„Tagesgruppe Demenz“: nach dem Frühstück unterhalten wir uns, wie wir den gemeinsamen Vormittag gestalten wollen. D.h. ich frage – mehr aus rhetorischen Gründen – meine Truppe, wonach ihnen heute zumute ist. Meistens kommen dann Antworten wie „uns unterhalten“ oder „singen“. Alles andere ist zu weit „draußen“, außerhalb des Zugriffs eines dementiell veränderten Gehirns, und muß, wenn schon, als Anregung von mir kommen.
„Wir könnten ja mal wieder ein schönes Märchen lesen. Oder eine Zeitung…“, beginne ich, und frage gleich in die Runde, wer von den Anwesenden überhaupt Zeitung liest. Tatsächlich ist eine Dame dabei (allerdings die einzige ohne „offizielle“ Demenz-Diagnose), die sogar die „Rheinische Post“ abonniert hat und täglich Stunden mit dem darin enthaltenen Kreuzworträtsel verbringt.
Das würde sie aber so nicht ohne weiteres zugeben; auf meine Nachfrage, was sie in der Zeitung so liest und warum sie das Blatt abonniert hat, erhalte ich zur Antwort: „Ja, um mich über das Geschehen in der Welt zu informieren, die Nachrichten und so…“.
Schon haben wir unser heutiges Vormittagsthema gefunden und ich frage mal nach, ob jemand weiß, was für ein besonderes politisches Ereignis im September ansteht. Frau N., die RP-Abonnentin, weiß auch wirklich Bescheid und verkündet stolz, dass dann Bundestagwahlen sind.
Damit haben wir einen schönen Aufhänger für weitere Gedächtnistrainings- und Erinnerungsaktivierungs-Einheiten. Da ich lauter westdeutsch sozialisierte Leute vor mir habe, frage ich sie nach den Kanzlern der BRD seit 1949.
An Adenauer kann sich auch jeder erinnern („Adenauer war der Beste!“, stellt Frau Sch. im Ton endgültiger Gewissheit fest, und ringsum erschallt zustimmendes Gemurmel), an Ludwig Erhard grad noch so (ich muss nachhelfen mit dem Hinweis „Der Dicke mit der Zigarre!“), aber den Rest außer der derzeitigen Kanzlerin kennt keiner mehr auf Anhieb. Bei Nennung der jeweiligen Namen fallen ihnen die Kanzler von Kiesinger bis Schröder dann aber doch wieder ein, und es wird sich an das eine oder andere anekdotische Detail erinnert.
Da wir nun schon mal beim Thema sind und Rate-, Gewinn- und Abstimmspiele bei meinen Schützlingen ohnehin beliebt sind, beschließen wir, die Bundestagswahl einfach vorzuziehen und direkt in der Tagesgruppe den nächsten Kanzler (oder die Kanzlerin) zu ermitteln.
Meine Leute sind erfreut über die Aussicht eines hochoffiziellen Wahlvorganges, da sie sonst höchstens Briefwahl machen (de facto nur eine einzige von ihnen, die besagte Frau N.). Ich erstelle also höchst professionelle Wahlzettel mit den drei Kandidaten, nachdem wir vorher aus der Kandidatenfrage wieder ein Ratespiel gemacht haben.
Laschet kennen alle, wohl weil er Ministerpräsidemt in NRW ist und man hier ständig irgendwas von ihm sieht oder hört. Von Baerbock haben ein oder zwei der Teilnehmer schon mal gehört, Scholz dagegen kennt scheinbar keiner.
Ich erkläre also, was sie mit den Wahlzetteln machen müssen, vor allem natürlich, dass diese nach der Wahl zusammengefaltet werden müssen, da es schließlich eine demokratische Wahl ist und damit die Wahl hinterher nicht angefochten werden kann.
Nach einer Weile und etlichen Mühen sind dann alle acht Wahlzettel beisammen und es kann an die Auswertung gehen. Ich verwandle mich flugs in Jörg Schönenborn und kommentiere beim Auszählen der Stimmen bereits aufs Demokratisch-Medialste den Trend und die Wählerwanderungen sowie Rückschlüsse und Koalitionsmöglichkeiten, bedanke mich aber auch namens der Politiker bei allen Wählern; betone, dass bei der Besetzung der Posten selbstverständlich Sachthemen vor Parteienproporz gehen wird und gebe dann „zurück nach Berlin“!
Mein Wahlvolk ist fasziniert und erwartet gebannt die Verkündung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses. Drei der acht Teilnehmer geben trotz meiner Erläuterungen ungültige Stimmzettel ab, entweder weil sie von den Auswahlmöglichkeiten überfordert sind und vorsichtshalber bei jedem Kandidaten ein Kreuz machen, oder weil sie nicht wissen, wenn sie wählen sollen.
Frau P., die den gesamten Vormittag gewohnheitsmäßig in ein- und derselben Position dasitzt und vor sich hinstarrt, kriegt alles mit und überrascht manchmal durch plötzliche Einlassungen, die es in sich haben. Als der Wahlzettel vor ihr liegt und es ans Ausfüllen geht, sagt sie indigniert: „Was soll ich mit dem Blödsinn? Ich hab noch nie gewählt und tu es auch jetzt nicht!“
Das Wahlergebnis selbst ist dann eine handfeste Überraschung. Womit keiner gerechnet hat, tritt ein, und der unbekannteste Kandidat, ein Herr Scholz von der Kleinpartei „SPD“, wird mit klarem Vorsprung neuer Bundeskanzler der BRD!
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das jetzt alten Parteipräferenzen und Wahlgewohnheiten zuzuschreiben ist, oder ob es einfach daran liegt, dass Olaf Scholz ganz unten auf dem Wahlzettel steht und damit für die meisten am einfachsten anzukreuzen ist.
Meine Leute jedenfalls wirken nicht besonders überrascht über das Endergebnis und finden, dass auch mit dem neuen Kanzler alles bestens geordnet ist. Ich kann mich allerdings des Eindruckes nicht erwehren, dass Interesse und Enthusiasmus meiner Gruppe bei der jede Woche einmal anstehenden Wahl der Mittagsmenüs für die kommende Woche deutlich ausgeprägter sind als bei einer letzen Endes doch irgendwie unbedeutenden Bundestagswahl.
Kurze Zeit später sitzen alle beim Mittagessen, und Frau S., die einen leeren Stimmzettel abgegeben hat, vereint sämtliche Anteile ihres Mittagessen zu einer Großen Koalition, indem sie Vorsuppe, Hauptgericht, Joghurt und Pudding kunstvoll durcheinander mischt und sich an den resultierenden Farbeffekten erfreut. „Sehr lecker!“, sagt sie und löffelt zufrieden weiter.