Als ich morgens zum Frühdienst komme, brennt am Empfangstresen eine Kerze. So weiß ich schon mal, dass wieder ein Bewohner gestorben ist. Etwas später erfahre ich, dass es sich um die seit etwa einem Monat ihrem Ende entgegensterbende Frau S. handelt; ganz bestimmt also eine Erlösung für die patente, humorvolle, voll orientierte Mittachtzigerin aus Pommern.
Jetzt beginnt erstmal ein bürokratisches und menschliches Tohuwabohu, das u.a. dem Sonntag geschuldet ist: da der Hausarzt am Wochenende nicht erreichbar ist, muß ein Bereitschaftsarzt den Tod offiziell feststellen. Dessen erste Frage am Telefon ist gleich: Wer bezahlt mir Anfahrt und Bescheinigung?
Da Frau S. lebende Verwandte hat, namentlich eine Tochter, ist diese gesetzlich verpflichtet, sich um die Bestattung zu kümmern. Die erste Reaktion der Tochter: Ich habe kein Geld, ich kann weder Arzt noch Bestattungsinstitut bezahlen.
Keiner hat sie informiert, dass sie Bestattungshilfe bei der Stadt beantragen kann (und dies auch gleich bei der Beauftragung dem Bestatter mitzuteilen ist). Hinzu kommt, dass der Bereitschaftsarzt, der die Krankengeschichte der Verstorbenen nicht kennt, sach- und fachgerecht „Todesursache unbekannt“ auf den Totenschein eingetragen hat, wodurch er zu einer Meldung an die Polizei verpflichtet ist, die wiederum erst nach Inaugenscheinnahme der Toten dem Bestatter das OK für den Abtransport geben wird.
Die diensthabende russische Pflegefachkraft des Wohnbereiches ist von der unübersichtlichen Situation überfordert und weiß nicht weiter, da sie ihre Vorgesetzte telefonisch nicht erreichen kann.
Ich gehe ins Zimmer von Frau S. und finde die Tote mit geöffneten Augen und Mund vor. Ihr die Augen zu schließen erweist sich allerdings als erfolglos, wohl weil sie schon mehrere Stunden tot ist. Ein Kollege hat mir jedoch einen Trick für diese Situation verraten: man legt dem Verstorbenen eine nasse Kompresse auf die heruntergedrückten Augenlider. Dadurch ziehen sich die Gefäße zusammen und die Augen bleiben verschlossen. Das probiere ich also aus, und siehe da: es funktioniert (zum Glück, bevor die Angehörigen eintreffen).
Dann nehme ich die Angehörigen in Empfang, informiere sie über das Prozedere und führe das hausinterne Abschiedszeremoniell für Verstorbene durch (mittlerweile kann ich Psalm 23 bald auswendig), an dem neben den Angehörigen auch Pflege- und Betreuungskräfte sowie einige Bewohner teilnehmen – Frau S. war äußerst beliebt bei allen und sorgte während ihres etwa anderthalbjährigen Aufenthalts für viel gute Laune und mancherlei Späße.
Eine Kollegin bringt anschließend, als wir das Drumherum besprechen, ihre Gefühle so zum Ausdruck: „Selbst beim Sterben geht’s nur ums Geld und um nichts anderes. Das kotzt mich so an…“
