroicher Zeitung), einem ländlich-reaktionären Ableger der biederen und tiefschwarzen „Rheinischen Post“, einem der Sudelblätter der Funke-Mediengruppe.

Meine Schwiegereltern und die rheinischen Klein- und Mittelschichtsbürger, in deren Kreisen sie sich bewegen und zu denen sie gehören, sind die exemplarischen Vertreter des westdeutsch sozialisierten Menschenschlags, der in der Alt-BRD, vom Rheinland ausgehend, den Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“ mental besiedelte und formte.

Ihr Russenhass ist in den Beton ihrer Überzeugungen gegossen und bestätigt sich für DIESE Generation mit DIESEN Erfahrungen ganz von selbst; schließlich haben sie „es ja selbst erlebt“. Die kleine Nebensächlichkeit, dass sie bzw. ihre Eltern als brave und willfährige Untertanen beim Krieg gegen das russische Untermenschentum und für Lebensraum im Osten eifrig dabei waren, ist ihnen ein wenig entfallen.

Der Umstand ihrer Teilnahme am faschistischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion (ob als Wehrmachtssoldaten oder als Volksgenossen an der Heimatfront), der 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben gekostet hat, wird rationalisiert durch das klassische Klagelied des Kleinbürgers, der ja „das alles gar nicht gewusst hat“ oder wenn, dann doch „gar nicht hätte machen können“.

Gerechterweise muss man sagen, dass diese Generation zur Zeit des Faschismus im Kindesalter war. Allerdings wurden ihre Ansichten damals geformt und noch heute sind sie identifiziert mit der Volksgemeinschaft, die seinerzeit auf das Feindbild Russland konditioniert wurde – und bei der die heutige erneute Manipulation des kollektiven Geistes mit Russophobie und Kriegstüchtigkeit gegen Russland bestens verfängt.

Vor allem wird der faschistische Terror speziell gegen Russen und Kommunisten völlig in den Schatten gestellt (und damit praktisch entsorgt) durch die ungleich schlimmere Tatsache, dass es bei der Befreiung Europas auch zu Übergriffen und Vergewaltigungen durch Soldaten der sowjetischen Armee gab. Dass es in allen Armeen der Alliierten zu solchen Vorfällen gegenüber der Bevölkerung des faschistischen Gegners kam, bleibt unerwähnt, ebenso die monströsen Grausamkeiten, die die faschistischen Heere vor allem in der Sowjetunion begingen.

Genauso wie der Ukraine-Krieg vor dem 24.02.2022 keine Vorgeschichte kennt, gab es zu Flucht, Vertreibung und Vergewaltigung durch russische Soldaten keine Vorgeschichte. Dass vor 1945 ein ganzer vom deutschen Faschismus begonnener Weltkrieg stattgefunden hatte, wird einfach ausgeblendet. Der deutsche Untertan weiß sich mit seiner Obrigkeit einig: Das Ur-Böse, verkörpert durch den Russen, lauert auch heute wieder und bedroht unsere Freiheit.

Die fügsame Dummheit gewöhnlicher Kleinbürger mag noch nachvollziehbar und verständlich sein, vor allem wenn es sich um Vertreter einer Generation handelt, die den Umgang mit Medien und Informationsquellen außerhalb staatlichen Fernsehens und Konzern-Zeitungen nicht gewohnt ist. Dass heutige Politiker erneut und absichtlich russophobe Schauergeschichten, die der faschistischen Gräuelpropaganda gleichen, gezielt zur Mobilisierung der Bevölkerung für Aufrüstung und Krieg einsetzen, ist eine andere Sache. Die kriegshetzerischen Lügen der Scholze, Baerbocks, Steinmeiers, Pistorius und wie sie alle heißen sind so berechnend wie ihre Ziele – die Vernichtung Russlands (neudeutsch „Die Ruinierung Russlands“) – den Zielen ihrer Vorgängerregierung aus den 1930er und 1940er Jahren gleichen.

Dank euch, Befreier!

Jeder Satz ein Treffer. Danke, Arnold Schölzel!

„In Frankreich, in dessen Hauptstadt der Name der Metrostation „Stalingrad“ nie geändert wurde, ist auch 2023 der 8. Mai, die „Fête de la Victoire“, ein gesetzlicher Feiertag. In Berlin hatte dagegen der damalige Senat aus SPD, Grünen und Die Linke vor einem Jahr verboten, am 8. und 9. Mai sowjetische Fahnen zu zeigen, und das mit einem riesigen Polizeiaufgebot durchgesetzt. Sie wollen sich den Marsch in ihren nächsten Weltkrieg nicht stören lassen. Um so wichtiger ist es, an diesen beiden Tagen 2023 zu bekunden: Dank euch, Befreier!“

https://rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2023/RF-304-05-23.pdf