Geschichten aus dem Pflegeheim: Je dementer desto Aquarell

Die Mal- und Kreativrunde ist mein Lieblingsangebot auf meiner Arbeitsstelle. Mein Viereinhalb-Stunden-Dienst geht zu drei gleichen Teilen drauf für Aufbau, das Angebot selbst und Abbau/Aufräumen.

In letzter Zeit gewinnt das Aquarellieren stark an Popularität. Ich setze es meistens ein, wenn Neulinge in die Gruppe kommen und immer bei Dementen. Demente Menschen bringen eine für die bildende Kunst unschlagbare Voraussetzung mit: aufgrund ihrer Erkrankung haben sie kein Konzept des Prozesses. Sie schränken sich nicht selber mit Vergleichen zu anderen ein, sie setzen sich nicht selber die Grenze des „Ich kann nicht malen!“ oder des „Ich weiß nicht, was ich malen soll…“. Deswegen haben sie die Freiheit, einfach mit dem Material zu spielen, zu experimentieren – und das bringt gerade in der Aquarellmalerei häufig die erstaunlichsten Resultate hervor, gelegentlich von einer geradezu Emil Nolde‘schen Qualität.

Diese Resultate erzielen sie, weil sie gar nicht VORHABEN, irgendwelche Resultate zu erzielen. Das ist das Schöne daran. Mitunter glaube ich, die Aquarelle sind umso beeindruckender und prächtiger je dementer die Künstler sind.

Die anderen, orientierten Teilnehmer scheinen sich jetzt noch und nach anstecken zu lassen von der ungehinderten Expressivität und Farbenfreudigkeit der Bilder ihrer dementen Kollegen. „Das mit dem Wasser und den Pinseln, das will ich ich auch mal ausprobieren!“, sagt mir in der gestrigen Runde eine Mittachtzigerin, die bisher immer höchst akkurat mit Fasermaleen und Filzstiften zugange war und „realistische“, gegenständliche Zeichnungen anfertigte.

Die hier abgebildeten Aquarelle stammen allesamt von orientierten Teilnehmern der Runde. Das „Segelschiff auf dem Meer“ natürlich nicht; es wurde mit Ölpastellkreiden gezeichnet.