Geschichten aus dem Pflegeheim: die Fronleichnamsprozession

Feiertagsdienst am katholischen Fronleichnam in einer evangelischen Einrichtung. Der Tag beginnt schon mit einer Art innerer Kreuzigung für eine meiner „Tagesgruppen“-Schützlinge, die 91-jährige Frau Sch. Während ich im Frühstücksraum die Lage sichte, Tische eindecke und die Anwesenden erstmal begrüße, öffnet sich die Tür zu Frau Sch.‘s Zimmer – es liegt direkt neben dem Speiseraum – und eine Pflegekraft verläßt den Raum mit den aufmunternden Worten „Und jetzt schön frühstücken gehen!“ an Frau Sch.

Ein paar Sekunden später taucht eine völlig verwirrte und konsternierte Frau Sch. auf und steckt den Kopf aus dem Türrahmen. „Was ist denn hier los? Sowas hab ich ja noch nie erlebt!!“ sagt sie, den Tränen nah. „So können die doch nicht mit mir umgehen! Ich weiß überhaupt nicht mehr, was los ist!“

Ich ahne, dass es hier nicht um ein etwaiges unangemessenes Verhalten der Pflegekraft geht, sondern um die inneren Abgründe von Frau Sch. Also nehme ich sie erstmal in den Arm und frage, was passiert ist – obwohl ich weiß, dass gar nichts passiert ist außer Erschrecken, Nicht-Begreifen und Verunsicherung über Frau Sch.s Verlorenheit in der eigenen inneren unbekannten, immer diffuseren Fremde an diesem Morgen.

Ich weiß gar nicht, wer ich bin! Ich glaube, ich brauch einen Psychiater. Was stimmt denn mit mir nicht?“ Sie schaut mich tränenüberströmt an. „Ich bin doch sonst eine fröhliche Person, aber heute stimmt gar nichts! Ich kann mich auch gar nicht wehren!“

Das kann ich gut verstehen“, versichere ich ihr. „Man fühlt sich wie ein winziger Tropfen in einem riesigen Ozean, der einen verschluckt…“

Jetzt schaut sie mich an und wirkt fast erleichtert. „Ja, genau!“, sagt sie, und bekräftigt: „Ich bin bloß eine alte Frau!“ – so als würde das alles erklären, weil eine einzige kleine alte Frau gegen die Gesamtheit eines komplett unverständlichen und ständig weiter zerbröselnden Universums ja sowieso nicht ankommt.

Sie ist jetzt jedenfalls etwas entspannter und bittet mich, ihr die Tränen abzuwischen, weil sie nicht so verheult in den Speiseraum will. Gesagt, getan und den Rest erledigt ein leckerer Kaffee und die feiertäglichen Marmeladenbrote.

Als alle mehr oder weniger fertig gefrühstückt haben, stellt sich die Frage, wie wir den gemeinsamen Vormittag verbringen. Im Grunde habe ich meine wochentägliche „Tagesgruppe Demenz“ hier versammelt, erweitert um zwei oder drei Frühstücksgäste aus dem Wohnbereich.

Da Fronleichnam ist, bietet sich zum Einstieg das „Warum wird dieser Tag überhaupt gefeiert“-Ratespiel an. Das weiß natürlich keiner, auch die allerkatholischsten Leute nicht. Allerdings wissen sie das schon bei Weihnachten oder Ostern kaum oder gar nicht. Ich muss ihnen also auf die Sprünge helfen. Natürlich hat jeder schon mal den Begriff „Fron“ oder „Fronarbeit“ gehört, und was ein Leichnam ist, ist auch jedem klar. Sollte der Feiertag etwa bedeuten, dass jemand so lange Fronarbeit leisten muss, bis er tot zusammenbricht und als Leichnam liegen bleibt?

Diese auf den ersten Blick naheliegende Erklärung wird von meiner Runde nach kurzem Nachdenken verworfen, da man weiß oder ahnt, dass es mal wieder irgendwas mit Jesus zu tun hat, und der starb ja am Kreuz und nicht aus Erschöpfung von zu viel harter Arbeit. Ich löse das Rätsel und erzähle kurz und in einfachen Sätzen, worum es bei dem Feiertag geht und welches Ereignis des Neuen Testaments da begangen wird. Dass der Jesus mit seinen Freunden gerne aß und trank, leuchtet jedem ein; dass er angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung seine Jünger bat, in Zukunft beim Essen und Trinken an ihn zu denken, versteht auch jeder.

Wir haben zwar gerade gefrühstückt und das Brot somit schon „gebrochen“, und Wein gibt’s um die Uhrzeit natürlich erst recht nicht, aber wir prosten uns mit erhobenen Kaffeetassen zu und lassen uns und Jesus hochleben.

Nun fällt Frau N. ein, dass zu Fronleichnam immer Prozessionen stattfinden, bei denen Wald und Feld und Flur und Gemarkung gesegnet wird. Das ist ein super Hinweis, den ich gerne aufgreife. Ich verkünde meiner Truppe, dass wir aus Anlass des hohen Feiertages heute unsere eigene Prozession machen werden und frage in die Runde, was man für eine anständige Prozession so bräuchte.

In kürzester Zeit stehen diese Ingredienzen am Flipchart:

– Baldachin

– Kerze

– Kreuz

– Marienstatue

– Weihrauch

– Glocke

– Segnungs-Stab

Bis auf den Weihrauch haben wir tatsächlich alles im Haus. Ich schicke einen Kollegen los, einen Regenschirm besorgen: der wird unser Baldachin. Eine Kerze ist kein Problem; wir haben sogar einen verglasten Kerzenhalter – offenes Feuer geht aus Sicherheitsgründen nicht. Als Glocke muß uns die Stammtischglocke dienen, die ich mal für die Frühschoppen- und Stammtisch-Runden angeschafft habe.

Eine hölzerne Marienstatue von etwa 1,50 m Höhe steht tatsächlich im Keller der Einrichtung, seit die Besitzerin vor etwa 6 Monaten verstarb. Bleibt der Segnungs-Stab: ich meine mich zu erinnern, dass die Priester bei solchen Prozessionen mit irgendeinem Stab, an dem vorne ein Tuch oder ähnliches zum Wedeln befestigt ist, die Segnungen vornehmen. So greife ich mir den Gehstock eines Bewohners und schaue in Frau Sch.s Zimmer nach einem geeigneten Wedel-Utensil. Ein Damenstrumpf erfüllt den Zweck aufs Vorzüglichste.

Wir beratschlagen kurz und die Runde ist der Meinung, dass wir angesichts unserer echten Marienstatue ruhig auf das Kreuz verzichten können. Wir haben zwar eins unten im Großen Speisesaal, aber das ist zu schwer zum Rumtragen. Jetzt kann unsere Prozession beginnen!

Da die anwesenden Bewohner alle nicht mobil sind, müssen die Kollegen zum Prozessieren ran. Der zweite für heute eingeteilte Mitarbeiter des Sozialen Dienstes wird zum Kerzenträger, der muslimische Praktikant des Wohnbereiches wird als Statuenschieber und Baldachinhalter in christliche Gebräuche eingewiesen, ich bilde den Schluss der Prozession mit dem Segnungs-Stab. Die Glocke wird von der darüber hocherfreuten Frau N. geschlagen.

Dank Apple Music ist auch sogleich die passende Musik bei der Hand, und zu den Klängen von „Lauda Sion Salvatorem: Sequentia (Fronleichnam)“ drehen wir drei Runden durch den Speisesaal des Wohnbereiches. Der schöne gregorianisch anmutende Chorgesang ist wie geschaffen für meine Segnungen, die ich musikalisch versiert und melodisch akkurat allen und jedem spende.

Nachdem jeder Anwesende, das Haus selber, die Ortschaft sowie der gesamte Erdball meinen Fronleichnamssegen empfangen hat, wirken die Bewohner gelöst und beschwingt über das Zinnober, das ich keineswegs als religiöse Persiflage aufgeführt habe, sondern als unterhaltsames, aber ernstgemeintes Spektakel. Katholische Hardliner mögen so etwas als Blasphemie ansehen; ich selber billige meiner Pflegeheim-Prozession mindestens soviel Gültigkeit zu wie ihren „offiziellen“ Pendants.

Damit es nicht zu kirchlich wird, und weil es in Strömen regnet, wenden wir uns musikalisch aber wieder eingängigerem Liedgut zu und spielen und singen alle möglichen Songs, die mit Regen zu tun haben – schon wieder Gelegenheit für eine kleine Rate-Runde. Schon naht die Mittagsstunde und der Raum muss wieder anderen Zwecken gewidmet werden. Als ich die Marienstatue hinausschiebe, bemerke ich die anerkennenden und gut gelaunten Blicke vieler Anwesender – nicht mir geltend, sondern der schönen, fast lebensgroßen Holzfigur.

Frau Sch., morgens noch todtraurig und aufgelöst, wirkt jetzt munter und beglückt über die angenehme Abwechslung. Sie isst ihr Mittagessen mit Appetit und bedankt sich, als ich sie aufs Zimmer bringe und in ihr Bett lege, nochmal bei mir. Irgendetwas in ihr ist wieder „eingerenkt“, vielleicht sogar durch das Ritual in Harmonie mit der Situation gebracht worden. Morgen oder schon heute Nachmittag kann sich das bereits wieder ändern, aber in diesem Moment begibt sich eine zufriedene und sehr entspannte Frau Sch. zum Mittagsschlaf.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Lätzchen für die Kranken

Wochenenddienst im Wohnbereich 3. Da feiertagsbedingt mal wieder keinerlei Personal für die Küche aufzutreiben ist, bin ich drei Tage hintereinander für Frühstück und Mittagessen dieses Wohnbereiches zuständig. Gleichzeitig wird von mir erwartet, dass ich in den verbleibenden knapp 90 Minuten zwischen den Küchendiensten ein wohnbereichsübergreifendes Angebot, also eins für ALLE Bewohner der Einrichtung, auf die Beine stelle.

Das Angebot selber ist kein Problem; zur Not improvisiere ich mit Hilfe eines Flipcharts und ein paar Stiften sowie einer geeigneten Musik-Playlist irgendein wildes oder weniger wildes Halligalli, das die Leute garantiert unterhält und ihnen den Vormittag erträglicher erscheinen läßt.

Die ZEIT ist das Problem. Zwar ist der Wohnbereich 3 der kleinste der drei Wohnbereiche des Hauses, der Arbeitsanfall im Küchendienst daher überschaubar, aber ich bin der einzige Mitarbeiter des Sozialen Dienstes, der heute Vormittag anwesend ist.

Und das bedeutet, ich muss den Transfer der Bewohner zum Veranstaltungsraum alleine bewältigen: zwei Stockwerke, drei Wohnbereiche, sechs lange Gänge und ca 40 – 50 Bewohner, die zumindest angesprochen werden müssen – wenn auch nur 10 von denen zum Angebot kommen wollen, bin ich pro Person 2-4 Minuten unterwegs. Die meisten sitzen in Rollstühlen, was den Transfer schneller macht, weil ich sie dann ziemlich zügig schieben kann. Diejenigen mit Rollator allerdings brauchen Begleitung quer durchs Haus; darauf, dass sie den Weg alleine finden und von selber zum Angebot kommen, kann man sich bei den wenigsten verlassen.

Das Angebot soll um 10:00 im Großen Speisesaal beginnen, wo diejenigen Bewohner ihre Mahlzeiten zu sich nehmen, die nicht auf den Wohnbereichen oder im Zimmer essen. Um 10:10 habe ich sieben oder acht Bewohner im Saal, die ich alle selber hinbegleiten musste. Ich könnte jetzt noch weiter treppauf-treppab durchs Haus sprinten, um weitere Interessenten einzusammeln, beschließe aber, dass das keinen Sinn macht: erstens kann ich die schon im Saal Versammelten nicht noch länger sich selbst überlassen (sie würden wieder anfangen, in alle Richtungen abzuwandern), zweitens habe ich keine Zeit mehr zu verlieren, denn spätestens um 11:15 muß ich den Saal wieder umräumen, mein Equipment wegbringen und wieder im Wohnbereich sein, um alles für das Mittagessen herzurichten.

Zu allem Überfluß versagt auch noch die Technik im Saal. Das iPad verbindet sich nicht mit dem Beamer, obwohl alles korrekt angeschlossen ist; als es dann klappt, wirft der Beamer ein auf dem Kopf stehendes Bild auf die Leinwand. Damit ist klar, dass jetzt auf jeden Fall Flipchart, Stifte und Improvisation angesagt sind.

Eine Stunde später bin ich zurück im Wohnbereich 3, wo die überforderten beiden Pflegekräfte (eine Fachkraft, eine Auszubildende) alle Hände voll zu tun haben, die 15 oder 16 Bewohner zu versorgen. Sie beklagen sich, dass Frau Sch., eine der BewohnerInnen mit „Hinlauftendenz“, alleine im Speiseraum des Wohnbereichs gelassen wurde – ich hatte die Frau zwar eingeladen, aber sie nicht selber abgeholt und zur Veranstaltung gebracht.

„Hinlauftendenz“ hieß früher (zutreffender) „Weglauftendenz“, was in Zeiten des Versuches, mit Sprache die Wirklichkeit zu korrigieren, nicht mehr erwünscht ist. Besagte Dame ist tatsächlich gelegentlich ausgebüchst, und zwar auf eine Weise, die kaum bemerkt wird, wenn man sie nicht dauernd im Auge behält. Sie wandert einfach gemütlich die Treppe zum Foyer hinab und ist dann blitzschnell durch den Haupteingang verschwunden. Dass an Wochenenden und Feiertagen die Rezeption nicht besetzt ist, würde ihr das Verlassen der Einrichtung noch erleichtern. Schon mehrfach musste Frau Sch. in solchen Situationen von der Polizei aufgegriffen und zurückgebracht werden.

Um Frau Sch. irgendwie am Platz zu halten und ihr ein bißchen Abwechslung zu bieten, haben die Pflegekräfte den Fernseher angestellt und lassen eine YouTube-Naturdoku laufen. Jetzt sitzt allerdings bloß noch die nicht minder demente Frau B. im Raum. Frau Sch. wurde für den Rest des Feiertages von ihrem Gatten abgeholt.

Frau B. sorgt häufig für Heiterkeit bei Betreuern und Pflegekräften, weil sie in ihrer weitgehenden Desorientiertheit und dementiellen Einschränkung großen Wert darauf legt, den Eindruck einer orientierten und gebildeten Dame aufrechtzuhalten. So fragt sie mich zum Beispiel gerne, ob ich auch etwas „für die Dementen“ anbieten würde (zu denen sie sich also eindeutig nicht zählt) oder, wenn ich den Tisch decke, ob das „für die Kranken“ sei – ihre Bezeichnung für die anderen Bewohner.

Sie mischt sich viel und gerne in die Versorgung und Betreuung der Mitbewohner ein, so als wäre sie die Herbergsmutter oder Teil des Mitarbeiter-Teams. „Binden Sie der Frau mal das Lätzchen um!“, weist sie mich an, als ihre Sitznachbarin Platz nimmt – noch einer der verpönten Ausdrücke, denn die „Lätzchen“ sind erstens zehnmal so groß wie ein Baby-Lätzchen und werden zweitens politisch korrekt „Kleiderschutz“ genannt.

Schließlich sind alle versorgt, das Mittagessen ist vorüber, nur noch Frau B. sitzt im Speiseraum und im Fernsehen läuft immer noch die Naturdoku – ohne Ton natürlich, aber das würde bei Frau B. nicht viel ausmachen, da sie nahezu taub ist ohne ihre Hörgeräte (die sie so gut wie nie benutzt).

Sie wirkt fasziniert von den Bildern auf dem großen Monitor. Versonnen schaut sie den Wasser- und Luftbewohnern aus dem Tierreich zu, die in dieser schön gemachten BBC-Dokumentation gezeigt werden.

Lange Zeit kann sie ihren Blick nicht lösen vom Geschehen und scheint von der Unschuld, der Natürlichkeit, der Direktheit und der FREIHEIT der Tiere in den Bann geschlagen. Außerdem ist der Ozean natürlich eine gute Metapher für den Geist; demente Menschen treiben auf einem immer brüchiger werdenden Nachen in einem unbekannten Ozean, in dessen Wellenbewegungen und Stürmen, in dessen Tiefen und Weiten sie sich zunehmend verloren fühlen.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Wer erkennt wen?

Da die Gottesdienste im Pflegeheim momentan Corona-bedingt nicht live stattfinden können, nimmt der örtliche Pfarrer seine Veranstaltungen recht professionell auf und stellt uns einen USB-Stick mit der jeweils aktuellen Ausgabe zur Verfügung.

Diese zeigen wir zu den gewohnten Gottesdienstzeiten nachmittags im Heim auf eigens installierten USB-tauglichen Fernsehgeräten – schließlich ist das Haus eine Einrichtung der Diakonie und auf die Verbreitung des Wortes Gottes wird großen Wert gelegt.

Der Ostermontags-Gottesdienst steht am heutigen Freitag auf dem Programm. Meine Aufgabe ist die Bestückung des Fernsehgerätes mit dem USB-Stick und die Begleitung des Angebotes, das im Speisesaal des Wohnbereiches stattfindet (die drei Wohnbereiche sind wegen der Corona-Pandemie streng getrennt).

Damit komme ich nicht drum herum, mir die Veranstaltung in voller Länge (zum Glück begrenzt auf ca. 30 Minuten) anzutun. Die Musikbegleitung durch zwei Profimusiker ist schon mal nicht schlecht und hört sich eher nach Jazz als nach Kirchenmusik an.

Dann wird’s allerdings schnell unterirdisch: eine künstlich enthusiasmierte Pfarrerin führt, assistiert von einem bärtigen brummeligen Mittvierziger (Typ evangelische Telefonseelsorge), durch das Programm aus Gebeten, Gesangbuch-Liedern, und merkwürdigen, angestrengt munteren und belehrenden Dialogen, die wohl die Predigt ersetzen oder sein sollen.

Die gestenreich deklamierende Kirchenfrau verkündet das Motto dieses Tages, das da lautet „Wer erkennt wen?“. Dabei soll es wohl irgendwie um die Art und Weise gehen, mit denen Menschen sich untereinander erkennen, sowie ihren Christengott und dieser wiederum „die Menschen“. Dabei spielen die beiden Vorbeter eine laienhafte Mini-Vorstellung herunter, in der gefragt wird „Wie erkennt der HERR uns Menschen?“.

Jeder einzelne Satz dieser improvisiert wirken sollenden Einlage muß von den zwei Kirchenleuten abgelesen werden; offensichtlich haben sie selber nichts zu sagen zu diesem Thema, oder können sich nicht einmal bei solch einer essenziellen Fragestellung auf die eigene Intelligenz und Einsicht verlassen, sondern müssen ihre vorgefertigten Glaubenssprechblasen nach Manuskript sprechen.

An dieser Stelle erlöst mich meine zuverlässig schnoddrige Frau H., Teilnehmerin der „Tagesgruppe Demenz“ und unheilig bodenständige Lebenspraktikerin, aus meinem langsam sich manifestierenden Zustand aufgerollter Fußnägel über das fromme Getue der religiösen Vorturnerin. Sie dreht sich schelmisch grinsend zu mir um und bemerkt lakonisch: „Mich erkennst du aber noch, oder?“

Sowieso!“ antworte ich ihr, erleichtert über die Unterbrechung meiner Fremdscham-Qualen, „da blendet mich wenigstens kein Heiligenschein!“

Frau H. grinst sich einen und verfolgt weiter die Gottesdienstsendung, die sie im Gegensatz zu den glaubensfesteren Bewohnern nicht bei den bekannten Liedern und Gebeten mitsingt und -spricht. Ich frage mich, wie ihr mit ihrer dementen Sicht das Ganze vorkommt. Demente Menschen, die mehr über gefühlsmäßige als intellektuelle Wahrnehmung funktionieren, haben in der Regel gute Antennen für aufgesetztes Getue, Unehrlichkeit und Fake News.

Die österliche Andacht geht zu Ende. Die anwesenden orientierteren Bewohner sprechen routiniert das Vaterunser mit, die stärker dementen schauen nur ratlos auf den Bildschirm oder sind gleich zu Beginn eingeschlafen, die Musiker in der Aufnahme beenden das Ganze mit einem wahrhaft Miles Davis-würdigen Orgel-Klarinetten-Duo und ich kann endlich in den Feierabend.

Geschichten aus dem Pflegeheim: die Einschläge kommen näher

Der bisherige relativ gemütliche Tagesablauf unserer Einrichtung (angesichts der Umstände herrscht – bis auf das Besuchsverbot – beinahe Normalbetrieb) ist beendet. In einem Pflegeheim um die Ecke, im Nachbar-Stadtteil Selikum, sind in einem katholischen Pflegeheim 33 Bewohner und 9 Mitarbeiter mit Covid-19 infiziert.

Das fasst unsere Einrichtungsleitung eindeutig und zu recht als Warnschuss auf und erlässt ab sofort folgende Maßnahmen: alle Wohnbereiche werden strikt getrennt, die Bewohner müssen auf ihren Wohnbereichen bleiben. Gemeinsame Veranstaltungen sind gestrichen. Mahlzeiten und Angebote des Sozialen Dienstes finden nur noch wohnbereichsbezogen statt; die Mitarbeiter – Pflege wie Sozialer Dienst – sind für die Zeit ihrer Anwesenheit im Haus nur einem einzigen Wohnbereich zugeordnet. Somit steht eine Neustrukturierung der Angebote des Sozialen Dienstes an, da fast alle Gruppenangebote wohnbereichsübergreifend sind.

Maßnahmen, die NICHT erfolgen: die Ausstattung der Mitarbeiter mit Atemschutzmasken und Handschuhen (bzw. deren obligatorische Verwendung – Schutzhandschuhe jedenfalls gibt es im Hause reichlich, weil die Pflege-Kollegen sie täglich benutzen). Getestet wird auch nicht.

Auf meine Nachfrage belehrt mich die PDL (Pflegedienstleitung), dass das Testen ja ohnehin wenig bringen würde: „Heute werden Sie negativ getestet und morgen infizieren Sie sich…“. Auch würden die Masken nichts nützen und wenn überhaupt nur die FFP2-Masken was taugen, „und ziehen Sie die mal eine Stunde auf, das halten Sie nicht aus, da schwitzen Sie wie blöd…“

Unterdessen verbreitet sich unter den orientierten Bewohnern die Neuigkeit. Ihnen ist klar, das jetzt noch weitergehende Einschränkungen ihres Lebens im Heim auf sie zukommen. Die Dementen, die schon nicht das Abstandsgebot verstehen können und einem munter weiter die Hand schütteln, umarmen oder sonstwie anfassen wollen, spüren sicher auch die insgesamt veränderte Atmosphäre im Haus. Sie können nicht erfassen, was Gründe und Auswirkungen der Veränderungen sind, erfassen aber, DASS etwas anders ist.

Die PDL begründet die Maßnahmen damit, Zustände wie im benachbarten Pflegeheim verhindern zu wollen. „Bei uns ist ja zum Glück noch keiner erkrankt oder infiziert!“ sagt sie mir. Ich so: „Frau G., wie wollen Sie das denn wissen ohne dass getestet wird?“ Frau G. schaut mich an, nickt und schweigt.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Die Bundesmandarine

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Rheinland und Karneval: eine Mischung, der man in diesem Landstrich im Februar unmöglich entgehen kann. Auch in der „Tagesgruppe Demenz“ steht heute, zwei Tage vor Altweiber, eine „Bunte Runde zu Fasching“ auf dem Programm. Allerdings schere ich mich um das ausgedruckte Programm so gut wie nie und mache mit den Leuten das, was mir gerade einfällt und was zur Tagesstimmung meiner Schützlinge passt. Auch die dementiellen Eigenarten meiner Runde erlauben ein großzügiges Vernachlässigen konventioneller Gewohnheiten und jahreszeitlicher Fest- und Feiertage – wobei andrerseits berücksichtigt werden muss, dass gerade solche Fixpunkte wie Fasching, Ostern, Weihnachten etc. wichtig sind für den Erinnerungs- und Orientierungsrahmen dementer Menschen.

Obwohl ich persönlich der Ansicht bin, dass der sparsam faschingsmäßig dekorierte Tagesgruppen-Raum genug Tribut an die Jahreszeit ist, mache ich eine Konzession an die Fünfte Jahreszeit und lese ein seniorentaugliches Jeckengedicht vor. Darin geht es um einen Dicken und einen Dünnen namens Hans und Franz, die ihre Hosen vertauscht haben. Aus der Geschichte entspinnt sich ein Gespräch am hinteren Ende der Tafel, zwischen Frau K. Und Frau C.

Die beiden Sitznachbarinnen sind beide ausgesucht freundlich, waren vormals offenbar eher feine Damen und behandeln sich gegenseitig mit Zuvorkommenheit und Höflichkeit. Frau K.s Wortfindungsstörungen sind so massiv, dass sie bereits in der Mitte jedes Satzes, den sie sagen will, den Faden verliert und die Worte nur noch immer leiser und immer unverständlicher aus ihrem Mund heraus taumeln lässt. Zum Schluß sitzt sie dann meistens mit offenem Mund und erstauntem Blick da, so als ob sie einem entschwindenden Geist hinterherschaut.

Frau C. dagegen beherrscht die Kunst der Täuschung über ihre Demenz in scheinbarer Vollkommenheit. Sie hat sich ein paar Floskeln angewöhnt, mit denen sie souveräne Gesprächsteilnahme simuliert – bei einer ersten Begegnung mit ihr durchaus erfolgreich. „Selbstverständlich“, „Allerdings“, Ja, natürlich“ oder „Das will ich meinen!“ sind ihre Standardsätze, mit denen sie nahezu jedes Gespräch bestreitet (was nicht heisst, dass sie nicht in der Lage ist, in gegebenen Situation durchaus entschieden ihren Willen zu bekunden, z.B. wenn es ums Essen geht).

Die beiden  Frauen haben scheinbar irgendein Detail des Jeckengedichtes mit ihrer persönlichen Geschichte in Bezug gebracht, und Frau K. erzählt ihrer Nachbarin, dass ihr Vater oder Vetter, der Soundso, ja auch bei der Bundesmandarine gewesen sei und dort… Woraufhin Frau K.s bis dahin schon sehr üppiger Redefluss abstirbt und die Zuhörer im Ungewissen lässt, welche Abenteuer der Verwandte auf hoher See alles bestanden haben könnte. Nicht so Frau C. Sie nickt verständnisvoll und sagt so etwas wie “Ja, klar, meiner auch. Da kann man ja auch nichts machen.“ Die unerschütterliche  Normalität, mit der sie auf Frau K.s verkümmernde Satzbauversuche antwortet, gibt Frau K. Wiederum das Gefühl, als vollwertige Gesprächspartnerin wahrgenommen zu werden, was ihr sehr gut tut (sehr oft bringen Pflege- und Betreuungskräfte nicht die Geduld auf, die nötig ist, um Frau K.s zeitlupenartigem Sprechstil zuzuhören, geschweige denn, um daraus etwas Sinnenhaftes zu entnehmen).

Die paar Satzfetzen reichen mir jedenfalls, um sogleich mein Flipchart in Aktion zu bringen und die fantastische Steilvorlage der „Bundesmandarine“ aufzugreifen. Aus Hans und Franz aus dem Jeckengedicht wird Großadmiral Hans-Franz von Kanz, der als Sohn ostelbischer Landjunker früh die Miltärlaufbahn einschlug und, ganz wie sein Vater und Großvater, bereits in jungen Jahren in der Reichs-, und später Bundesmandarine diente. Der Aufgabenbereich der Bundesmandarine ist klar definiert: sie beschützt die Weltmeere vor Piraten, Haifischen und den anderen Mandarinen und Orangen, die im Auftrag fremder Staaten auf See rumschippern. Genau besonders hat es die heldenhafte Bundesmandarine auf die Portemonnaie-Piraten von Panama abgesehen, die zwar nur im Panamakanal ihr Unwesen treiben, dafür aber ganz besonders perfide und diebisch sind und so gut wie jeder alten Dame Panamas schon mal den Geldbeutel geklaut haben.

An dieser Stelle unterbricht mich Frau H., die bis dahin mit aufmerksamem Schweigen und gebanntem Blick zugehört hat, mit dem Ausruf: „Wirklich? Ist das wirklich passiert?“ 

Hier tut sich ein grundsätzliches Dilemma für mich auf: einerseits will ich die Leute nicht mit erflunkerten Geschichten belügen, bzw. ihnen diese als Wahrheit verkaufen. Andrerseits lese ich ihnen auch Märchen vor, die mindestens genauso fantastisch sind. Zudem fragt Frau H. Nicht, weil sie den Wahrheitsgehalt der Piratengeschichte anzweifelt, sondern weil sie wissen will, ob diese Piraten wirklich so diebisch sind wie beschrieben. Immerhin hat sie ohne Umschweife die Existenz einer Bundesmandarine akzeptiert. Im Interesse der Kontinuität meiner Geschichte antworte ich also „Ja klar! Aber mittlerweile sorgt ja die Bundesmandarine für Ruhe und Ordnung dort unten!“, und DAS ist das, was Frau H. und die anderen hören wollen und was der Sache die Bedrohlichkeit nimmt.

Wir wenden uns wieder Hans-Franz von Kanz zu, der leider ein bißchen unterbelichtet ist, was aber nichts macht, da er dank seines adligen Stammbaums schon immer für einflußreiche Posten vorgesehen war. Jedenfalls hat er ein paar Sprachstörungen, die ihn immer die Sätze falsch aussprechen lassen – das kennen meine Leute ja gut von sich selbst. Wenn von Kanz zum Beispiel einen markigen Satz vom Stapel lassen will, kommen ihm die Worte ganz falsch aus dem Munde, und alle lachen dann. Da lacht auch meine demente Runde, denn den Spruch vom deutschen Wesen kennen sie natürlich alle im Original.

Großadmiral von Kanz aber merkt gar nicht, dass sein Wortsalat ihm subversive Aussagen in den Mund legt (meine Schützlinge auch nicht). Schon ist der Vormittag wieder vorbei und in der Kajüte unserer Tagesgruppe bringt der Maat das Pökelfleisch.

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Geschichten aus dem Pflegeheim: Hugo Hörfehler und Dr. Ernst Hinterteil

Wenn mir gar nichts mehr einfällt, um einen Vormittag lang meine demente Truppe zu beschäftigen und zu unterhalten, kann ich immer noch auf spontan-anarchische, frei improvisierte Geschichten zurückgreifen, die mit Hilfe eines Flipcharts, Farbstiften und dem Hin- und Her zwischen mir und der Gruppe aus dem Nichts bzw. meinen Einfällen und den Reaktionen der Anwesenden entstehen.

Heute erscheint uns aus dem Reich der Phantasie der erstaunliche Hugo Hörfehler, der quasi alles mißversteht und in seinem Geist verdreht. Ein bißchen wie meine Schützlinge natürlich, die oftmals – sei es aus Hörschwierigkeiten, sei es aus Gründen ihrer Demenz – ähnliche Probleme haben. Jedenfalls können sie es alle gut nachvollziehen und lachen herzlich über die vielfältigen Wortspielereien und -missverständnisse, die sich aus dieser Ausgangssituation zwangsläufig ergeben.

Da wir nun schon mal beim Thema “Ohren” bzw. Hören sind, kommt es auch noch zu einem Bilderrätsel, bei dem die Anwesenden auf den Begriff “Ar*** mit Ohren” kommen sollten. Nach einigem Nachdenken kommt auch einer aus der Runde auf die Lösung, was wiederum zur verstärkten Erheiterung meiner Truppe beiträgt.

Fast ganz von alleine wird dann daraus das Porträt eines (mir jedenfalls) bekannten Politikers, der für die Deutsche Hinterteil-Partei im Bundestag sitzt und sehr patriotisch für Deutschlands Vorankommen in der Welt der Politik sorgt.  

Als ich in die Runde frage, wer dieser Politiker denn sein könne, antwortet Frau C. spontan: “Der Bundeskanzler!”

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Geschichten aus dem Pflegeheim: Das Schiff auf dem Meer geht unter

Frau H. aus der „Tagesgruppe Demenz“ verliert in letzter Zeit zusehends den Boden unter den Füßen. Ihre innere Welt scheint in solcher Auflösung begriffen, dass sie beinahe permanent eine Unruhe und Getriebenheit in sich hat, deren Ursache ihr nicht klar ist, die sie sich aber mit Machenschaften des Schicksals oder arglistiger Menschen zu erklären versucht.

Jeden Tag berichtet sie über ein anderes Ereignis, das wieder ihr Leben erschüttert und meistens mit Diebstählen, demnächst anstehenden unfreiwilligen Umzügen oder unfreundlicher Behandlung durch Andere zu tun hat.

Sie redet und erzählt fast ohne Unterbrechung; oft durchaus kontextbezogen und als Beitrag zu in der Gruppe stattfindenden Gesprächen, oft aber auch in Form von spontanen Bemerkungen, Liedern und erratischen Erinnerungen an Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn usw., die sie aber alle durcheinander mischt und querbeet miteinander verwechselt.

Heute betrachtet sie eingehend die Deko-Banner an der Wand des Gruppenraumes, auf denen die 9 Teilnehmer der Gruppe abgebildet sind. Dann wendet sie sich an mich und fragt: „Wer ist denn dieser ältere Herr da auf dem zweiten Bild?“

„Der sitzt neben dir, M.“, antworte ich. „Das ist Herr J.!“

Sie wirkt ungläubig und mustert den Sitznachbarn genau. „Nee, da an der Wand, das ist doch der Schauspieler, dieser….“ Mehr fällt ihr aber nicht ein.

„Das sind die Bilder von allen, die hier in der Tagesgruppe sind“, sage ich. „Kuck mal das da (ich deute auf das Porträt von ihr); erkennst du das?“

„Natürlich, das ist meine Schwester!“, bekomme ich zur Antwort. Die Antwort ist relevant, weil sie ein Schlaglicht auf die (Selbst-)Wahrnehmung eines dementiell veränderten Geistes wirft. Ein Wiedererkennen findet statt, auch dass es sich um die eigenen genetische Familie handelt, wird gesehen. Andrerseits ist der Selbstentfremdungsprozess, das Nicht-Wiedererkennen im eigenen Inneren schon so weit vorangeschritten, dass selbst das eigene Bild das eines anderen zu sein scheint: so fremd ist man sich geworden.

Frau H. sitzt eine Weile nachdenklich auf ihrem Stuhl und sagt dann, mehr zu sich selbst als zu irgendjemandem: „Manchmal bin ich so weg von mir… ich fühl mich wie ein Schiff, das immer weiter abgetrieben wird. Und wenn ich die Augen zu mache, geht das Schiff unter…“

Wir beschließen, erst mal eine rauchen zu gehen. Draußen ist Frau H. schon wieder auf einer anderen inneren Umlaufbahn und plaudert munter drauflos von – so vermute ich – Leuten aus vergangenen Zeiten, die ich ihrer Einschätzung nach ja alle auch persönlich kenne und von deren Treiben sie mir berichtet, als seien diese sämtlich meine besten Freunde.

Nach der Zigarettenpause geht ihr Monolog mit anderen Themen weiter, bis eine andere Gruppenteilnehmerin sie unterbricht und aus irgendeinem Grunde fragt: „Wie alt bist du eigentlich?“.

„Ich bin tausend, in acht Wochen!“, verkündet die 85-jährige, wobei nicht ganz klar ist, ob sie das wirklich von sich denkt oder ob sie die Fragestellerin veräppeln will. Ihren Humor hat sie nämlich keineswegs verloren, auch wenn sie offensichtlich in den vergangenen Wochen und Monaten eine Art dementiellen Schub durchgemacht hat, der den Auflösungsprozess ihrer Erinnerung noch verstärkt und ihre Desorientiertheit vertieft hat.

Die Fragestellerin ist allerdings fast taub und versteht die Antwort sowieso nicht; sie lächelt aber zustimmend und fragt als nächstes, was es zu essen gäbe.

Denn jetzt ist Mittagszeit und damit ist alles andere unwichtig und die ganze Truppe freut sich mal wieder aufs Essen.

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Geschichten aus dem Pflegeheim: Märchenstunde

Grimms Märchen sind gelegentlich herrlich absurd, so wie die Geschichte vom „Lumpengesindel“.

Darin zwingen Hähnchen und Hühnchen eine Ente, ihren Wagen zu ziehen, wobei sie unterwegs auf eine Steck- und eine Nähnadel treffen, die beide besoffen sind…

Die ganze Bande kehrt dann zur Nacht in einem Wirtshaus ein und Hähnchen und Hühnchen entpuppen sich als ausgebuffte Zechpreller.

Alles in allem genau das richtige Programm für einen weiteren munteren Vormittag in der „Tagesgruppe Demenz“! 

Geschichten aus dem Pflegeheim: Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz

Interessant für alle, die mit dementen Menschen arbeiten.

Der neue Expertenstandard („Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“) ist eine Art verbindliche Richtlinie zur Qualitätssicherung, die die Pflege und Betreuung von dementen Menschen bundesweit auf eine wissenschaftlich fundierte und an die Bedürfnisse der Betroffenen angepaßte Grundlage stellen soll.

Was in dem Werk drinsteht, bedeutet – theoretisch – nichts weniger als einen Paradigmenwechsel: weg von einer durchführungs-orientierten, hin zu einer person-zentrierten Pflege und Betreuung.

Demenz wird nicht mehr als medizinisches Problem betrachtet, sondern als Frage der Beziehungsgestaltung.

Soweit die Theorie.

Das Ganze liest sich teilweise hochgelehrt und kompliziert und wird in dieser Form von keinem in dem Berufsfeld tätigen Kollegen verstanden. In meiner Einrichtung bin/war ich vermutlich der einzige, der das Werk durchgelesen hat.

Das Problem ist, dass die durchaus positive und humane Vision dieses Expertenstandards das ziemlich exakte Gegenteil der Realität in den Pflegeeinrichtungen ist. Die Arbeitskräfte in diesem Berufsfeld müssen mit immer zu niedrigem Personalschlüssel, Arbeitsverdichtung, Niedriglohn (soweit es die Betreuung betrifft), ausufernder Bürokratie und Dokumentationswahn, und ständigem Geldmangel an allen Ecken und Enden zurechtkommen – wo da die Zeit und die Bereitschaft zu der von dem Expertenstandard geforderten Umorientierung zu Empathie, Beziehungsgestaltung, Zugewandtheit usw. herkommen soll, bleibt das Geheimnis der wohlmeinenden Verfasser des Werkes.

Wie Michael Schneider in seinem Vortrag (als Audio auf der Website eingebunden – Branchenkollegen kann ich nur empfehlen, sich das anzuhören) sagt:

„In einem auf Maximalgewinn getrimmten System kann das große Geld nur da verdient werden, wo am Personal gespart wird; also wird es dort verdient“

https://alzheimer.ch/de/wissen/bildung/magazin-detail/613/der-expertenstandard-koennte-als-satire-durchgehen/

Geschichten aus dem Pflegeheim: In mir drin ist alles verhakt

Frau H. aus der „Tagesgruppe Demenz“ war schon öfters Thema dieser Geschichten; das liegt zum einen daran, dass ihre dementielle Veränderung von ihr selbst als verwirrend, bedrohlich und unverständlich erfahren wird, zum anderen daran, dass sie eine vergleichsweise artikulierte und resolute Person ist, die nicht hinterm Berg hält mit ihren Gefühlen und Eindrücken.

Seit geraumer Zeit beginnt jede Begegnung mit ihr mit einer Klage – oft aufgeregt, manchmal fast verzweifelt – über irgendein Unglück oder eine andere Begebenheit unerfreulicher Art, die ihr gerade widerfahren ist. Heute suche ich sie in ihrem Zimmer auf, um mich für die Zeit meiner arbeitsfreien Tage zu verabschieden und ihr ein paar schöne Feiertage zu wünschen.

Ah, gottseidank dass du kommst!“ empfängt sie mich. „Hier ist alles durcheinander, ich weiß gar nicht, was jetzt schon wieder passiert ist!“. Ein kurzer Rundblick überzeugt mich, dass sie ihre innere Unordnung meint und nicht ihr aufgeräumtes Zimmer.

Komm, wir gehen erst mal eine rauchen, dann kannst du mir erzählen, was los ist!“, biete ich ihr an, was sie dankbar annimmt (Ich duze Frau H. auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, und weil es in vielen Fällen die beste, manchmal die einzige, Methode ist, um demente Menschen „zu erreichen“. Offiziell ist das Siezen aller Heimbewohner vorgeschrieben; die Heimleitung legt diese Vorschrift aus verschiedenen Gründen so streng aus, dass ich in Gegenwart der höherrangigen Vertreter der Einrichtung mich stets anstrenge, beim „Sie“ zu bleiben, um erneute ergebnislose Diskussionen über Sinn und Unsinn solcher Regeln zu vermeiden).

Was ist bloß mit mir los?“, beginnt sie die Unterhaltung nach dem ersten Zug an der Zigarette. „Kannst du mir das sagen? In mir drin ist alles verhakt, ich weiß gar nichts mehr… Heißt das, dass es mit mir zuende geht? In meinem Kopf ist alles durcheinander, ich bin gar nicht mehr dieselbe Person, die ich früher war…“

In ihrer Schilderung spüre ich ihre Ehrlichkeit und überlege kurz, ob ich ebenso ehrlich sein soll und ihr was über Demenz erzählen soll, und dass ihr Krankheitsverlauf genau diese Symptome hervorbringt. Das würde sie aber nur noch mehr verwirren und deprimieren, und so wähle ich andere Worte: „Nee, es geht nicht mit dir zuende, M. (ihr Vorname)! Deine Erinnerungen geraten dir durcheinander und sind teilweise verschwunden, und manchmal fühlst du dich dann völlig verloren und weißt nicht mehr, wo und wer du bist. Aber deswegen bist du immer noch dieselbe Person! Das, was dich ausmacht, ist ja nicht in deinem Kopf, sondern hier drin“, wobei ich ihr mit dem Finger aufs Herz tippe.

Das mag zwar nicht wissenschaftlich korrekt sein, stimmt aber mit der Gefühlswelt der allermeisten Menschen, und derjenigen von dementen Menschen gewiß, überein. Frau H. ist erleichtert und seufzt tief: „Ja, ich hab gehofft, dass du mir das irgendwie erklären kannst… Wenn ich so durcheinander bin, schau ich immer dein Bild an und denk mir, dass du für mich da bist…“

Mit dem Bild meint sie die Grafik eines bunten, lustigen Tiefseewesens mit Kußmund, das ich ihr gestern anläßlich ihres 85. Geburtstages geschenkt habe. Dazu hab ich ihr gesagt, dass sie ein ebenso bunter Vogel wie die gezeichnete Kreatur ist und dass ich ihr wünsche, dass sie sich in der Einrichtung genauso wohl und zuhause fühlt, wie das bunte Meeresgeschöpf im tiefen Wasser am Boden des Ozeans.

Ich erfahre noch, dass ihre Kinder sie an Weihnachten abholen wollen und drei Tage mit ihr nach Hause fahren werden. Mit erstaunlicher Klarheit stellt sie fest: „Da müsste ich mich doch eigentlich freuen, aber das zieht mich nur runter. Das ist momentan zu viel für mich.“ Trotzdem freut sie sich darauf, vermischt aber im nächsten Satz schon wieder verschieden Realitäts- und Zeitebenen: „Die können mich ja jetzt holen; die Chefs hier haben mir gesagt, dass ich nicht mehr zur Schule muß, es ist alles geregelt. Ich muss nicht mehr in die Schule gehen! Und dann noch mein Vater! Der kommt auch; der hat sich jahrelang nicht gemeldet, nie durften wir den sehen und jetzt kommt der mit zu mir!“

Diese Vorstellung will ich ihr nicht nehmen und lasse sie darum unkommentiert, zumal ich weiß, dass Frau H. gerne mal ihren Sohn mit ihrem Vater verwechselt – und ihr Sohn kommt ja tatsächlich an Weihnachten und holt sie ab.

Ihr aufgewühlter emotionaler Zustand hat sich jedenfalls beruhigt und nach der Zigarettenpause begleite ich sie zurück auf ihr Zimmer. Sie drückt mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange und hält mir noch eine rührende kleine Ansprache, in der sie mir schöne Urlaubstage wünscht und darum bittet, dass ich sie kurz anrufe, wenn ich gut nach Hause gekommen bin. Dass sie gar kein Telefon hat, spielt in diesem Augenblick keine Rolle; entscheidend ist das Interesse und die Fürsorge, die sie damit zum Ausdruck bringt.

Ich nehme sie nochmal in den Arm und hoffe, dass sie den sicher aufregenden Aufenthalt bei ihren Kindern gut übersteht. Obwohl sie ihre Kinder liebt und stolz ist auf die zwei Töchter und den Sohn, bedeutet jede Veränderung in der täglichen Routine zunächst mal eine Störung des gewohnten Ablaufes, eine Unterbrechung der geregelten Tagesstruktur, die für demente Menschen nötig ist. Vor allem eine Ortsveränderung kann Menschen, die weder zeitlich noch räumlich orientiert sind, in tiefe Unruhe und Verlorenheit stürzen. Auch bei ihren Kindern kann es Frau H. passieren, dass sie plötzlich jeden inneren Boden unter den Füßen verliert und sich vorkommt wie ein Außerirdischer, der auf einem fremden Planeten gestrandet ist.

Andrerseits ist die Weihnachtszeit mit ihren Ritualen, vertrauten Liedern, Gerüchen, Gedichten usw. ein mächtiger Erinnerungsanker im Gedächtnis auch dementer Leute. Ich versichere Frau H. noch einmal, dass sie sich wirklich freuen kann auf die paar Tage mit der Familie und hinterlasse eine strahlende und entspannte Bewohnerin, deren Welt vorerst wieder in Ordnung ist und die sich jetzt erst mal zum Mittagsschlaf in ihr Bett zurückzieht.