Da die Gottesdienste im Pflegeheim momentan Corona-bedingt nicht live stattfinden können, nimmt der örtliche Pfarrer seine Veranstaltungen recht professionell auf und stellt uns einen USB-Stick mit der jeweils aktuellen Ausgabe zur Verfügung.
Diese zeigen wir zu den gewohnten Gottesdienstzeiten nachmittags im Heim auf eigens installierten USB-tauglichen Fernsehgeräten – schließlich ist das Haus eine Einrichtung der Diakonie und auf die Verbreitung des Wortes Gottes wird großen Wert gelegt.
Der Ostermontags-Gottesdienst steht am heutigen Freitag auf dem Programm. Meine Aufgabe ist die Bestückung des Fernsehgerätes mit dem USB-Stick und die Begleitung des Angebotes, das im Speisesaal des Wohnbereiches stattfindet (die drei Wohnbereiche sind wegen der Corona-Pandemie streng getrennt).
Damit komme ich nicht drum herum, mir die Veranstaltung in voller Länge (zum Glück begrenzt auf ca. 30 Minuten) anzutun. Die Musikbegleitung durch zwei Profimusiker ist schon mal nicht schlecht und hört sich eher nach Jazz als nach Kirchenmusik an.
Dann wird’s allerdings schnell unterirdisch: eine künstlich enthusiasmierte Pfarrerin führt, assistiert von einem bärtigen brummeligen Mittvierziger (Typ evangelische Telefonseelsorge), durch das Programm aus Gebeten, Gesangbuch-Liedern, und merkwürdigen, angestrengt munteren und belehrenden Dialogen, die wohl die Predigt ersetzen oder sein sollen.
Die gestenreich deklamierende Kirchenfrau verkündet das Motto dieses Tages, das da lautet „Wer erkennt wen?“. Dabei soll es wohl irgendwie um die Art und Weise gehen, mit denen Menschen sich untereinander erkennen, sowie ihren Christengott und dieser wiederum „die Menschen“. Dabei spielen die beiden Vorbeter eine laienhafte Mini-Vorstellung herunter, in der gefragt wird „Wie erkennt der HERR uns Menschen?“.
Jeder einzelne Satz dieser improvisiert wirken sollenden Einlage muß von den zwei Kirchenleuten abgelesen werden; offensichtlich haben sie selber nichts zu sagen zu diesem Thema, oder können sich nicht einmal bei solch einer essenziellen Fragestellung auf die eigene Intelligenz und Einsicht verlassen, sondern müssen ihre vorgefertigten Glaubenssprechblasen nach Manuskript sprechen.
An dieser Stelle erlöst mich meine zuverlässig schnoddrige Frau H., Teilnehmerin der „Tagesgruppe Demenz“ und unheilig bodenständige Lebenspraktikerin, aus meinem langsam sich manifestierenden Zustand aufgerollter Fußnägel über das fromme Getue der religiösen Vorturnerin. Sie dreht sich schelmisch grinsend zu mir um und bemerkt lakonisch: „Mich erkennst du aber noch, oder?“
„Sowieso!“ antworte ich ihr, erleichtert über die Unterbrechung meiner Fremdscham-Qualen, „da blendet mich wenigstens kein Heiligenschein!“
Frau H. grinst sich einen und verfolgt weiter die Gottesdienstsendung, die sie im Gegensatz zu den glaubensfesteren Bewohnern nicht bei den bekannten Liedern und Gebeten mitsingt und -spricht. Ich frage mich, wie ihr mit ihrer dementen Sicht das Ganze vorkommt. Demente Menschen, die mehr über gefühlsmäßige als intellektuelle Wahrnehmung funktionieren, haben in der Regel gute Antennen für aufgesetztes Getue, Unehrlichkeit und Fake News.
Die österliche Andacht geht zu Ende. Die anwesenden orientierteren Bewohner sprechen routiniert das Vaterunser mit, die stärker dementen schauen nur ratlos auf den Bildschirm oder sind gleich zu Beginn eingeschlafen, die Musiker in der Aufnahme beenden das Ganze mit einem wahrhaft Miles Davis-würdigen Orgel-Klarinetten-Duo und ich kann endlich in den Feierabend.
