Frau H. aus der „Tagesgruppe Demenz“ war schon öfters Thema dieser Geschichten; das liegt zum einen daran, dass ihre dementielle Veränderung von ihr selbst als verwirrend, bedrohlich und unverständlich erfahren wird, zum anderen daran, dass sie eine vergleichsweise artikulierte und resolute Person ist, die nicht hinterm Berg hält mit ihren Gefühlen und Eindrücken.
Seit geraumer Zeit beginnt jede Begegnung mit ihr mit einer Klage – oft aufgeregt, manchmal fast verzweifelt – über irgendein Unglück oder eine andere Begebenheit unerfreulicher Art, die ihr gerade widerfahren ist. Heute suche ich sie in ihrem Zimmer auf, um mich für die Zeit meiner arbeitsfreien Tage zu verabschieden und ihr ein paar schöne Feiertage zu wünschen.
„Ah, gottseidank dass du kommst!“ empfängt sie mich. „Hier ist alles durcheinander, ich weiß gar nicht, was jetzt schon wieder passiert ist!“. Ein kurzer Rundblick überzeugt mich, dass sie ihre innere Unordnung meint und nicht ihr aufgeräumtes Zimmer.
„Komm, wir gehen erst mal eine rauchen, dann kannst du mir erzählen, was los ist!“, biete ich ihr an, was sie dankbar annimmt (Ich duze Frau H. auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, und weil es in vielen Fällen die beste, manchmal die einzige, Methode ist, um demente Menschen „zu erreichen“. Offiziell ist das Siezen aller Heimbewohner vorgeschrieben; die Heimleitung legt diese Vorschrift aus verschiedenen Gründen so streng aus, dass ich in Gegenwart der höherrangigen Vertreter der Einrichtung mich stets anstrenge, beim „Sie“ zu bleiben, um erneute ergebnislose Diskussionen über Sinn und Unsinn solcher Regeln zu vermeiden).
„Was ist bloß mit mir los?“, beginnt sie die Unterhaltung nach dem ersten Zug an der Zigarette. „Kannst du mir das sagen? In mir drin ist alles verhakt, ich weiß gar nichts mehr… Heißt das, dass es mit mir zuende geht? In meinem Kopf ist alles durcheinander, ich bin gar nicht mehr dieselbe Person, die ich früher war…“
In ihrer Schilderung spüre ich ihre Ehrlichkeit und überlege kurz, ob ich ebenso ehrlich sein soll und ihr was über Demenz erzählen soll, und dass ihr Krankheitsverlauf genau diese Symptome hervorbringt. Das würde sie aber nur noch mehr verwirren und deprimieren, und so wähle ich andere Worte: „Nee, es geht nicht mit dir zuende, M. (ihr Vorname)! Deine Erinnerungen geraten dir durcheinander und sind teilweise verschwunden, und manchmal fühlst du dich dann völlig verloren und weißt nicht mehr, wo und wer du bist. Aber deswegen bist du immer noch dieselbe Person! Das, was dich ausmacht, ist ja nicht in deinem Kopf, sondern hier drin“, wobei ich ihr mit dem Finger aufs Herz tippe.
Das mag zwar nicht wissenschaftlich korrekt sein, stimmt aber mit der Gefühlswelt der allermeisten Menschen, und derjenigen von dementen Menschen gewiß, überein. Frau H. ist erleichtert und seufzt tief: „Ja, ich hab gehofft, dass du mir das irgendwie erklären kannst… Wenn ich so durcheinander bin, schau ich immer dein Bild an und denk mir, dass du für mich da bist…“
Mit dem Bild meint sie die Grafik eines bunten, lustigen Tiefseewesens mit Kußmund, das ich ihr gestern anläßlich ihres 85. Geburtstages geschenkt habe. Dazu hab ich ihr gesagt, dass sie ein ebenso bunter Vogel wie die gezeichnete Kreatur ist und dass ich ihr wünsche, dass sie sich in der Einrichtung genauso wohl und zuhause fühlt, wie das bunte Meeresgeschöpf im tiefen Wasser am Boden des Ozeans.
Ich erfahre noch, dass ihre Kinder sie an Weihnachten abholen wollen und drei Tage mit ihr nach Hause fahren werden. Mit erstaunlicher Klarheit stellt sie fest: „Da müsste ich mich doch eigentlich freuen, aber das zieht mich nur runter. Das ist momentan zu viel für mich.“ Trotzdem freut sie sich darauf, vermischt aber im nächsten Satz schon wieder verschieden Realitäts- und Zeitebenen: „Die können mich ja jetzt holen; die Chefs hier haben mir gesagt, dass ich nicht mehr zur Schule muß, es ist alles geregelt. Ich muss nicht mehr in die Schule gehen! Und dann noch mein Vater! Der kommt auch; der hat sich jahrelang nicht gemeldet, nie durften wir den sehen und jetzt kommt der mit zu mir!“
Diese Vorstellung will ich ihr nicht nehmen und lasse sie darum unkommentiert, zumal ich weiß, dass Frau H. gerne mal ihren Sohn mit ihrem Vater verwechselt – und ihr Sohn kommt ja tatsächlich an Weihnachten und holt sie ab.
Ihr aufgewühlter emotionaler Zustand hat sich jedenfalls beruhigt und nach der Zigarettenpause begleite ich sie zurück auf ihr Zimmer. Sie drückt mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange und hält mir noch eine rührende kleine Ansprache, in der sie mir schöne Urlaubstage wünscht und darum bittet, dass ich sie kurz anrufe, wenn ich gut nach Hause gekommen bin. Dass sie gar kein Telefon hat, spielt in diesem Augenblick keine Rolle; entscheidend ist das Interesse und die Fürsorge, die sie damit zum Ausdruck bringt.
Ich nehme sie nochmal in den Arm und hoffe, dass sie den sicher aufregenden Aufenthalt bei ihren Kindern gut übersteht. Obwohl sie ihre Kinder liebt und stolz ist auf die zwei Töchter und den Sohn, bedeutet jede Veränderung in der täglichen Routine zunächst mal eine Störung des gewohnten Ablaufes, eine Unterbrechung der geregelten Tagesstruktur, die für demente Menschen nötig ist. Vor allem eine Ortsveränderung kann Menschen, die weder zeitlich noch räumlich orientiert sind, in tiefe Unruhe und Verlorenheit stürzen. Auch bei ihren Kindern kann es Frau H. passieren, dass sie plötzlich jeden inneren Boden unter den Füßen verliert und sich vorkommt wie ein Außerirdischer, der auf einem fremden Planeten gestrandet ist.
Andrerseits ist die Weihnachtszeit mit ihren Ritualen, vertrauten Liedern, Gerüchen, Gedichten usw. ein mächtiger Erinnerungsanker im Gedächtnis auch dementer Leute. Ich versichere Frau H. noch einmal, dass sie sich wirklich freuen kann auf die paar Tage mit der Familie und hinterlasse eine strahlende und entspannte Bewohnerin, deren Welt vorerst wieder in Ordnung ist und die sich jetzt erst mal zum Mittagsschlaf in ihr Bett zurückzieht.