Geschichten aus dem Pflegeheim: Ein Tag wie jeder andere

Die „Tagesgruppe Demenz“ ist aus räumlichen und betreuungstechnischen Gründen erweitert auf die gesamte mobilisierte Bewohnerschaft des Wohnbereiches. „Mobilisiert“ heißen im Pflegejargon die Nicht-Bettlägrigen.

Das heißt, ich habe jetzt statt 6-8 Leuten dreizehn oder vierzehn erwartungsfrohe, unterhaltungsbedürftige alte Leute vor mir sitzen. Fünf Stunden lang muß ich für Zeitvertreib und Kurzweil sorgen, auf dass sich keiner langweile, niemand der Pflege zur Last falle und der Betrieb auf dem Wohnbereich möglichst störungsfrei verlaufe. Zusätzlich habe ich die Essensbegleitung zu machen und neben- oder hinterher alles zu dokumentieren, was ich in der Einrichtung so treibe.

Die Aufgabe wäre schon mit orientierten Alten und hochbetagten eine Herausforderung; mit überwiegend dementen Menschen ist es jedesmal ein Neue Reise ins Unbekannte. Ich selber weiß nie, was ich mit den Leuten machen werde und wohin uns unsere wilde Fahrt durch Zeit, Raum, Musik, Geschichten und Bildern führen wird.

Nicht jeder ist mental und ressourcenmäßig gerüstet für diese Tätigkeit. Ein junger Kollege bewältigt gerade mal eine Handvoll Leute in einem separaten Raum und überläßt die übrigen, die zahlenmäßig auch noch in der Mehrheit sind, sich selbst bzw. als zusätzliche Belastung den Kollegen der Pflege. Die sind dann entsprechend gestresst und entnervt.

Es wundert mich also nicht, wenn ich nach zwei dienstfreien Tagen von den gestandenen Pflegekollegen erfreut begrüßt werde: „Gottseidank bist du wieder hier!“, „Oh wie gut! Dein Kollege hat uns hier gestern wieder mit all den Leuten sitzen gelassen, und in der Frühschicht war eine krank und wir hatten keinen für die Küche…“

Ich genieße kurz die Bauchpinseleien und schaue mir die Runde an. Alle da? Nein, eine ist letzte Nacht gestorben, eine nette und gebildete Dame, gebürtig aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. Ihr Tod kommt überraschen, obwohl sie 95 Jahre alt war.

Nach und nach trudeln alle ein bzw. werden von den Pflegekräften gebracht – selber aufstehen, eine Basis-Morgentoilette durchführen und in den Speisesaal kommen können von den 24 Bewohnern des Wohnbereiches höchstens zwei oder drei.

Was stelle ich heute an mit der Gruppe? Keine Ahnung. Das Datum gibt auch nichts her, aber immerhin ist Freitag und das bedeutet: es gibt Fisch! Darauf aufbauend könnte man – sehr beliebt! – einen erzählerischen, historischen anekdotischen und vor allem MUSIKALISCHEN Ausflug machen in die Welt von Seefahrt, Meer, Wellen, Schiffen und großen Abenteuern in der fernen Weite, an Sehnsuchtsorten und in fantastische Geschichten von Seeräubern, Meeresungeheuern und Fliegenden Holländern usw.

Eine sichere Bank ist immer die Musik. In dieser Generation – die 1925 – 1940 geborenen – ist das in der Regel Volksmusik und Schlager. Besonders für die Dementen sind gesungene Worte manchmal die einzige Form, in der sie zusammenhängende Sätze verbalisieren. Die Region des Großhirns, die Melodiefolgen, Töne, Klänge usw. speichert, ist dieselbe, in der früheste Erinnerungen abgespeichert werden. Man sieht gelegentlich überraschte Anverwandte, die von ihrem hochdementen Familienmitglied seit Monaten oder Jahren nur unverständliches Gebrabbel zu hören gekriegt haben, vor Staunen schier aus den Schuhen kippen, weil der liebe Opa oder die alte Mutter plötzlich irgendein Kindheutslied fehlerfreie und mit Begeisterung mitsingt.

In diesem Bild sind drei Schlager aus den 1950er und 1960er Jahren versteckt. Meine überwiegend dementen Zuhörer und Zuschauer konnten sie alle erraten (allerdings tw. auch erst nach den deutlichen textlichen Hinweisen):