Die „Tagesgruppe Demenz“ ist heute wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, bzw. erinnert an das Kinderlied von den Zehn kleinen Negerlein: einer muss mal, die nächste ist müde und will aufs Zimmer, der dritte wird vom Physiotherapeuten abgeholt, die vierte muss zum Blutdruckmessen oder zum Wiegen – von neun Leuten waren’s jedenfalls irgendwann nur noch vier.
Seit um 7:15 der erste Teilnehmer erscheint bin ich mit den Leuten zusammen. Als gegen 9:30 alle Anwesenden gefrühstückt haben, begleitet von ständigen Unterberechungen und einem dauernden Raus und Rein, ist die Energie im Raum chaotisch und zerstreut. Das Wetter trägt seinen Teil zum Stress bei; es ist drückend und stickig, wenn auch zum Glück nicht zu heiß.
Frau F. kommt mir heute optisch anders vor als sonst. Ihr Gesicht wirkt kindlicher und älter zugleich. Plötzlich geht mir ein Licht auf: sie hat ihre Zahnprothese nicht drin!
Es ist eigentlich Aufgabe der Pflegekollegen, die die Bewohner aufwecken, waschen und anziehen, auch dafür zu sorgen, dass Gebiß und Hörgeräte eingesetzt sind.
Ich schaue Frau F. an, die bereits ein ganzes Brötchen ohne sichtbare Probleme verzehrt hatte, und frage sie, ob sie nicht ihre Zähne vermissen würde. „Wie? Die Zähne? Wirklich??“ – sie greift sich in den Mund und stellt anscheinend zum ersten Mal heute fest, dass sich die Zähne nicht an ihrem üblichen Platz befinden.
Die labbrigen Gummibrötchen, über die sich die Bewohner in der Regel verärgert beschweren, scheinen diesmal einen positiven Effekt gehabt zu haben. Frau F. konnte sie problemlos auch ohne Zähne verspeisen. Ich rufe eine Pflegekraft herbei und frage, wieso die Frau heute keine Zähne im Mund hat. „Ja, irgendwie waren die nicht da… ich konnte die nirgends finden“, gibt die gestresste Kollegin an. Ich vermute, sie hatte einfach keine Zeit um zu suchen.
Fürs Erste müssen wir aber damit leben, dass Frau F.s Zähne verschwunden sind. Das ist natürlich eine spannende Geschichte, eine zwischen Kriminalfall und Abenteuerroman, die wir sogleich aufgreifen und ausspinnen: Haben sich die Zähne etwa selbständig gemacht? Sind sie auf der Flucht? Und wenn ja: warum? Was ist ihnen widerfahren?
Meine Schützlinge sind angetan von der Idee, dass die Zähne sich von alleine auf die Socken gemacht haben und auf eigene Faust die Welt erkunden. Das ist genau die absurde Situationskomik, die bei dementen Menschen gut ankommt. Gleichzeitig machen sie sich natürlich zusammen mit Frau F. Sorgen, dass den kleinen Kameraden Ungemach drohen könnte, jetzt, wo sie so allein und verloren in die große Welt geraten sind.
Nach 5-sekündiger eingehender Nachforschung liegt der Tathergang klar vor mir: die Zähne haben sich gelangweilt und sind kantapper, kantapper in den Wald hinein, wie einst der dicke fette Pfannekuchen. Dort lauern allerlei Gefahren, vor allem vom schlauen Fuchs, der die Zähne dummerweise als Beute betrachtet. Der Hase dagegen lässt sich vom Geklapper der Zähne in die Flucht schlagen. Was werden die armen Zähne so ganz allein im Wald jetzt anstellen? Sie fürchten sich ein bißchen, denn es ist Nacht, und vom Himmel blinkt die bleiche Sichel des Mondes….
An dieser Stelle bricht die abenteuerliche Geschichte der Zähne abrupt ab, denn die Zeile mit der bleichen Mondsichel entstammt dem „Capri-Fischer“-Lied von Rudi Schuricke, das jeder hier auswendig kennt. Jetzt steht als erstmal eine Musik- und Gesangsrunde an.
Wir spielen und singen ein paar Schlager; Frau N. fragt nach irgendeinem Lied, von der ihr gerade eine Verszeile einfällt und nach zwei, drei Schlagern landen wir bei den Seemannsliedern von Freddy Quinn. Wir singen, erzählen, schwelgen in Erinnerungen an vergangene Zeiten, vor allem aber freuen sich die Teilnehmer, dass sie die Lieder kennen und die Texte mitsingen können. In all der Verlorenheit und Unerklärlichkeit des dementen Geistes ist es umso wichtiger, dass die Fragmente der Erinnerung, die erhalten geblieben sind, gepflegt und aktiviert werden.
Mit Musik geht das erfahrungsgemäß am besten – selbst Demente in den Endphasen ihrer Erkrankung erinnern sich an Melodien und häufig auch an Texte der ersten Lieder, die sie kennengelernt haben.
Durch die Seemannslieder inspiriert sprechen wir auch über Seemansgarn. Das wiederum führt uns direkt zum „Fliegenden Holländer“, wohl die bekannteste Seemanns-Sage. Da ich selber nicht ganz firm bin, was die Details dieser Story betrifft, lese ich meiner Runde einen kurzen Erklärtext vor. Darin heisst es über Bernard Fokke, das historische Vorbild für die Sagenfigur des Fliegenden Holländers, unter anderem: “Die einen nannten ihn einen Zauberer. Andere sprachen von einem Bund mit dem Bösen und dergleichen. Dieser Glaube wurde noch gestärkt durch Fokke’s ganz ungewöhnliche Größe und Körperkraft, durch ein höchst abschreckendes Äußere und ein rohes zurückstoßendes Benehmen, so wie seine Gewohnheit, bei den geringsten Hindernissen fürchterlich zu fluchen.“
Meine Runde ist fasziniert. Um ihre Fantasie bildlich zu unterstützen, male ich ihnen den raubeinigen Kapitän aufs Flipchart und gebe ihnen ein paar Beispiel für kräftiges Fluchen, die ich hier keinesfalls wiedergeben kann und will. Das finden alle klasse, lachen und sind beeindruckt von Käpt’n Fokke, der auf meiner Zeichnung gerade den Kombüsen-Smutje Hein Mück zusammenstaucht, weil der die Kartoffeln zu dick geschält hat.
Nur Herr V., der ganz vorne, direkt neben dem Flipchart, sitzt, hat irgendein Problem. Während ich zeichne, zupft er mich am Hemd und versucht, seinen Einwand zu artikulieren. Da seine Aussprache kaum verständlich ist, ist das keine einfache Angelegenheit. „Holzschuh zu!“ höre ich schließlich raus, und er wiederholt diese Worte immer wieder, wobei er mich am Hemd zupft und auf die Tafel zeigt. Jetzt kapiere ich, was er meint: die Holzschuhe, die ich dem Käpt’n und dem Smutje gezeichnet habe, sind hinten offen. Die Original holländische Holzpantinen – die Klompen – sind hinten geschlossen!
Dieser darstellerische Lapsus hat Herrn V. dermaßen gestört, dass er mit all dem Nachdruck, zu dem er fähig ist, mich darauf aufmerksam macht. Ich korrigiere also meinen Fehler und bestätige vor der Runde, dass Herr V. selbstverständlich Recht hat.
Inzwischen betritt die Wohnbereichsleiterin den Gruppenraum, um mal nach dem dementen Teil der ihr anvertrauten Bewohnerschaft zu schauen. Sie erfährt von dem Waldabenteuer der Zähne und kommentiert: „Ach was! Die sind oben auf dem zweiten Regal in einer Plastikdose…“
Somit ist auch dieses Rätsel gelöst, wobei offen bleibt, ob die Zähne nie fortgelaufen waren oder ob sie nach bestandenen Abenteuern lieber wieder zurück in Frau F.s Zimmer geschlichen sind. Ein Praktikant wird nach den Zähnen geschickt und keine 3 Minuten später sind die ausgebüxten Racker wieder ordnungsgemäß im Mund von Frau F. – gerade rechtzeitig zum Mittagessen, das jetzt ansteht. Die weichen Kohlrouladen mit Hackfleischfüllung plus Kartoffeln allerdings, die heute auf dem Menüplan stehen, hätte sie auch ohne die Zähne locker weggefuttert.