Geschichten aus dem Pflegeheim: das Feiertagsvirus und die Liebe in Neuss

Dritter Tag in Folge Küchendienst, dritter Tag in Folge früh aufstehen um gegen 7:15 in der Einrichtung aufzuschlagen. Heute muss ich mich wieder selbst auf COVID-19 testen, so dass ich erstmal den Aufenthaltsraum des Wohnbereiches ansteuere, wo das Schnelltest-Equipment liegt.

Auf dem Gang kommt mir die zwischen Aufgeregt- und Aufgelöstheit oszillierende Schwester A. entgegen, die Feiertagsverantwortliche für den Wohnbereich. „Ah, Gottseidank, du bist unsere Rettung – hoffe ich jedenfalls!“ ruft sie mir entgegen. Ich ahne, was sie will. Und richtig: „Der D. hat sich krankgemeldet und wir sind nur zu dritt in der Pflege. Wir können unmöglich auch noch die Küche mitmachen…“

D. ist der FSJler, der seit einem dreiviertel Jahr vorwiegend im Küchendienst des Wohnbereiches 2 eingesetzt wird. Dass er heute ausfällt, ist für mich schon fast keine Überraschung mehr, da es zu einem rätselhaften, bislang noch unerforschten medizinischen Phänomen passt: das FEIERTAGS-VIRUS, das ausschließlich junge Menschen befällt, außerdem ebenso ausschließlich FSJler, Praktikanten und andere nicht-festen Arbeitskräfte.

Diese tückische Infektion schlägt beinahe immer an Sonn- und Feiertagen zu, wo man sich nur bei den betroffenen Kollegen abmelden muss und nicht bei der Personalverantwortlichen des Ladens. Die ohnehin ausgedünnte Personaldecke der Einrichtung ist am Wochenende und an Feierabend dermaßen löchrig, dass der Ausfall eines weiteren Kollegen einer Totalkatastrophe gleichkommt.

Dummerweise habe ich – was Schwester A. weiß – im anderen Wohnbereich Küchendienst. Jetzt ist Verhandlungsgeschick gefragt. Der andere Wohnbereich ist kleiner, die Arbeit in der Küche weniger. Die Frage ist: sind die dortigen Pflegekollegen (ganze zwei) bereit, mich „abzugeben“ und die Mahlzeiten und die Küchenarbeit selber zu schultern.

Die Antwort ist ein klares „Nein!“ – weil Montags der Tag ist, an dem in diesem Wohnbereich „die Medikamente gestellt“ werden. Das ist eine Aufgabe, die mehrere Stunden in Anspruch nehmen kann. Es ist nämlich bei weitem nicht damit getan, ein paar Pillen in die kleinen farbigen Plastikbecherchen zu tun, sondern man muß pro Bewohner die Medikamentendosis für eine Woche (und zwar 4-mal täglich) bereitstellen. Die Verschreibungen wollen überprüft sein, im Idealfall auch die Beipackzettel abgeglichen werden mit Verhaltens- und Reaktionauffälligkeiten des jeweiligen Bewohners, das Ganze muß natürlich auch dokumentiert werden usw.

Die Pflegekräfte meines eigentlichen Wohnbereiches 2 (ich bin nur für dieses Feiertagswochenende dem Wohnbereich 3 zugeteilt) fügen sich resigniert in ihr Schicksal und ich mache mich im Speiseraum von Wohnbereich 3 an die Arbeit.

Heute sind alle früh erschienen; die Pflege hat es wegen des „Medikamente stellen“ erkennbar eilig, die Leute zeitig „fertigzumachen“ und diejenigen im Speiseraum abzuliefern, die dort die Mahlzeiten einnehmen. Um 9:30 sind alle längst fertig und ich habe aufgeräumt und den Tisch schon mal fürs Mittagessen eingedeckt. Ich besuche Wohnbereich 2, wo es genau andersrum aussieht: erst die Hälfte der Leute hat überhaupt gefrühstückt, viele sind noch in den Zimmern, Frühstückswagen und gedeckte Tabletts usw. stehen im der Wohnbereichsküche rum – die Pflege kommt erwartungsgemäß nicht hinterher mit der Arbeit.

Um die Pflegekollegen zu entlasten, schnappe ich mir alle, die schon fertig gefrühstückt haben und nehme sie mit in den „Tagesgruppen“-Raum, der genau zwischen den beiden Wohnbereichen liegt. Dort habe ich vorher schon die Bewohner des kleineren Wohnbereiches 3 versammelt. Jetzt habe ich dort zehn Leute sitzen, die ich irgendwie bis 11:15 beschäftigen und unterhalten muss.

Da Bilder und Musik immer gehen, spiele ich ihnen alte Schlager vor und zeichne dazu. Oder umgekehrt. Ich fange mit irgendetwas an und das Weitere ergibt sich durch die Interaktion mit meinen Zuhörern/Zuschauern. Wir landen bei der Werbung eines jungen Mannes um die Dame seines Herzens und all dem, was dazu nötig ist. Ein Blumenstrauß auf jeden Fall, wissen meine Leute. „Ein Hund!“, ruft Frau Sch., was zustimmend akzeptiert wird, auch wenn Hunde meines Wissens nach keine Rolle bei der romantischen Annäherung spielen.

Dann wird gefordert, dass das ganze in Neuss stattfindet, also der Stadt, in dem unsere Einrichtung sich befindet. Die Allerwelts-Silhouette, die ich hinzeichne, wird ebenso als Neusser Skyline akzeptiert wie vorher der Hund als Accessoire des Brautschauenden, und wir kommen zu den Details der Bekleidung sowie der Gemütsverfassung der beiden Aspiranten. Auch ein Reisebüro soll mit aufs Bild, wird gefordert. Vermutlich für die Hochzeitsreise.

Da wir gerade den 1950er-Jahre-Schlager “Du hast so wunderschöne blaue Augen” von Heinz Woezel & den Quintons gehört haben, bietet sich der Aufreißer-Satz des auf Freiersfüßen wandelnden Jungspundes von selbst an. Sie allerdings hat den Spruch schon allzu oft gehört und überlegt sich deshalb, ob sie ihn überhaupt zum Zuge kommen läßt oder ihn wegen plumper Anmache gleich abserviert. Eigentlich aber ist sie doch sehr angetan von seinem Charme, von den schönen Blümchen und vor allem von dem Hündchen!

So fügt sich letztlich alles zum Ganzen, die zwei kommen doch noch zusammen, aber zunächst mal müssen einige Hürden und Mißverständnisse überwunden werden. Eben genauso wie im wirklichen Leben. Meine Zuhörer sind angenehm unterhalten und verfolgen mit Anteilnahme die Romanze, die sich vor ihren Augen an dem TV- Bildschirm entwickelt, an den ich mein iPad angeschlossen habe.

Das Lied von den blauen Augen bietet sich aber auch noch für einen weiteren naheliegenden Spaß an: als Boxerhymne nämlich, denn wie jeder weiß, ist es u.a. das Spottlied, dass die Verlierer eines Boxkampfes sich anhören müssen. Ich brauche das iPad jetzt für die Akustik, so daß ich am Flipchart weiterzeichne. Die Darstellung von K.O.-Harry nach seinem einzigen Kampf, den er nicht durch K.O. gewann, sondern VERLOR, überzeugt meine versammelten Alten auf Anhieb.

Schon ist 11 Ihr vorbei und ich muss die gemütliche Runde beenden; das Mittagessen rückt näher. Als ich die Bewohner vom Wohnbereich 2 in ihren Wohnbereich zurückbringe, kommt mir PFK A. entgegen und verkündet mir die freudige Nachricht, dass die bilateralen Absprachen mit den Pflegekollegen der 3 erfolgreich waren: die „Dreier“ haben ihre Medikamentensache schneller als gedacht bewältigt und sind einverstanden, dass ich beim Mittagessen dem Wohnbereich 2 helfe und nicht ihnen.

In der mir vertrauteren Küche „meines“ Wohnbereiches fällt zwar doppelt soviel Arbeit an als auf der 3, dafür kenne ich die Abläufe viel besser. So wirble ich noch zwei Stunden zwischen Küche, Speiseraum und Großküche umher bis alle gegessen haben, alles aufgeräumt ist und sämtliche Vorbereitungen für die Spätschicht getroffen sind.

Mittlerweile bin ich zusätzlich zu meinem normalen Überlastungszustand derartig platt, dass ich die eigentlich für den Nachmittag geplante Malgruppe absage- was mir schwerfällt, weil ich weiß, wie sehr die Leute gerade dieses Angebot lieben (und weil es meine persönliche Lieblingstätigkeit im Rahmen des Sozialen Dienstes ist).

Laut Dienstplan kann ich ohnehin um 14:00 nach Hause gehen; ich hatte meinen Seniorenkünstlern aber versprochen, das ich trotzdem die Malgruppe anbiete. Das hat sich jetzt erledigt, ich bin einfach zu kaputt von der Arbeit. Ich male schnell noch ein Cancellation-Plakat und mache mich aus dem Staub.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Unvernunft und Verständnis

Unschwer zu sehen, was heute Thema in der „Tagesgruppe Demenz“ war:

Das nie Gesehene, aber jedem bekannte Fabeltier, das der Pflichterfüllung so oft einen Strich durch die Rechnung macht;

Und die Fabel vom Fuchs und dem Skorpion, der nicht anders kann als bei Strafe seines eigenen Unterganges dem Fuchs bei der Flussüberquerung einen tödlichen Stich zu versetzen.

Meine demente Truppe nimmt es interessiert zur Kenntnis und schüttelt mehrheitlich den Kopf über so viel Unvernunft des Skorpions.

Andrerseits versteht auch jeder gut, dass es Situationen gibt, wo man „einfach nicht anders kann“!

Geschichten aus dem Pflegeheim: Wer erkennt wen?

Da die Gottesdienste im Pflegeheim momentan Corona-bedingt nicht live stattfinden können, nimmt der örtliche Pfarrer seine Veranstaltungen recht professionell auf und stellt uns einen USB-Stick mit der jeweils aktuellen Ausgabe zur Verfügung.

Diese zeigen wir zu den gewohnten Gottesdienstzeiten nachmittags im Heim auf eigens installierten USB-tauglichen Fernsehgeräten – schließlich ist das Haus eine Einrichtung der Diakonie und auf die Verbreitung des Wortes Gottes wird großen Wert gelegt.

Der Ostermontags-Gottesdienst steht am heutigen Freitag auf dem Programm. Meine Aufgabe ist die Bestückung des Fernsehgerätes mit dem USB-Stick und die Begleitung des Angebotes, das im Speisesaal des Wohnbereiches stattfindet (die drei Wohnbereiche sind wegen der Corona-Pandemie streng getrennt).

Damit komme ich nicht drum herum, mir die Veranstaltung in voller Länge (zum Glück begrenzt auf ca. 30 Minuten) anzutun. Die Musikbegleitung durch zwei Profimusiker ist schon mal nicht schlecht und hört sich eher nach Jazz als nach Kirchenmusik an.

Dann wird’s allerdings schnell unterirdisch: eine künstlich enthusiasmierte Pfarrerin führt, assistiert von einem bärtigen brummeligen Mittvierziger (Typ evangelische Telefonseelsorge), durch das Programm aus Gebeten, Gesangbuch-Liedern, und merkwürdigen, angestrengt munteren und belehrenden Dialogen, die wohl die Predigt ersetzen oder sein sollen.

Die gestenreich deklamierende Kirchenfrau verkündet das Motto dieses Tages, das da lautet „Wer erkennt wen?“. Dabei soll es wohl irgendwie um die Art und Weise gehen, mit denen Menschen sich untereinander erkennen, sowie ihren Christengott und dieser wiederum „die Menschen“. Dabei spielen die beiden Vorbeter eine laienhafte Mini-Vorstellung herunter, in der gefragt wird „Wie erkennt der HERR uns Menschen?“.

Jeder einzelne Satz dieser improvisiert wirken sollenden Einlage muß von den zwei Kirchenleuten abgelesen werden; offensichtlich haben sie selber nichts zu sagen zu diesem Thema, oder können sich nicht einmal bei solch einer essenziellen Fragestellung auf die eigene Intelligenz und Einsicht verlassen, sondern müssen ihre vorgefertigten Glaubenssprechblasen nach Manuskript sprechen.

An dieser Stelle erlöst mich meine zuverlässig schnoddrige Frau H., Teilnehmerin der „Tagesgruppe Demenz“ und unheilig bodenständige Lebenspraktikerin, aus meinem langsam sich manifestierenden Zustand aufgerollter Fußnägel über das fromme Getue der religiösen Vorturnerin. Sie dreht sich schelmisch grinsend zu mir um und bemerkt lakonisch: „Mich erkennst du aber noch, oder?“

Sowieso!“ antworte ich ihr, erleichtert über die Unterbrechung meiner Fremdscham-Qualen, „da blendet mich wenigstens kein Heiligenschein!“

Frau H. grinst sich einen und verfolgt weiter die Gottesdienstsendung, die sie im Gegensatz zu den glaubensfesteren Bewohnern nicht bei den bekannten Liedern und Gebeten mitsingt und -spricht. Ich frage mich, wie ihr mit ihrer dementen Sicht das Ganze vorkommt. Demente Menschen, die mehr über gefühlsmäßige als intellektuelle Wahrnehmung funktionieren, haben in der Regel gute Antennen für aufgesetztes Getue, Unehrlichkeit und Fake News.

Die österliche Andacht geht zu Ende. Die anwesenden orientierteren Bewohner sprechen routiniert das Vaterunser mit, die stärker dementen schauen nur ratlos auf den Bildschirm oder sind gleich zu Beginn eingeschlafen, die Musiker in der Aufnahme beenden das Ganze mit einem wahrhaft Miles Davis-würdigen Orgel-Klarinetten-Duo und ich kann endlich in den Feierabend.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Das Kartoffel-Lied und die Königin

Ein weiterer Vormittag in der “Tagesgruppe Demenz” mit einem mehrheitlich wachen und munterem Publikum! Nach dem Frühstück lese ich eine kurze Geschichte aus einer eigens für demente Menschen zusammengestellten Textsammlung vor: “Als Oma und Opa auf den Stoppelacker gingen”. Diese Geschichten von höchstens anderthalb Seiten erfreuen sich großer Beliebtheit bei meiner Tagesgruppe; vor allem, weil sie in einfachen Worten Alltagserfahrungen und Erinnerungen an vergangene Zeiten beschreiben.

Das Thema “Stoppeln” löst auch gleich lebhafte Reaktionen aus und die meisten haben eigene Erfahrungen beizusteuern. Besonders Herr J. kommt gar nicht mehr aus dem Erinnern raus und berichtet von all den Feld- und Baumfrüchten, die er seinerzeit zusammen mit seiner Familie in seinem Eifeldorf gesammelt hat.

Vorrangige Feldfrucht des Stoppelns war aber für alle die Kartoffel. In den Kriegs- und frühen Nachkriegsjahren war die “zweite Ernte” durch eine hungrige Bevölkerung mitunter überlebenswichtig.

Da nun die Kartoffel in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit getreten ist, bietet sich die Gelegenheit zu einer Erweiterung dieses Themengebietes. So entsteht ein Lied, dessen Strophen ich beim Zeichnen erfinde und sogleich meiner Truppe auf der Mundharmonika vorspiele – nach zwei Durchgängen können die Aufmerksameren das Liedchen mitsingen.

Zunächst scheinen einige Teilnehmer nicht sicher zu sein, was das nun soll – will ich sie veräppeln oder was? Seit wann brauchen Kartoffeln Pantoffeln? Zum einen sind sie aber alle von mir reichlich absurden und bizarren Quatsch gewohnt; vor allem jedoch haben gerade Demente einen ausgeprägten Sinn fur absurde Komik.

Frau K. am Kopf der Tafel hat den besten Blick auf das Flipchart und bemerkt trocken: “Die soll sich nicht so anstellen! Die steckt doch sonst nackt in der Erde!” Dem können die anderen nur zustimmen und der Schluss des Liedes, in dem die Kartoffel ihren einen Pantoffel weg kickt, stellt ja auch die natürliche Ordnung der Dinge wieder her und ist somit ganz nach dem Geschmack meines Publikums.

Frau S. allerdings, ansonsten eine der Aufmerksamsten, schenkt diesmal dem Geschehen am Flipchart keine Beachtung, weil sie seit dem Frühstück in ein Exemplar eines Regenbogenblattes vertieft ist. Immer wieder liest sie einzelne Überschriften laut vor, voller Verwunderung und ohne sie einordnen zu können, gleichzeitig aber stolz darüber, dass sie so gut lesen kann.

Noch beim Mittagessen ist sie so hingerissen von der Materie, dass sie sich zu ihrer Sitznachbarin Frau H. beugt, ihr das Heft hinhält und im Ton absoluter Wichtigkeit liest: “SIE WIRD KÖNIGIN” Gemeint ist die Gattin des britischen Thronfolgers, aber das weiß weder Frau S. noch Frau H.

Letztere fühlt sich aber durch die Ansprache belästigt und fertigt Frau S. kurzerhand ab: “Sie werden Königin?! Erzählen Sie mir doch keinen Unsinn! Essen Sie ihr Essen auf, alles andere interessiert hier nicht!

Frau S. registriert die Abfuhr aber gar nicht und widmet sich freudig weiter gleichzeitig ihrem Teller und dem bunten Blättchen.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Der Frühstücks-Gnom

In der “Tagesgruppe Demenz” gilt es jeden Tag aufs Neue, die Leute zu betreuen, indem man sie beschäftigt, unterhält, aktiviert – ohne sie dabei für dumm zu  verkaufen oder sie wie unmündige Kinder zu behandeln.

Demente Menschen haben vielleicht keinen normal funktionierenden Intellekt mehr, der jederzeit willentlich auf die gespeicherten Erinnerungsdatenbanken zugreifen kann, aber sie haben in der Regel einen guten Sinn für Humor und für absurde Komik. Darin sind sie wiederum Kindern ähnlich. Vielleicht weil die mentale Kontrolle – der steife Stock im Rücken, dessen Verschlucken das Erwachsensein einläutet – bei den einen noch nicht und bei den anderen nicht mehr vorhanden ist.

Heute kommen wir aus dem Nichts bzw. dem Stehgreif auf die merkwürdigen Formen und Figuren, die vor uns auf den Frühstückstellern liegen. Frau C., unser Neuzugang, sieht sich lange die beiden aufgeschnittenen Milchbrötchenhälften an, die ich mit Marmelade beschmiert und vor sie drapiert habe.

Ihr Blick wandert von den Brötchen zu mir und wieder zurück; sie scheint den Anblick in diesem Moment überhaupt nicht mit Essen und Nahrungsaufnahme zu verbinden. “Tja, Frau C.”, sage ich, plötzlich ebenso “entfernt” von dem normalerweise vertrauten Bild der Brötchen, “die sehen aus wie zwei Füße, die jeden Moment von dem Teller losspazieren werden…”

“Ja, genau!”, antwortet Frau C. und lacht.

“Marmeladenbrötchenfüße: da hat man nie mehr Hunger, weil man sich immer was abbeißen kann… außer man beißt zuviel ab, dann hat man keine Füße mehr!”, ergänze ich.

Das leuchtet der dementen Runde auf Anhieb ein und allgemeine heitere Zustimmung ist die Folge. Gegenüber von Frau C. sitzt Frau M., deren Essverhalten sozusagen Süd-indisch ist: sie isst grundsätzlich alles mit den Fingern und genießt dabei die Haptik des Nahrungsmaterials. Gerade hat sie zwei Bananenscheiben in ihren Früchtetee befördert und starrt in ihre Tasse. Die beiden Bananenscheiben starren zurück wie zwei Augen in einem roten Gesicht.

Frau M. weiß nicht so recht, was sie mit der Situation anfangen soll, ich aber weiß umso genauer, wie es jetzt weitergeht: meine Leute haben mir sozusagen den Weg gewiesen. Flugs ist das Flipchart aufgestellt, die Farben geholt und wir widmen den Vormittag einem Fabelwesen, das soeben spontan entstanden ist: Der FRÜHSTÜCKS-GNOM.

Da wir bislang nur Füße und Kopf haben, braucht unser Gnom noch einen Körper, für den sich die Kaffeekanne anbietet. Diese tropft leider, so daß sich eine Kaffeelache unter den Milchbrötchenfüßen des Gnomes bildet – ein Malheur, das für einige Erheiterung bei meinen Gruppenteilnehmern sorgt und das natürlich folgenschwere Auswirkungen auf die Milchbrötchen hat.

Allein das Wort “Lache” mit seinen zwei Bedeutungen bringt uns vom Hölzchen aufs Stöckchen und öffnet die Möglichkeit zu Wort- und Sprachspielen, die gerade bei dementen Menschen immer gut ankommen.

So geht es weiter mit wilden Geschichten über lebendig gewordenes Essen, die mich an meine Kindheit erinnern, als ich mit den Materialien auf dem Teller fantastische Welten erschuf, in denen Schlachten geschlagen, Abenteuer bestanden und außerirdische Landschaften erforscht wurden – bis meine Mutter mich mit einem ungnädigen “Spiel nicht mit deinem Essen!” zurück in die familiäre Realität brachte.

Meine demente Truppe – soweit sie nicht schläft (heute ist ein müder Tag) – ist jedenfalls bestens unterhalten, der Vormittag vergeht wie im Fluge und beim Mittagessen sind alle wieder wach. Frau C. allerdings ist immer noch auf einer anderen Umlaufbahn, was die Nahrungsaufnahme betrifft: sie rührt nichts an und wirkt, als ob nichts absurder sein könnte als auf Teller gehäufte Substanzen, die man sich in den Körper zu befördern hat.

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