Geschichten aus dem Pflegeheim: Zigarettchen und die Sieben Aschenbecher

Eine äußerst schläfrige „Tagesgruppe Demenz“ lässt mich heute an meinen Fähigkeiten zweifeln: die Hälfte schläft oder döst vor sich hin, die anderen beschweren sich über die Kälte im Raum (nachdem morgens zum Lüften ein Fenster offen war: Höchststrafe für stets fröstelnde alte Leute) oder über den Krach beim Tischeindecken. Frau S., die dementeste und gleichzeitig freundlichste der Runde, schläft – direkt nachdem die Pflegekraft sie in den Gruppenraum gebracht hat – schon wieder tief und fest ein und wird nicht einmal wach, als ich versuche, ihr das Frühstück anzureichen.

Hier sind eindeutig drastischere Maßnahmen gefragt, um meine demente Runde wach zu bekommen und ihrer Aufmerksamkeit einen gemeinsamen Fokus zu geben. Wobei auch das kein Selbstzweck ist; manchmal ist es einfach nötig, den Dingen ihren Lauf zu lassen und mit den drei, vier wachen Personen den Vormittag zu gestalten.

Andrerseits lasse ich ungern die Teilnehmer in ihren Sitzen oder Rollstühlen zusammengesackt schlafen – dann hätten sie auch gleich im Bett bleiben können. Hintergrund: Die zwei oder drei Pflegekräfte pro Wohnbereich haben rund 20 Bewohner zu versorgen. Damit alle bis spätestens 9:00 am Frühstückstisch sitzen und die Pflegekräfte selber ihre Pause um 9:30 einhalten können, beginnen sie oft schon ab 7:00 morgens, die Leute zu wecken, aus dem Bett zu holen, „frisch zu machen“ und in den Speiseraum bzw. in unserem Fall in den Tagesgruppen-Raum zu bringen. Klar, dass etliche ziemlich verschlafen zum Frühstück erscheinen und besser im Bett geblieben wären (wofür ich in manchen Fällen umgehend sorge und die Leute schnurstracks wieder in ihre Zimmer bringe oder bringen lassen, wenn ich merke, dass ihnen ein erholsames Ausschlafen im Bett besser täte als ein unbequemer Schlaf im (Roll-)Stuhl).

Heute belasse ich aber alle im Gruppenraum und versuche erstmal mit Musik, die morgendliche Stimmung zu heben. Dank Spotify kann ich auf den gesamten Fundus abendländischer U- und E-Musik zugreifen; heute muss es die Playlist „Wiener Walzer“ richten. Das ist schwungvoll, aber keine Radau-Musik und wirkt in der Regel innerhalb von Minuten. Und richtig, zu den Klängen von Straußens „An der schönen blauen Donau“ kommt Leben in die Runde, einige bewegen sich im Rhythmus der Musik, Frau S. summt mit und die Gesamtlage stellt sich alsbald als deutlich munterer dar.

Zum Ende der üblichen Frühstückszeit, das flexibel zwischen 9:00 und 9:30 liegt, sitzt Frau C. noch immer vor ihrer Kaffeetasse und einem ihrer beiden Milchbrötchenhälften mit Marmelade. Meine heutige Assistentin, eine Pflegehelferin ohne viel Einfühlungsvermögen und Erfahrung im Umgang mit Demenz, müht sich, Frau C. mit lautem und grenzwertig jovialem Zureden zum Verzehr ihres Frühstücks zu bringen. Frau C. lässt sich aber nichts erzählen und wehrt alle Versuche ab. Mir scheint es so, als hätte sie einfach keinen Hunger mehr.

Um die aufkommende Hektik und das etwas paternalistische Gehabe der Kollegin – die Frau C. (und die anderen Gruppenteilnehmer) für meinen Geschmack zu sehr wie unmündige Kinder behandelt – zu unterbinden, greife ich mir Flipchart und Zeichenstifte und skizziere schnell eine Szenerie, in der Frau C. vor einem Tisch sitzt, auf dem sich alle Gegenstände ihres Frühstücks auf und davon machen.

Damit ist schon für Heiterkeit in der Runde gesorgt, und als die Tasse zum Milchbrötchen sagt: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!“, ist der weitere Kurs durch den Vormittag schon sichtbar: das Märchen muss her, in dem dieser Satz fällt! Bis wir gemeinsam das Märchen erraten haben, in dem so gesprochen wird, vergeht eine Weile, aber schließlich erinnert sich die Mehrheit an „Die Bremer Stadtmusikanten“ und ist sehr erfreut, als ich das dicke Märchenbuch aufschlage und die Geschichte noch einmal vorlese.

Das Thema Märchen gibt im Prinzip unendlich viel Stoff her. Erstens die Geschichten selber. Dann die damit verknüpften meist frühkindlichen Erinnerungen; ein Gedächtnisbereich, auf den auch demente Menschen in der Regel noch zugreifen können. Außerdem gibt es eine Reihe von Volksliedern, die Märchen der Brüder Grimm zum Thema haben usw.

Wir machen also eine Runde Märchen-Raten; um meinen Leuten das Raten zu erleichtern, schreibe ich die Titel unter Auslassung einiger Buchstaben an das Flipchart. Bei dem Wort SCHNEEWITTCHEN versteht Frau H., unsere Raucherin, „Zigarettchen“, was mich sogleich auf ein verschollen geglaubtes, soeben entdecktes  Märchen der Brüder Grimm bringt: Zigarettchen und die Sieben Aschenbecher.

Die Kurzfassung dieser erstaunlichen Geschichte geht so: ZIgarettchen steigt morgens aus einem Bettchen und brennt so vor sich hin. Als es Zeit zum Ab-Aschen ist, streiten sich sieben Aschenbecher um die Gunst des Ascheabstreifens und stellen Zigaretten damit vor eine schwierige ethisch-moralische Frage. Schließlich löst Zigaretten die Frage aber, indem es JEDEM der sechs „normalen“ Aschenbecher gleiche Teile Asche gibt und zum Schluß in den dicken Drücke-Aschenbecher springt um sich selbst zu entsorgen.

So können alle Freunde bleiben und keiner kommt zu kurz, was voll und ganz dem Gerechtigkeitsempfinden meiner Schützlinge entspricht.

Das Ende von Zigarettchen ist kein absolutes, denn lauter neue Zigaretten stehen schon bereit, seinen Platz einzunehmen. An dieser Stelle meldet sich wieder Raucherin Frau H. Und fragt: „Woher kommen die denn jetzt?“.

„Aus der Zigarettenschachtel in deiner Handtasche!“, antworte ich ihr. Dieses Phänomen ist Frau H. tatsächlich bekannt, denn immer wieder dematerialisieren sich ihre Zigaretten auf mysteriöse Weise. Ich selber wurde vor wenigen Tagen Zeuge dieses Vorganges, als sie mir morgens gegen 10:00 zwei volle Zigarettenschachteln zeigte und mittags, keine zwei Stunden später, eine davon bis auf 4 oder 5 Zigaretten leer war (sie hatte in der Zwischenzeit meines Wissens nach den Raum nicht verlassen).

Insofern habe ich den Eindruck, dass meine Märchenversion Frau H. nicht weniger einleuchtet als ihre eigenen Berichte von in ihrem Zimmer plündernden „Russen“, verstorbenen Verwandten oder diebischen Pflegekräften oder völlig Unbekannten, die sie sonst für das Verschwinden von Gegenständen verantwortlich macht.

Schon naht die Mittagszeit, die uns heute Hausmanns-Sülze mit Remoulade und Bratkartoffeln beschert, nachdem mein Gesülze für die geistige und emotionale Nahrung gesorgt hat.

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