Geschichten aus dem Pflegeheim: Wie schade, dass ich nichts sehen kann!

Aus der Mal- und Kreativrunde, die ich Montags in der Pflegeeinrichtung anbiete. Neue Teilnehmer kommen oft, so sagen sie, „wegen der guten Atmosphäre hier“, sitzen zunächst einfach dabei und schauen den anderen zu. Früher oder später greift sich noch jeder einen Stift, einen Pinsel oder was immer wir gerade machen.

Andere haben gehört, dass es hier „ein Kunstangebot“ gäbe und wollen aus Interesse daran teilnehmen. So Frau B., die zur vierwöchigen Kurzzeitpflege bei uns ist. Frau B. ist 103 Jahre alt und ist bis auf eine vor drei oder vier Jahren eingetretene Verschlechterung ihres Sehvermögens mobil und orientiert. Sie ist die fitteste so alte Person, die ich bisher kennengelernt habe,

Sie erzählt, dass sie irgendwann, „so mit achtzig“, angefangen hat zu malen, genauer zu aquarellieren, jetzt aber leider kaum noch etwas sehen könne und deswegen ihr Hobby, das sich zur Leidenschaft ausgewachsen hat, nicht mehr richtig ausüben könne. Als sie gehört hat, dass es hier eine Malgruppe gibt, wollte sie aber unbedingt dabei sein.

Erfreut nimmt sie Platz, orientiert sich – mehr mit den Händen als mit den Augen – an Papier, Material, Werkzeugen usw. und beginnt zu malen. Die Farben muss ich ihr in den Pinsel rühren, da sie weder die kleinen Aquarell-Kästchen sieht noch die Farben erkennen kann.

Dennoch legt sie erkennbar freudig gestimmt los. Man merkt, dass diese Frau nicht das erste Mal aquarelliert: Pinselführung, Selbstsicherheit des Strichs und Farbauftrags, Routine der Verwendung des Wassers – all das zeigt mir, dass ich hier außer der Handreichung mit den Pinseln nicht viel tun muss.

Frau B. weiß auch, was sie sich thematisch vornehmen will („Ich will einen Baum malen“). Sie malt zufrieden drauf los und ruft mich ab und zu herbei, um ihr den Pinsel neu oder in eine weitere Farbe einzutauchen. Inzwischen hat sich eine andere Bewohnerin neben sie gesetzt und verfolgt fasziniert, was Frau B. da treibt. Am Ende der Runde ist ihr Bild fertig; dass sie dabei über das Aquarellpapier hinaus auch gleich die Unterlage mit einbezogen hat, ist ihrer kaum vorhandene Sehkraft geschuldet.

„Ach, ein Jammer dass ich nicht mehr sehen kann! Aber ich hab hundert Jahre mit guten Augen gelebt, da will ich jetzt nicht über die drei Jahre mit schlechterń Augen klagen…“, erklärt sie. Und tatsächlich ist das, was sie zu Papier bringt, erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie kaum etwas sieht.