Geschichten aus dem Pflegeheim: Lätzchen für die Kranken

Wochenenddienst im Wohnbereich 3. Da feiertagsbedingt mal wieder keinerlei Personal für die Küche aufzutreiben ist, bin ich drei Tage hintereinander für Frühstück und Mittagessen dieses Wohnbereiches zuständig. Gleichzeitig wird von mir erwartet, dass ich in den verbleibenden knapp 90 Minuten zwischen den Küchendiensten ein wohnbereichsübergreifendes Angebot, also eins für ALLE Bewohner der Einrichtung, auf die Beine stelle.

Das Angebot selber ist kein Problem; zur Not improvisiere ich mit Hilfe eines Flipcharts und ein paar Stiften sowie einer geeigneten Musik-Playlist irgendein wildes oder weniger wildes Halligalli, das die Leute garantiert unterhält und ihnen den Vormittag erträglicher erscheinen läßt.

Die ZEIT ist das Problem. Zwar ist der Wohnbereich 3 der kleinste der drei Wohnbereiche des Hauses, der Arbeitsanfall im Küchendienst daher überschaubar, aber ich bin der einzige Mitarbeiter des Sozialen Dienstes, der heute Vormittag anwesend ist.

Und das bedeutet, ich muss den Transfer der Bewohner zum Veranstaltungsraum alleine bewältigen: zwei Stockwerke, drei Wohnbereiche, sechs lange Gänge und ca 40 – 50 Bewohner, die zumindest angesprochen werden müssen – wenn auch nur 10 von denen zum Angebot kommen wollen, bin ich pro Person 2-4 Minuten unterwegs. Die meisten sitzen in Rollstühlen, was den Transfer schneller macht, weil ich sie dann ziemlich zügig schieben kann. Diejenigen mit Rollator allerdings brauchen Begleitung quer durchs Haus; darauf, dass sie den Weg alleine finden und von selber zum Angebot kommen, kann man sich bei den wenigsten verlassen.

Das Angebot soll um 10:00 im Großen Speisesaal beginnen, wo diejenigen Bewohner ihre Mahlzeiten zu sich nehmen, die nicht auf den Wohnbereichen oder im Zimmer essen. Um 10:10 habe ich sieben oder acht Bewohner im Saal, die ich alle selber hinbegleiten musste. Ich könnte jetzt noch weiter treppauf-treppab durchs Haus sprinten, um weitere Interessenten einzusammeln, beschließe aber, dass das keinen Sinn macht: erstens kann ich die schon im Saal Versammelten nicht noch länger sich selbst überlassen (sie würden wieder anfangen, in alle Richtungen abzuwandern), zweitens habe ich keine Zeit mehr zu verlieren, denn spätestens um 11:15 muß ich den Saal wieder umräumen, mein Equipment wegbringen und wieder im Wohnbereich sein, um alles für das Mittagessen herzurichten.

Zu allem Überfluß versagt auch noch die Technik im Saal. Das iPad verbindet sich nicht mit dem Beamer, obwohl alles korrekt angeschlossen ist; als es dann klappt, wirft der Beamer ein auf dem Kopf stehendes Bild auf die Leinwand. Damit ist klar, dass jetzt auf jeden Fall Flipchart, Stifte und Improvisation angesagt sind.

Eine Stunde später bin ich zurück im Wohnbereich 3, wo die überforderten beiden Pflegekräfte (eine Fachkraft, eine Auszubildende) alle Hände voll zu tun haben, die 15 oder 16 Bewohner zu versorgen. Sie beklagen sich, dass Frau Sch., eine der BewohnerInnen mit „Hinlauftendenz“, alleine im Speiseraum des Wohnbereichs gelassen wurde – ich hatte die Frau zwar eingeladen, aber sie nicht selber abgeholt und zur Veranstaltung gebracht.

„Hinlauftendenz“ hieß früher (zutreffender) „Weglauftendenz“, was in Zeiten des Versuches, mit Sprache die Wirklichkeit zu korrigieren, nicht mehr erwünscht ist. Besagte Dame ist tatsächlich gelegentlich ausgebüchst, und zwar auf eine Weise, die kaum bemerkt wird, wenn man sie nicht dauernd im Auge behält. Sie wandert einfach gemütlich die Treppe zum Foyer hinab und ist dann blitzschnell durch den Haupteingang verschwunden. Dass an Wochenenden und Feiertagen die Rezeption nicht besetzt ist, würde ihr das Verlassen der Einrichtung noch erleichtern. Schon mehrfach musste Frau Sch. in solchen Situationen von der Polizei aufgegriffen und zurückgebracht werden.

Um Frau Sch. irgendwie am Platz zu halten und ihr ein bißchen Abwechslung zu bieten, haben die Pflegekräfte den Fernseher angestellt und lassen eine YouTube-Naturdoku laufen. Jetzt sitzt allerdings bloß noch die nicht minder demente Frau B. im Raum. Frau Sch. wurde für den Rest des Feiertages von ihrem Gatten abgeholt.

Frau B. sorgt häufig für Heiterkeit bei Betreuern und Pflegekräften, weil sie in ihrer weitgehenden Desorientiertheit und dementiellen Einschränkung großen Wert darauf legt, den Eindruck einer orientierten und gebildeten Dame aufrechtzuhalten. So fragt sie mich zum Beispiel gerne, ob ich auch etwas „für die Dementen“ anbieten würde (zu denen sie sich also eindeutig nicht zählt) oder, wenn ich den Tisch decke, ob das „für die Kranken“ sei – ihre Bezeichnung für die anderen Bewohner.

Sie mischt sich viel und gerne in die Versorgung und Betreuung der Mitbewohner ein, so als wäre sie die Herbergsmutter oder Teil des Mitarbeiter-Teams. „Binden Sie der Frau mal das Lätzchen um!“, weist sie mich an, als ihre Sitznachbarin Platz nimmt – noch einer der verpönten Ausdrücke, denn die „Lätzchen“ sind erstens zehnmal so groß wie ein Baby-Lätzchen und werden zweitens politisch korrekt „Kleiderschutz“ genannt.

Schließlich sind alle versorgt, das Mittagessen ist vorüber, nur noch Frau B. sitzt im Speiseraum und im Fernsehen läuft immer noch die Naturdoku – ohne Ton natürlich, aber das würde bei Frau B. nicht viel ausmachen, da sie nahezu taub ist ohne ihre Hörgeräte (die sie so gut wie nie benutzt).

Sie wirkt fasziniert von den Bildern auf dem großen Monitor. Versonnen schaut sie den Wasser- und Luftbewohnern aus dem Tierreich zu, die in dieser schön gemachten BBC-Dokumentation gezeigt werden.

Lange Zeit kann sie ihren Blick nicht lösen vom Geschehen und scheint von der Unschuld, der Natürlichkeit, der Direktheit und der FREIHEIT der Tiere in den Bann geschlagen. Außerdem ist der Ozean natürlich eine gute Metapher für den Geist; demente Menschen treiben auf einem immer brüchiger werdenden Nachen in einem unbekannten Ozean, in dessen Wellenbewegungen und Stürmen, in dessen Tiefen und Weiten sie sich zunehmend verloren fühlen.