Bei Dienstantritt morgens um 8:00 erfahre ich als erstes, dass unser „Sorgenkind“ (in Wirklichkeit eine 87jährige Frau mit zunehmend starker Demenz) gestern nacht mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
„Sorgenkind“, weil die Frau in ihrer inneren Not und Verlorenheit, in der immer tiefer und verworren werdenden Unübersichtlichkeit und Zerstückelung ihrer inneren Welt, den ganzen Wohnbereich auf Trab hielt, die anderen Bewohner massiv (ver-)störte und eigentlich eine Einzelbetreuung rund um die Uhr benötigt hätte – was natürlich weder eine Pflegeeinrichtung noch eine Privatperson leisten kann.
Als Mitglied unserer „Tagesgruppe Demenz“ war Frau H. eine feste Bank, was ungeschminkte Kommentare, zotige Lieder und witzige Sprüche anbelangt. Ihr teilweise drastischer Humor überraschte nicht nur die anderen Teilnehmer immer wieder, sondern begeisterte und faszinierte auch mich. Im Laufe der Zeit entwickelten wir eine Beziehung zueinander, die so etwas wie eine Freundschaft zwischen Ungleichen, aber auf Augenhöhe war.
Ich war ihr erklärter Liebling; sie schwor, mich immer zu lieben und alles für mich tun zu wollen und wollte mich sogar heiraten. Sie fand sich dann damit ab, das ich bereits verheiratet bin, ließ aber auf unsere spezielle Verbindung nichts kommen.
Die Nachricht von ihrem Zustand bewegt mich, sofort nach Erfüllung meines Dienstes zu ihr ins Krankenhaus zu fahren, wo sich bereits seit 4:00 morgens nach und nach ihre ganze Familie versammelt hat. Frau H. liegt bleich, schwer atmend und stark sediert im Bett, Kinder und Enkel samt Anhang um sie herum sind aufgelöst und in Tränen. Es sind ihre letzten Stunden – wie viele, kann niemand wissen – auf dieser Welt. Ihre Herz-Aorta ist geplatzt, die Lungen füllen sich mit Blut und das Atmen wird irgendwann unmöglich werden.
Als ich mich zu ihr beuge und ihr sage, das ich gekommen bin, öffnet sie abrupt die Augen; Erkennen und Wiedersehensfreude drücken sich darin aus, sie gurgelt etwas Unverständliches mehr als dass sie es spricht, aber etwas in ihr scheint sich zu entspannen. Ihre Familie ist völlig perplex, denn bislang hatte sie die Augen geschlossen und schien nicht mehr zu reagieren – nachdem sie früh morgens, als ihre Familie kam, einige Momente völliger Klarheit hatte, in denen sie sogar ihren Kindern gute Ratschläge gab und ihnen sagte, dass sie „von oben“ auf sie aufpassen werde.
Danach wirkt sie ruhiger, atmet gleichmäßiger und schläft oder döst vor sich hin. Trotzdem scheint sie alles oder viel von dem zu verstehen, was um sie herum gesprochen wird, wie an ihren Reaktionen bemerkbar ist.
Ich bleibe 5 Stunden bei ihr und beobachte, wie ihre Kräfte nachlassen und ihr Atem gurgelt und rasselt und langsamer wird. Der Sterbeprozess zeichnet sich ab: die Nase wirkt spitzer, rings um Nase und Augen wird sie sehr blass; das Blut sinkt nach und noch an die tieferen Stellen des Körpers, wodurch ihr Gesicht schmal und der Hals dick wird. Ab und zu erzähle ich ihr, was ihr gerade passiert und dass dies ein natürlicher Prozess ist, den man nicht fürchten muss.
Sie hat das unglaubliche Glück, das ihre Familie bei ihr ist in ihrer Sterbestunde. Die Kinder und Enkel scheinen sich auch mittlerweile gefangen zu haben und akzeptieren die Situation. Sie wollen sich abwechseln mit Wachen und Schlafen, um ihre Mutter/Großmutter auf keinen Fall alleine zu lassen. Das Krankenhaus hat auf seiner Palliativstation ein komfortables Einzelzimmer, in dem Platz für alle ist, zur Verfügung gestellt und ist ich sonst äußerst entgegenkommend und großzügig im Umgang mit den Verwandten und Besuchern.
Als ich am Frühabend nach Hause fahre, lebt Frau H. noch, aber es ist klar, dass diese Nacht ihre letzte sein wird. Ich verabschiede mich von ihr und ihrer Familie und hoffe, dass die kommenden Stunden für alle von Verstehen und Frieden geprägt sein können.
Ich frage mich, wie es Leuten in Kriegsgebieten gehen mag, speziell alten und dementen Menschen in Pflegeheimen, die in solchen äußeren Extremsituationen die Reise ins Jenseits antreten müssen. Was machen eigentlich Bewohner und Mitarbeiter in ukrainischen oder Donbass-Pflegeheimen? Gibt’s da überhaupt mit hiesigen vergleichbare Pflegeheime?
Aus dem Autoradio quillt die aktuellste Hetz- und Lügenpropaganda der NATO-Kriegspartei; ich schalte schnell auf CD um und fahre zu den Klängen von Jagjit und Chitra Singh nach Hause.