Ein weiterer Vormittag in der “Tagesgruppe Demenz” mit einem mehrheitlich wachen und munterem Publikum! Nach dem Frühstück lese ich eine kurze Geschichte aus einer eigens für demente Menschen zusammengestellten Textsammlung vor: “Als Oma und Opa auf den Stoppelacker gingen”. Diese Geschichten von höchstens anderthalb Seiten erfreuen sich großer Beliebtheit bei meiner Tagesgruppe; vor allem, weil sie in einfachen Worten Alltagserfahrungen und Erinnerungen an vergangene Zeiten beschreiben.
Das Thema “Stoppeln” löst auch gleich lebhafte Reaktionen aus und die meisten haben eigene Erfahrungen beizusteuern. Besonders Herr J. kommt gar nicht mehr aus dem Erinnern raus und berichtet von all den Feld- und Baumfrüchten, die er seinerzeit zusammen mit seiner Familie in seinem Eifeldorf gesammelt hat.
Vorrangige Feldfrucht des Stoppelns war aber für alle die Kartoffel. In den Kriegs- und frühen Nachkriegsjahren war die “zweite Ernte” durch eine hungrige Bevölkerung mitunter überlebenswichtig.
Da nun die Kartoffel in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit getreten ist, bietet sich die Gelegenheit zu einer Erweiterung dieses Themengebietes. So entsteht ein Lied, dessen Strophen ich beim Zeichnen erfinde und sogleich meiner Truppe auf der Mundharmonika vorspiele – nach zwei Durchgängen können die Aufmerksameren das Liedchen mitsingen.
Zunächst scheinen einige Teilnehmer nicht sicher zu sein, was das nun soll – will ich sie veräppeln oder was? Seit wann brauchen Kartoffeln Pantoffeln? Zum einen sind sie aber alle von mir reichlich absurden und bizarren Quatsch gewohnt; vor allem jedoch haben gerade Demente einen ausgeprägten Sinn fur absurde Komik.
Frau K. am Kopf der Tafel hat den besten Blick auf das Flipchart und bemerkt trocken: “Die soll sich nicht so anstellen! Die steckt doch sonst nackt in der Erde!” Dem können die anderen nur zustimmen und der Schluss des Liedes, in dem die Kartoffel ihren einen Pantoffel weg kickt, stellt ja auch die natürliche Ordnung der Dinge wieder her und ist somit ganz nach dem Geschmack meines Publikums.
Frau S. allerdings, ansonsten eine der Aufmerksamsten, schenkt diesmal dem Geschehen am Flipchart keine Beachtung, weil sie seit dem Frühstück in ein Exemplar eines Regenbogenblattes vertieft ist. Immer wieder liest sie einzelne Überschriften laut vor, voller Verwunderung und ohne sie einordnen zu können, gleichzeitig aber stolz darüber, dass sie so gut lesen kann.
Noch beim Mittagessen ist sie so hingerissen von der Materie, dass sie sich zu ihrer Sitznachbarin Frau H. beugt, ihr das Heft hinhält und im Ton absoluter Wichtigkeit liest: “SIE WIRD KÖNIGIN” Gemeint ist die Gattin des britischen Thronfolgers, aber das weiß weder Frau S. noch Frau H.
Letztere fühlt sich aber durch die Ansprache belästigt und fertigt Frau S. kurzerhand ab: “Sie werden Königin?! Erzählen Sie mir doch keinen Unsinn! Essen Sie ihr Essen auf, alles andere interessiert hier nicht!
Frau S. registriert die Abfuhr aber gar nicht und widmet sich freudig weiter gleichzeitig ihrem Teller und dem bunten Blättchen.