
Rheinland und Karneval: eine Mischung, der man in diesem Landstrich im Februar unmöglich entgehen kann. Auch in der „Tagesgruppe Demenz“ steht heute, zwei Tage vor Altweiber, eine „Bunte Runde zu Fasching“ auf dem Programm. Allerdings schere ich mich um das ausgedruckte Programm so gut wie nie und mache mit den Leuten das, was mir gerade einfällt und was zur Tagesstimmung meiner Schützlinge passt. Auch die dementiellen Eigenarten meiner Runde erlauben ein großzügiges Vernachlässigen konventioneller Gewohnheiten und jahreszeitlicher Fest- und Feiertage – wobei andrerseits berücksichtigt werden muss, dass gerade solche Fixpunkte wie Fasching, Ostern, Weihnachten etc. wichtig sind für den Erinnerungs- und Orientierungsrahmen dementer Menschen.
Obwohl ich persönlich der Ansicht bin, dass der sparsam faschingsmäßig dekorierte Tagesgruppen-Raum genug Tribut an die Jahreszeit ist, mache ich eine Konzession an die Fünfte Jahreszeit und lese ein seniorentaugliches Jeckengedicht vor. Darin geht es um einen Dicken und einen Dünnen namens Hans und Franz, die ihre Hosen vertauscht haben. Aus der Geschichte entspinnt sich ein Gespräch am hinteren Ende der Tafel, zwischen Frau K. Und Frau C.
Die beiden Sitznachbarinnen sind beide ausgesucht freundlich, waren vormals offenbar eher feine Damen und behandeln sich gegenseitig mit Zuvorkommenheit und Höflichkeit. Frau K.s Wortfindungsstörungen sind so massiv, dass sie bereits in der Mitte jedes Satzes, den sie sagen will, den Faden verliert und die Worte nur noch immer leiser und immer unverständlicher aus ihrem Mund heraus taumeln lässt. Zum Schluß sitzt sie dann meistens mit offenem Mund und erstauntem Blick da, so als ob sie einem entschwindenden Geist hinterherschaut.
Frau C. dagegen beherrscht die Kunst der Täuschung über ihre Demenz in scheinbarer Vollkommenheit. Sie hat sich ein paar Floskeln angewöhnt, mit denen sie souveräne Gesprächsteilnahme simuliert – bei einer ersten Begegnung mit ihr durchaus erfolgreich. „Selbstverständlich“, „Allerdings“, Ja, natürlich“ oder „Das will ich meinen!“ sind ihre Standardsätze, mit denen sie nahezu jedes Gespräch bestreitet (was nicht heisst, dass sie nicht in der Lage ist, in gegebenen Situation durchaus entschieden ihren Willen zu bekunden, z.B. wenn es ums Essen geht).
Die beiden Frauen haben scheinbar irgendein Detail des Jeckengedichtes mit ihrer persönlichen Geschichte in Bezug gebracht, und Frau K. erzählt ihrer Nachbarin, dass ihr Vater oder Vetter, der Soundso, ja auch bei der Bundesmandarine gewesen sei und dort… Woraufhin Frau K.s bis dahin schon sehr üppiger Redefluss abstirbt und die Zuhörer im Ungewissen lässt, welche Abenteuer der Verwandte auf hoher See alles bestanden haben könnte. Nicht so Frau C. Sie nickt verständnisvoll und sagt so etwas wie “Ja, klar, meiner auch. Da kann man ja auch nichts machen.“ Die unerschütterliche Normalität, mit der sie auf Frau K.s verkümmernde Satzbauversuche antwortet, gibt Frau K. Wiederum das Gefühl, als vollwertige Gesprächspartnerin wahrgenommen zu werden, was ihr sehr gut tut (sehr oft bringen Pflege- und Betreuungskräfte nicht die Geduld auf, die nötig ist, um Frau K.s zeitlupenartigem Sprechstil zuzuhören, geschweige denn, um daraus etwas Sinnenhaftes zu entnehmen).
Die paar Satzfetzen reichen mir jedenfalls, um sogleich mein Flipchart in Aktion zu bringen und die fantastische Steilvorlage der „Bundesmandarine“ aufzugreifen. Aus Hans und Franz aus dem Jeckengedicht wird Großadmiral Hans-Franz von Kanz, der als Sohn ostelbischer Landjunker früh die Miltärlaufbahn einschlug und, ganz wie sein Vater und Großvater, bereits in jungen Jahren in der Reichs-, und später Bundesmandarine diente. Der Aufgabenbereich der Bundesmandarine ist klar definiert: sie beschützt die Weltmeere vor Piraten, Haifischen und den anderen Mandarinen und Orangen, die im Auftrag fremder Staaten auf See rumschippern. Genau besonders hat es die heldenhafte Bundesmandarine auf die Portemonnaie-Piraten von Panama abgesehen, die zwar nur im Panamakanal ihr Unwesen treiben, dafür aber ganz besonders perfide und diebisch sind und so gut wie jeder alten Dame Panamas schon mal den Geldbeutel geklaut haben.
An dieser Stelle unterbricht mich Frau H., die bis dahin mit aufmerksamem Schweigen und gebanntem Blick zugehört hat, mit dem Ausruf: „Wirklich? Ist das wirklich passiert?“
Hier tut sich ein grundsätzliches Dilemma für mich auf: einerseits will ich die Leute nicht mit erflunkerten Geschichten belügen, bzw. ihnen diese als Wahrheit verkaufen. Andrerseits lese ich ihnen auch Märchen vor, die mindestens genauso fantastisch sind. Zudem fragt Frau H. Nicht, weil sie den Wahrheitsgehalt der Piratengeschichte anzweifelt, sondern weil sie wissen will, ob diese Piraten wirklich so diebisch sind wie beschrieben. Immerhin hat sie ohne Umschweife die Existenz einer Bundesmandarine akzeptiert. Im Interesse der Kontinuität meiner Geschichte antworte ich also „Ja klar! Aber mittlerweile sorgt ja die Bundesmandarine für Ruhe und Ordnung dort unten!“, und DAS ist das, was Frau H. und die anderen hören wollen und was der Sache die Bedrohlichkeit nimmt.
Wir wenden uns wieder Hans-Franz von Kanz zu, der leider ein bißchen unterbelichtet ist, was aber nichts macht, da er dank seines adligen Stammbaums schon immer für einflußreiche Posten vorgesehen war. Jedenfalls hat er ein paar Sprachstörungen, die ihn immer die Sätze falsch aussprechen lassen – das kennen meine Leute ja gut von sich selbst. Wenn von Kanz zum Beispiel einen markigen Satz vom Stapel lassen will, kommen ihm die Worte ganz falsch aus dem Munde, und alle lachen dann. Da lacht auch meine demente Runde, denn den Spruch vom deutschen Wesen kennen sie natürlich alle im Original.
Großadmiral von Kanz aber merkt gar nicht, dass sein Wortsalat ihm subversive Aussagen in den Mund legt (meine Schützlinge auch nicht). Schon ist der Vormittag wieder vorbei und in der Kajüte unserer Tagesgruppe bringt der Maat das Pökelfleisch.
