In der “Tagesgruppe Demenz” gilt es jeden Tag aufs Neue, die Leute zu betreuen, indem man sie beschäftigt, unterhält, aktiviert – ohne sie dabei für dumm zu verkaufen oder sie wie unmündige Kinder zu behandeln.
Demente Menschen haben vielleicht keinen normal funktionierenden Intellekt mehr, der jederzeit willentlich auf die gespeicherten Erinnerungsdatenbanken zugreifen kann, aber sie haben in der Regel einen guten Sinn für Humor und für absurde Komik. Darin sind sie wiederum Kindern ähnlich. Vielleicht weil die mentale Kontrolle – der steife Stock im Rücken, dessen Verschlucken das Erwachsensein einläutet – bei den einen noch nicht und bei den anderen nicht mehr vorhanden ist.
Heute kommen wir aus dem Nichts bzw. dem Stehgreif auf die merkwürdigen Formen und Figuren, die vor uns auf den Frühstückstellern liegen. Frau C., unser Neuzugang, sieht sich lange die beiden aufgeschnittenen Milchbrötchenhälften an, die ich mit Marmelade beschmiert und vor sie drapiert habe.
Ihr Blick wandert von den Brötchen zu mir und wieder zurück; sie scheint den Anblick in diesem Moment überhaupt nicht mit Essen und Nahrungsaufnahme zu verbinden. “Tja, Frau C.”, sage ich, plötzlich ebenso “entfernt” von dem normalerweise vertrauten Bild der Brötchen, “die sehen aus wie zwei Füße, die jeden Moment von dem Teller losspazieren werden…”
“Ja, genau!”, antwortet Frau C. und lacht.
“Marmeladenbrötchenfüße: da hat man nie mehr Hunger, weil man sich immer was abbeißen kann… außer man beißt zuviel ab, dann hat man keine Füße mehr!”, ergänze ich.
Das leuchtet der dementen Runde auf Anhieb ein und allgemeine heitere Zustimmung ist die Folge. Gegenüber von Frau C. sitzt Frau M., deren Essverhalten sozusagen Süd-indisch ist: sie isst grundsätzlich alles mit den Fingern und genießt dabei die Haptik des Nahrungsmaterials. Gerade hat sie zwei Bananenscheiben in ihren Früchtetee befördert und starrt in ihre Tasse. Die beiden Bananenscheiben starren zurück wie zwei Augen in einem roten Gesicht.
Frau M. weiß nicht so recht, was sie mit der Situation anfangen soll, ich aber weiß umso genauer, wie es jetzt weitergeht: meine Leute haben mir sozusagen den Weg gewiesen. Flugs ist das Flipchart aufgestellt, die Farben geholt und wir widmen den Vormittag einem Fabelwesen, das soeben spontan entstanden ist: Der FRÜHSTÜCKS-GNOM.
Da wir bislang nur Füße und Kopf haben, braucht unser Gnom noch einen Körper, für den sich die Kaffeekanne anbietet. Diese tropft leider, so daß sich eine Kaffeelache unter den Milchbrötchenfüßen des Gnomes bildet – ein Malheur, das für einige Erheiterung bei meinen Gruppenteilnehmern sorgt und das natürlich folgenschwere Auswirkungen auf die Milchbrötchen hat.
Allein das Wort “Lache” mit seinen zwei Bedeutungen bringt uns vom Hölzchen aufs Stöckchen und öffnet die Möglichkeit zu Wort- und Sprachspielen, die gerade bei dementen Menschen immer gut ankommen.
So geht es weiter mit wilden Geschichten über lebendig gewordenes Essen, die mich an meine Kindheit erinnern, als ich mit den Materialien auf dem Teller fantastische Welten erschuf, in denen Schlachten geschlagen, Abenteuer bestanden und außerirdische Landschaften erforscht wurden – bis meine Mutter mich mit einem ungnädigen “Spiel nicht mit deinem Essen!” zurück in die familiäre Realität brachte.
Meine demente Truppe – soweit sie nicht schläft (heute ist ein müder Tag) – ist jedenfalls bestens unterhalten, der Vormittag vergeht wie im Fluge und beim Mittagessen sind alle wieder wach. Frau C. allerdings ist immer noch auf einer anderen Umlaufbahn, was die Nahrungsaufnahme betrifft: sie rührt nichts an und wirkt, als ob nichts absurder sein könnte als auf Teller gehäufte Substanzen, die man sich in den Körper zu befördern hat.