Geschichten aus dem Pflegeheim: Das Katzentaxi

Seit Anfang November gibt es wieder die „Tagesgruppe Demenz“ für die Mehrzahl derjenigen Bewohner des Wohnbereiches (plus zwei weitere von anderen Wohnbereichen), die eine „offizielle“ Demenzdiagnose haben. Die Leute freuen sich darüber, wieder in der familiären Atmosphäre der vertrauten kleinen Runde gesellig und gemütlich Zeit zu verbringen und „etwas geboten“ zu kriegen.

Wie in jeder Familie gibt es natürlich auch in unserer Runde unterschiedliche Charaktere, die nicht immer miteinander harmonieren, die aber irgendwie unter einen Hut gebracht werden müssen, damit die Gruppe „funktioniert“.

Eine Teilnehmerin aus dem Wohnbereich 1, Frau B., hat in der langen „Tagesgruppen“-Pause anscheinend zunehmend begonnen, mit ihrem körperlichen und mentalen Schicksal zu hadern. An buchstäblich jedem Vormittag kann man sie spätestens ab 10:00 klagen hören, dass sie „nach Hause möchte“ und „nicht mehr kann“.

Nun ist das bei dementiell veränderten Menschen nichts Ungewöhnliches; das Bedürfnis, die innere Verlorenheit und fortschreitende Auflösung der Gedächtnisinhalte kompensieren zu wollen, drückt sich sehr häufig in der Sehnsucht nach dem Ort in Zeit und Raum aus, an dem noch alles in Ordnung war: zuhause eben. Das Pflegeheim, das faktisch ja das jetzige Zuhause ist, wird von keinem meiner Leute als „zuhause“ empfunden. Einem dementen Menschen braucht man gar nicht erst mit „Aber Frau Sowieso, Sie sind doch jetzt HIER zuhause!“ und ähnlichen Floskeln zu kommen. Neben verständnislosen Blicken erntet man auf solche Versuche mitunter Bemerkungen wie „Nee, ZUHAUSE meine ich, da wo meine Eltern sind…“

Frau B. jedenfalls ist alle zwei bis drei Minuten mit dem Satz zu vernehmen „Ich kann nicht mehr!“, ersatzweise „Ich will nach Hause“. Dass diese Stoßseufzer keine konkreten, zielgerichteten Wünsche sind, merkt man daran, dass Frau B. – wenn man ihr anbietet, sie zurück in ihren Wohnbereich zu bringen – entschieden ablehnend reagiert. Sie weiss ziemlich genau, dass die Alternative zur „Tagesgruppe“ in langweiligem Alleine-im-Zimmer-sitzen besteht, und das will sie auf gar keinen Fall. Außerdem ist sie, entgegen dem äußeren bzw. hörbaren Anschein, sehr gerne in der Gesellschaft der anderen und braucht geradezu die Aufmerksamkeit, die ihr durch ihr Dauerlamento zwangsläufig zuteil wird.

Heute allerdings überspannt sie den Bogen deutlich. Ihre Sitznachbarin Frau Sch., ansonsten als ostpreußische Landsmännin eine geschätzte Gesprächspartnerin, wendet sich entnervt ab und murmelt gelegentlich „Das hält ja keiner aus…“ oder „Wie oft will die das denn noch sagen??“.

Frau Sch. jedoch ist eine zurückhaltende, freundliche Person; Frau H. dagegen, die Frau B. gegenüber sitzt, nimmt erstens selten ein Blatt vor den Mund und fühlt sich zweitens massiv in ihrer – wohl medikamentös verursachten – vormittäglichen Schläfrigkeit gestört.

Es entspinnt sich, nachdem Frau B. zum gefühlt fünfzigsten Male „Ich will nach Hause!“ gestoßseufzt hat, folgender Dialog:

Frau H.: „Jetzt halten Sie doch mal endlich die Klappe!“

Frau B. (unbeeindruckt): „Ich kann nicht mehr, ich will nach Hause…“

Frau H.: „Geben Sie doch mal Ruhe! Oder GEHEN sie nach Hause! Gehen Sie zu Fuß oder nehmen Sie sich `n Taxi…“

Frau B. (verdutzt): „ Ne Katze??“

Frau H.: „Ja!“

Frau B.: „Ne Katze? Ich bin doch nicht bescheuert!“

Frau H. „Doch, sind Sie!“

Inzwischen haben alle gebannt den Schlagabtausch mitverfolgt und müssen über das akustische Missverständnis lachen. Die halbe Stunde bis zum Mittagessen überbrücke ich mit einer Ordensverleihung an Frau B.: sie hat sich nach unser aller Auffassung den IKNM („Ich kann nicht mehr“)-Orden am laufenden Band redlich verdient und erhält ihn in einer kleinen Zeremonie mit Malerkreppband an die Bluse geheftet.

Der Applaus der anderen Teilnehmer stimmt sie etwas milder und wir hören, bis die Teller auf dem Tisch stehen, nur noch etwa fünf oder sechs Mal eine ihrer beiden Wehklagen.