Geschichten aus dem Pflegeheim: Das Schiff auf dem Meer geht unter

Frau H. aus der „Tagesgruppe Demenz“ verliert in letzter Zeit zusehends den Boden unter den Füßen. Ihre innere Welt scheint in solcher Auflösung begriffen, dass sie beinahe permanent eine Unruhe und Getriebenheit in sich hat, deren Ursache ihr nicht klar ist, die sie sich aber mit Machenschaften des Schicksals oder arglistiger Menschen zu erklären versucht.

Jeden Tag berichtet sie über ein anderes Ereignis, das wieder ihr Leben erschüttert und meistens mit Diebstählen, demnächst anstehenden unfreiwilligen Umzügen oder unfreundlicher Behandlung durch Andere zu tun hat.

Sie redet und erzählt fast ohne Unterbrechung; oft durchaus kontextbezogen und als Beitrag zu in der Gruppe stattfindenden Gesprächen, oft aber auch in Form von spontanen Bemerkungen, Liedern und erratischen Erinnerungen an Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn usw., die sie aber alle durcheinander mischt und querbeet miteinander verwechselt.

Heute betrachtet sie eingehend die Deko-Banner an der Wand des Gruppenraumes, auf denen die 9 Teilnehmer der Gruppe abgebildet sind. Dann wendet sie sich an mich und fragt: „Wer ist denn dieser ältere Herr da auf dem zweiten Bild?“

„Der sitzt neben dir, M.“, antworte ich. „Das ist Herr J.!“

Sie wirkt ungläubig und mustert den Sitznachbarn genau. „Nee, da an der Wand, das ist doch der Schauspieler, dieser….“ Mehr fällt ihr aber nicht ein.

„Das sind die Bilder von allen, die hier in der Tagesgruppe sind“, sage ich. „Kuck mal das da (ich deute auf das Porträt von ihr); erkennst du das?“

„Natürlich, das ist meine Schwester!“, bekomme ich zur Antwort. Die Antwort ist relevant, weil sie ein Schlaglicht auf die (Selbst-)Wahrnehmung eines dementiell veränderten Geistes wirft. Ein Wiedererkennen findet statt, auch dass es sich um die eigenen genetische Familie handelt, wird gesehen. Andrerseits ist der Selbstentfremdungsprozess, das Nicht-Wiedererkennen im eigenen Inneren schon so weit vorangeschritten, dass selbst das eigene Bild das eines anderen zu sein scheint: so fremd ist man sich geworden.

Frau H. sitzt eine Weile nachdenklich auf ihrem Stuhl und sagt dann, mehr zu sich selbst als zu irgendjemandem: „Manchmal bin ich so weg von mir… ich fühl mich wie ein Schiff, das immer weiter abgetrieben wird. Und wenn ich die Augen zu mache, geht das Schiff unter…“

Wir beschließen, erst mal eine rauchen zu gehen. Draußen ist Frau H. schon wieder auf einer anderen inneren Umlaufbahn und plaudert munter drauflos von – so vermute ich – Leuten aus vergangenen Zeiten, die ich ihrer Einschätzung nach ja alle auch persönlich kenne und von deren Treiben sie mir berichtet, als seien diese sämtlich meine besten Freunde.

Nach der Zigarettenpause geht ihr Monolog mit anderen Themen weiter, bis eine andere Gruppenteilnehmerin sie unterbricht und aus irgendeinem Grunde fragt: „Wie alt bist du eigentlich?“.

„Ich bin tausend, in acht Wochen!“, verkündet die 85-jährige, wobei nicht ganz klar ist, ob sie das wirklich von sich denkt oder ob sie die Fragestellerin veräppeln will. Ihren Humor hat sie nämlich keineswegs verloren, auch wenn sie offensichtlich in den vergangenen Wochen und Monaten eine Art dementiellen Schub durchgemacht hat, der den Auflösungsprozess ihrer Erinnerung noch verstärkt und ihre Desorientiertheit vertieft hat.

Die Fragestellerin ist allerdings fast taub und versteht die Antwort sowieso nicht; sie lächelt aber zustimmend und fragt als nächstes, was es zu essen gäbe.

Denn jetzt ist Mittagszeit und damit ist alles andere unwichtig und die ganze Truppe freut sich mal wieder aufs Essen.

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