Geschichten aus dem Pflegeheim: Ostereier und zwei Fehleinschätzungen des Kunstgeragogen

Ich habe meinen Malrundenteilnehmern versprochen, dass wir in der Osterwoche Eier bemalen, und so kommt es auch! Aber nicht irgendwelche Eier, sondern richtig große, mit viel Platz für Dekoration und Farbe.

Fragt sich nur, welche. Meiner Einschätzung nach haften Fasermaler, Filzstifte, Brush Pens und dergleichen am besten auf der Styroporoberfläche der überdimensionierten Eier, die größenmäßig irgendwo zwischen Hühnerei und Straußenei liegen.

Herr B., der immer als erster da ist, legt bereits mit seinen gewohnten Aquarellfarben los, während ich noch mit dem Transfer der übrigen Teilnehmer beschäftigt bin. „Herr B., das wird nichts mit den Aquarellfarben, nehmen Sie lieber die Filzstifte oder die Acrylfarben – die haften auf der Oberfläche besser!“, rufe ihm zu, aber er trägt unverdrossen die Aquarellfarbe auf. Ich kann mich nicht weiter um ihn kümmern, weil ich schon auf dem Weg in die Wohnbereiche bin, um den Rest der Truppe einzusammeln.

Als ich zurückkomme, ist aus Herrn B.s Osterei ein wunderbar anzusehendes marmoriertes Kunstwerk geworden. Er hat die Aquarellfarbe geduldig und in verschiedenen Mischungsverhältnissen von Farbe und Wasser immer wieder neu aufgetragen und so ein Ergebnis erzielt, das durch den nicht deckenden Farbauftrag die wabenförmige Struktur der Styoroporoberfläche schön sichtbar macht.

„Gut, dass Sie nicht auf mich gehört haben!“, sage ich ihm und räume mir selber gegenüber ein, dass die „fehlerhaften“, die nicht passend oder untauglich scheinenden Herangehensweisen oft die interessantesten und schönsten Resultate bewirken. Jedenfalls in der Kunst bzw. im kreativen Prozess.

Herr B. ist jedenfalls stolz wie Bolle auf sein Osterei und will gleich noch ein weiteres gestalten, natürlich auch wieder mit Aquarellfarben, diesmal in Rot statt in Grün.

Alle sind inzwischen eifrig und guter Dinge mit dem Eierbemalen beschäftigt, als ein Pflegekollege eine Bewohnerin im Rollstuhl zu uns bringt. Frau D., eine orientierte (Pflegejargon für nicht dementiell veränderte) Neunzigjährige, ist in eigener Einschätzung eine Hobbykünstlerin mit Schwerpunkt auf Basteln und Handarbeiten. Sie beschäftigt sich mit Stickbildern , Basteleien, Handarbeiten jeglicher Art usw., hat sich aber noch nie in unserer Malrunde blicken lassen. Ich glaube, das hält sie für etwas unter ihrer Würde.

Außerdem hat sie hat die Selbsteinstufung, die ich immer wieder von den Leuten höre: „Ach, Malen ist nichts für mich, das kann ich nicht…“ Zum Glück versuchen es die meisten dann doch mal, und bleiben in der Regel dabei.

Vor allem, weil ich ihnen als erstes immer die Grundvoraussetzungen meiner Angebote nahebringe:

Erstens – Wenn man etwas nicht kann, kann man folglich darin auch nichts falsch machen, weil man nicht weiß, wie „richtig“ geht.

Zweitens – Es gibt beim Malen und Zeichnen nichts zu erreichen, nichts nachzumachen, keinen Vorgaben zu folgen – wir überlassen die Arbeit den Farben, dem Wasser und dem Papier.

Wer das erstmal geschluckt hat, kommt irgendwann ganz von selbst auf den kreativen Dreh, mehr und mehr gestalterische Möglichkeiten auszuprobieren.

Frau D. hat gehört, dass wir heute Eier bemalen wollen und hat sich entschlossen, doch mal die Nase in die Malgruppe zu stecken. Bevor sie auch nur an ihrem Platz ist, erzählt sie mir, dass sie selber Stab-Eier und Deko-Eier aller Art macht (oder gemacht hat), sich schwer auskennt und, so lässt sie durchblicken, gewissermaßen eine Koryphäe der Ostereiermalerei ist.

Ich zeige mich entsprechend beeindruckt und ihr die Arbeitsmaterialien. Inzwischen haben wir nämlich herausgefunden, dass Ölpastellkreiden die besten Werkzeuge sind, um Styropor zu bemalen. Auch mit Acrylfarben lassen sich gute Resultate erzielen.

Ich habe vor einiger Zeit, als wir dank einer Spende des örtlichen Lions Club aus dem Vollen schöpfen konnten, Acrylstifte angeschafft und sehe nun die Gelegenheit, diese zum Einsatz zu bringen. Ich führe Frau D. Kurz die Handhabung vor (die Stifte müssen geschüttelt werden, damit die Farbe nach unten fliesst, außerdem sollte man sie nach Gebrauch gleich wieder verschließen und sie mit der Spitze nach unten senkrecht lagern).

Sie nimmt alles zur Kenntnis, beginnt ihr Osterei zu bemalen und ich widme mich wie in diesem Angebot üblich, nach und nach jedem einzelnen Teilnehmer, drehe meine Runden um die Tische, sorge für Getränke usw. Frau D. habe ich nicht vergessen, beachte sie aber auch nicht weiter.

Nach etwa 20 Minuten meldet sie sich mit verärgerter Stimme und bittet darum, wieder nach oben gebracht zu werden. „Das gefällt mir überhaupt nicht!“ erklärt sie definitiv und entschieden. „Das funktioniert alles nicht!“

Ich erkenne, was sie meint: die Acrylstifte erzeugen einen eher schmalen Strich; ein breiterer Farbauftrag erfordert einiges an Geduld und ist von der Haptik her – mit einer Hand das Ei halten, mit der anderen Strich für Strich einen gleichmäßigen. Farbauftrag versuchen – auch für eine nicht-demente Neunzigjährige eine ziemliche Herausforderung.

Frau D. ist erkennbar sauer und wiederholt auf dem Weg nach oben immer wieder, dass ihr das alles „überhaupt nicht gefallen hat“. Ich entschuldige mich bei ihr, das ich ihr überhaupt die Acrylstifte empfohlen habe. Mir ist klar, dass ich bei etwas mehr Aufmerksamkeit jetzt nicht eine frustrierte alte Dame zurück in ihren Wohnbereich bringen, sondern eine zufriedene Eiermalerin unten sitzen haben würde.

Sie mault noch eine Weile vor sich hin und fordert mich dann auf, sie in ihr Zimmer zu begleiten. Sie wolle mir mal zeigen, wie Ostereier aussehen müssen. Und richtig, dort hat sie nicht nur einen Strauß Stab-Eier, sondern einen ganzen Karton Ostereier in verschiedene Größen, alle filigran mit Stoffbordüren, kleinen Röschen und ähnlichem beklebt, alles selbstgemacht und alles in einer Art „Sofakissen-Stil“, wenn ich einen Ausdruck dafür finden müsste.

Ich würdige ihre Arbeiten, die tatsächlich einen hohen Grad an Präzision, Geduld und Geschick für feine Handarbeit erfordern. Sie kramt in ihrer Kiste und schenkt mir eines der „Sofakissen“-Eier. „Das können Sie mal denen da unten zeigen!“, fordert sie mich auf, und ich komme dem nach, indem ich mir das Ei als Ohrring anhänge und zur Freude der anderen so dekoriert wieder im Gruppenraum erscheine.

Natürlich sind alle schwer beeindruckt von der professionellen Qualität des geschenkten Eies. Aber unserer bzw. ihre chaotisch bemalten Rieseneier finden meine Leute dann doch insgesamt genauso großartig. Vor allem, weil wir sie inzwischen mittels Zahnstochern zum Aufrechtstehen gebracht haben und sie somit auf den Tischen in den Wohnbereichen platziert werden können.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Umzugsökonomie und Karnevalsalarm!

Noch sechs Tage bis „Altweiber“(so nennt man im Rheinland den Donnerstag vor dem Karnevalswochenende), und natürlich muß ein fundamental wichtiges Datum wie dieses in einem rheinischen Pflegeheim entsprechend gefeiert werden. Seit Wochen laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren, die einschlägigen Jecken-Kapellen und Hupfdohlen sind einbestellt und das gesamte Team des Sozialen Dienstes, dem anzugehören ich das zweifelhafte Vergnügen habe, ist zu ernsthaftester und umfassender Frohsinnsvorbereitung abgestellt.

Die gesamte Einrichtung ist vor neun Monaten in ein niegelnagelneues Gebäude umgezogen ist und hat zu diesem Anlass beinahe alles, was im alten Haus lagerte, „aus Platzgründen“ entsorgt, u.a. kistenweise Faschingsutensilien, Dekomaterial usw. Das alte Haus, ein gemütliches Gebäude aus den 1960er Jahren, mit parkähnlichem Garten, gelegen in einer eingewachsenen gemischten Nachbarschaft bot viel Platz in Kellern und Abstellräumen.

Die supermoderne neue Einrichtung gleicht dem Sitz eines Versicherungskonzerns oder einem Tagungshotel. Alles sieht schick aus, aber der Architekt hat anscheinend eher die Effizienz einer kostengünstigen Altenaufbewahrungsstätte im Sinn gehabt, als dass er für die Bedürfnisse der Bewohner eines Pflegeheims geplant hätte. Jedenfalls gibt es in der neuen Einrichtung überhaupt keine Kellerräume – außer der Tiefgarage für die Fahrzeuge der Einrichtungsleitung – und kaum Stau- und Lagerraum.

Beim Umzug erging deshalb die Order an die Mitarbeiter, alles zu entsorgen bzw. stehen zu lassen, was nicht unbedingt benötigt wurde. Die Umzugskosten sollten um jeden Preis minimiert werden – was zu dem grotesken Spektakel führte, dass der Auftrag für den Umzug an eine private Klitsche erging, die dann den Umzug einer kompletten Pflegeeinrichtung mit achtzig Bewohnern mit ZWEI Mitarbeitern zu bewältigen hatte. Dies wiederum hatte zur Folge, dass der gesamte Umzug sich über mehr als die vereinbarten Tage hinzog und die Arbeit schließlich eingestellt wurde, da die Einrichtung nicht bereit war, den beiden Möbelpackern mehr als den vereinbarten Preis zu zahlen.

Ende vom Lied: Einrichtungs und-Bewohnermobiliar und -gegenstände blieben teilweise zurück und mussten mühsam in privaten Transporten ins neue Heim geschafft werden. Dass der eine oder andere Gegenstand bei dieser Art des Umzugs anschließend nicht mehr aufzufinden war, dürfte niemanden verwundern.

Zurück zu den Arbeitsmaterialien: Der Hinweis, dass viele der Materialien Bestandteil der täglichen oder saisonalen Aktivitäten von Sozialem Dienst und Pflege sind, wurde mit der großspurigen Antwort „Dann wird das eben neu angeschafft!“ bedacht. Schon bei den bisher im neuen Haus angefallenen jahreszeitlichen Festlichkeiten war bemerkbar, dass die Einrichtungsleitung sich an die eigene Direktive hält: alles was benötigt wurde, konnte umstandslos neu gekauft werden.

Erst recht beim Karneval! Der Einrichtungsleiter ist nämlich Kölner, weshalb dieses Ereignis für ihn einen Stellenwert hat, als fielen Ostern, Weihnachten, Geburtstag und Lottogewinn auf einen Tag. Wir erhalten also den Auftrag, für eine angemessene und einigermaßen üppige Dekoration auf den Wohnbereichen zu sorgen und für unsere Bewohner ein Minimum an Helau- und Täterä-Utensilien zur Verfügung zu stellen.

Helau, weil Neuss im Einzugsbereich des Düsseldorfer Karnevals (KARNEVAL, wohlgemerkt, keineswegs „Fasching“! – das sagen nur Süddeutsche) liegt und von daher das kölsche „Alaaf“ Ketzerei und Teufelsbeschwörung gleichkommt. Gerade hat die Düsseldorfer Karnevalsikone Jacques Tilly, der Gestalter der Motivwagen des Düsseldorfer Karnevals, einen Aufkleber zugunsten Wohnungsloser vorgestellt, auf dem „Ich bin so froh, dass ich kein Kölner bin!“ zu lesen ist.

Meine deutsch-russische Kollegin und ich fahren also kurzentschlossen zu „Deiters“, einem rund ums Jahr geöffneten Karnevals-Supermarkt (oder besser -Einkaufszentrum), das auf der Fläche von vier Fußballfeldern alles feilbietet, was das Jeckenherz begehrt. Um es kurz zu machen: wir lassen knapp 300 Euro dort und ziehen mit zwei gigantischen Papiertüten voller Masken, Hütchen, Clownsgesichtern, Federboas und all dem üblichen Karnevalszeug von dannen.

Vorher verbringen wir eine ganze Weile mit der Erforschung und Erprobung all der Verkleidungen und maskerademäßiger Witzigkeiten. Bei den Schnurrbärten, Perücken und Augenbrauen zeigt mir die Kollegin breit grinsend ein Hitlerbärtchen und sagt: „ Guck mal, das ist doch was für Herrn L.!“ (Herr L. ist ein etwa 90jähriger strammdeutscher Patriot, der auch heute noch gerne mal mit markigen Sprüchen aus dem tausendjährigen Reich zu vernehmen ist (daran erinnert er sich nämlich noch, während sich viele spätere Erinnerungen demenzbedingt aus seinem Gedächtnis verabschiedet haben).

Wir albern ein bißchen herum und ich halte eine spontane Kurzansprache als Reichskanzler mit Bärtchen: „Volksgenossen! Dörr Rosse moss schon wöderr in seine Schrranken gewöhsen werrden! Daförr brraucht onserre okraönische Heeresgroppe ONBEDÖNGT onsere hervorrrragöndön Leopard-Panzer!!“

Die Kollegin lacht und freut sich über die Vorstellung. „Weißt du, die Deutschen kapieren nicht, was das für Russland bedeutet, mit diesen Panzern. Und der Unterstützung der Ukraine. Putin hat’s doch gesagt auf der Pressekonferenz (sie meint die PK vom 02.02. zum Stalingrad-Gedenken), da sollten die mal zuhören…. Meine Schulkameraden von früher sind alle im Krieg! Alle! Also die Männer. Kein einziger ist zuhause, die kämpfen alle gegen die Nazis…“

Sie weiß, dass sie mit mir über dieses Thema sprechen kann; ansonsten hält sie sich absolut bedeckt und konsumiert auch keine Medien mehr, um sich nicht der NATO-Propaganda auszusetzen.

Wir fahren zurück in die Einrichtung, teilen die Beute auf die Wohnbereiche auf und begeben uns an die Arbeit. Vorher ermahnt sie mich noch, auch ja die Zeit, die wir mit dem Einkauf zugebracht haben, als Arbeitszeit aufzuschreiben: „Ich schreib mir ab 12:30 auf! Du hast mich abgeholt, also musst du ab 12:00 aufschreiben! Ich bekomme sowieso nicht viel raus, aber ich will das, was mir zusteht!“

Deiters Düsseldorf

Geschichten aus dem Pflegeheim: Kunstgeragogik at work

Eine 84jährige Teilnehmerin meiner Mal- und Kreativrunde hat in monatelanger Arbeit eine Zeichnung ihrer Heimatstadt Grimmen in Mecklenburg-Vorpommern angefertigt, teilweise aus dem Gedächtnis (so finden sich in ihrer Zeichnung noch Geschäfte aus ihrer Jugend in den 1940ern bzw 50ern), teilweise nach Vorlage. Das Interessante an dem Bild ist die Anwendung der Perspektive, die an die „aufgefalteten“ Perspektivansichten aus dem Science Fiction Film „Inception“ von 2010 erinnern. Egal wie man es dreht, gibt es immer etwas zu gucken.

Die monatelange Arbeit liegt an dem wöchentlichen Rhythmus unserer Runde und an der haptischen Beeinträchtigung der Künstlerin: durch einen Schlaganfall kann sie (Rechtshänderin) nur eingeschränkt die rechte Hand zum Zeichnen benutzen und nimmt stattdessen größtenteils die Linke. Das dauert eben.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Ausflug nach Absurdistan, aber voll Hallelujah und so

Weihnachts-Dienste im Pflegeheim sind immer gemütlich und aufgelockert. Die rauschende Weihnachtsparty, die ich kurzerhand ausgerufen habe, garnieren wir mit lecker Rotwein und abenteuerlichen Rätseln und Geschichten, die ich mir, in Interaktion mit den Leuten, situativ flexibel aus den Rippen schneide.

Womit wir schon voll im Thema sind, denn auf die Eingangsfrage, welcher Sohn (der Eltern Josef und Maria) eigentlich heute gefeiert wird, gibt es bereits eine Menge ratloser Gesichter und einige höchst unterhaltsame Antworten. Eine Bewohnerin schlägt vor: „Eva?“, worauf ich weit ausholen und sozusagen im wahrsten Sinne des Wortes bei Adam und besagter Eva anfangen kann, die bekanntlich nach einem Zoff mit Gott ungerechterweise von diesem aus dem Paradies gepflegten Faulenzertums verjagt wurden.

Da ich bei solchen Stegreif-Acts in der Regel die Rollen aller beteiligten Figuren annehme, ist jedenfalls für spannende Unterhaltung und eine garantiert alternative und wenig Diakonie-kompatible Version der biblischen Stories gesorgt. Dafür habe ich in dem mehrheitlich dementen Klientel vor mir ein aktives, aufmerksames Publikum aus gebannten Zuhörern.

Das Motto-Poster der Veranstaltung gestalten wir gemeinsam, d.h. ich lasse mir von den Zuschauern sagen, was alles zu einem anständigen Weihnachtsbild gehört. Der Weihnachtsmann ist zur Freude meiner Truppe schon ein wenig angetrunken, als es ans Geschenke verteilen geht. Er versucht zwar noch, seine leeren Weinflaschen hinter seinem Geschenkesack zu verstecken, aber das umgestürzte Glas verrät ihn natürlich! Sowas gefällt besonders dem dementen Teil der Bewohnerschaft.

Das Glas wiederum lockt auch die beiden Mäuse Hans und Franz an, die auf diese Weise endlich mal an einen guten Schluck Wein kommen, usw. Wie immer kamen wir vom Hölzchen aufs Stöckchen und streifen während unseres Ausflugs nach Fantásien die interessantesten und absurdesten Themen. Insgesamt also wieder ein unterhaltsamer Weihnachtsnachmittag und -abend, der zur vollen Zufriedenheit meiner gemischten dementen und orientierten Truppe ausfällt.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Parzelliertes Leben

Blick aus dem Büro des Sozialen Dienstes der Pflegeeinrichtung, für die ich arbeite.

Das Mini-Gärtchen vorne muss für 80 Heimbewohner und etwa 15 Leute des Betreuten Wohnens reichen. Der schmale Streifen rechts davon ist der „Garten“ der TAGESPFLEGE, die zur selben Einrichtung desselben Trägers gehört. Offensichtlich sollen Tagespflege-Klienten und Bewohner sich nicht begegnen.

Auch die privaten Wohnhäuser des “Quartiers” sind alle eingezäunt, ebenso der Spielplatz.

Die Tristesse dieses auf Kostenoptimierung getrimmten Projektes des „Neusser Bauvereins“ lässt sich daran ermessen, dass sich die Bewohner so gut wie nie in dieser Attrappe eines Gartens blicken lassen. Dafür wurde ihnen der Preis für die Unterbringung im Pflegeheim drastisch erhöht. Kein Wunder, dass alle der alten Einrichtung hinterhertrauern (Bild 2: Gartens des vorigen Heims, das aus den 1960ern stammt).

Geschichten aus dem Pflegeheim: Einrichtungsstillstand wegen Tod einer Königin

Heute im Pflegeheim: sinnlos, irgendwelche Angebote auf den Plan zu setzen, da so gut wie alle Bewohner gebannt den pompösen Trauerzug für eine alte Dame verfolgen, die sich erfolgreich und diszipliniert zur perfekten Charaktermaske des britischen Kolonialismus und Imperialismus umgemodelt hat.

Hinter dem Sarg trotten die nächsten Familienmitglieder der verstorbenen Monarchin her, eine gruselige Assemblage von degenerierten Zombies, unter ihnen ein Sexualstraftäter, dessen besonders widerwärtige Missbrauchsvergehen im Gefolge des US-Milliardärs Jeffrey Epstein ihn nicht in Knast und Sicherheitsverwahrung brachten, sondern dank seines Namens und einer beträchtlichen Geldzahlung aus der Reichweite der Justiz.

All das wissen meine betagten Schützlinge nicht (und würden es auch nicht wissen wollen bzw., sofern sie zum dementen Teil der Bewohnerschaft gehören, auch nicht können).

Sie erfreuen sich an der schön choreografierten Show uniformierter und kostümierter Figuren, an dem Sarg mit der Krone oben drauf, an dem auf umfassende Beeindruckung des kollektiven Unterbewusstseins gerichteten Zinnober.

Meine Frage, warum die neue Queen ein Mann ist, sorgt bei einigen für einen kurzen Moment des Stutzens, wird aber nicht beantwortet. Schließlich hat man sich schon daran gewöhnt, dass auch die neue Bundeskanzlerin ein Mann ist.

Alles in allem ein einfacher Arbeitstag, der als Hauptaufgabe für Pflege und Betreuung die Aufgabe bereithielt, die Leute vor die TV-Geräte und wieder zurück zu befördern.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Äppelsche un Bembelsche – immer rin in de durstische Kopp

Lohnverarsche hin, Niedriglohn her – wenn ich im Dienst bin, gibt es garantiert immer Spaß und Unterhaltung für meine Alten. Wochenenddienste benutze ich stets für Frühschoppen oder Stammtische, je nach Tageszeit.

Heute, auf Anregung einer neuen Bewohnerin aus dem Südhessischen, unter dem Motto „Beim Bembelwirt machst nix verkehrt!“ mit Ebbelwoi aus dem Bembel und Handkäs mit Musik, letztere bereits gestern vorschriftsmäßig mariniert und über Nacht eingelegt.

Die skeptischen Rheinländer und sonstigen Nicht-Hessen rümpfen erstmal die Nase und verziehen das Gesicht , nur die sachkundige Hessin und ich greifen beherzt zum frischen Bauernbrot mit Handkäs und der „Musik“ obbe druff.

Nachdem die ersten selber probiert haben, verbreitet sich die Kunde von der geschmacklichen Qualität in der Runde und alle – bis auf unseren spanischen Mitbewohner, der vor Ekel fast das Weite sucht – wollen ebenfalls so ein Brot mit Handkäs.

Beim Ebbelwoi sind sie vorsichtiger; bis auf eine experimentierfreudige Ur-Nüsserin (Selbstbezeichnung geborener Neusser), die das „Stöffche“ pur trinkt (und lecker findet), nehmen alle anderen eine „Süß-Gespritzten“ (jeweils halb Ebbelwoi, halb Zitronenlimo).

Musikalisch begleitet von Ebbelwoi-Trio („Wie kann nur e Mensch net von Frankfort sei“), Carl Luley mit Begleitung („Ich werd mei Frankfort immer liebe”) und Badesalz (“Dabrauchmergarnedrüberredde“) wird der Frühschoppen beim Bembelwirt umgehend zur fröhlichen Mundart-Runde, in der jeder seinen Heimatdialekt zum besten gibt und alle sich einig sind, dass hessisch zwar nicht so schlimm wie bayerisch oder sächsisch ist, allerdings auch nicht gerade zu den edelsten deutschen Dialekten gerechnet werden kann und mit der wunderschönen niederrheinischen Mundart sowieso nicht mithalten kann.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Überraschung beim Blick in die Lohntüte

Der 15. des Monats ist Frischgeld-Tag. Zu diesem Datum überweist die Diakonie Arbeit-Kreis Neuss ihren Beschäftigten den meist kargen Lohn.

Die Kollegen lieben es, an diesem Tag darum zu wetteifern, wer die Kohle als erster auf dem Konto bzw. auf seinem aktualisierten Online-Banking-Handydisplay hat (obwohl inzwischen alle wissen, dass natürlich diejenigen den Geldeingang als erste gebucht kriegen, die bei derselben Bank sind wie die, wo unser diakonischer Arbeitgeber sein Konto unterhält)

Da ich weiß, dass frühestens mittags Eingänge auf meinem Konto zu verzeichnen sind, warte ich meistens 13 oder 14 Uhr ab um zu schauen, ob sich Überstunden, Wochenendschichten und Extradienste irgendwie nennenswert ausgezahlt haben. Meine 13,5 Wochenstunden, die ich als Armutsrentner aus finanziellen Gründen abzuleisten gezwungen bin (nicht dass ich die Arbeit ungern mache, im Gegenteil), ergeben zusammen mit der Elendsrente genau das Minimum an Geldeingang, das ich monatlich benötige.

Diesmal jedoch ist alles anders: mein allerchristlichster Arbeitgeber hat in seiner unergründlichen Weisheit beschlossen, mir nur knapp mehr als die Hälfte meines vereinbarten Monatslohnes zu überweisen. Zumindest dem Bankauszug ist keinerlei Hinweis auf den Grund dieser Kürzung zu entnehmen; die Ausdrucke der Lohnabrechnungen werden erst in der kommenden Woche verteilt.

Will man die Arbeitskräfte bereits jetzt mit den Reallohnkürzungen durch die Energiepreisexplosion vertraut machen? Hat Habeck beschlossen, dass Gas—Abschlagszahlungen jetzt direkt vom Gehaltskonto abgebucht werden, analog zur Lohn- oder Kirchensteuer? Gibt es etwa plötzlich einen Pflege-MALUS statt des versprochenen (aber nie gezahlten) Bonus? Fragen über Fragen, die einem wieder keiner beantwortet.

Der überwiesene Betrag entspricht zufällig ziemlich genau meinem Mietanteil, der ebenfalls heute abgebucht wird, so dass ich mich unmittelbar nach Lohnauszahlung in der erquicklichem Situation befinde, kein Geld mehr zu haben. Die paar hundert Euro Rente zahlt der ebenfalls weise und mildtätige Vater Staat stets am allerletzten Tag des Monats, so dass ich theoretisch die kommenden zwei Wochen geldlos überbrücken muss.

Theoretisch, weil ich natürlich als Ehegatte einer gut verdienenden Mittelschichts-Betriebswirtin nicht gleich verhungern oder unter der Rheinkniebrücke schlafen muss, wenn’s mal eng wird. Und weil es sich vermutlich um einen „Irrtum“ handelt, wie mir der Leiter unserer Abteilung versichert. Er wirkt nicht besonders überrascht; Fehler bei der Lohnabrechnung sind nicht unüblich. Immer wieder werden Überstunden, Wochenend- und Feiertagsdienste nicht erfasst oder falsch abgerechnet, zur Entnervung und zum Ärger der betroffenen Kollegen.

Seit die gesamte Diakonie auf irgendein neues Lohnabrechnungssystem umgestellt hat, erhalten die Mitarbeiter nur noch einen ziemlich zusammengedampften Ausdruck auf einer A4-Seite mit den allernötigsten Angaben. Der vorigen Lohnabrechnung konnte man z.B. die bereits verbrauchten und die Rest-Urlaubstage entnehmen – das gibt’s jetzt nicht mehr.

Ansonsten ist in dem ganzen diakonischen Laden keiner zu erreichen. „Freitag um eins macht jeder seins!“ ist das allgemein beherzigte Motto der Büromenschen in Personalverwaltung und Lohnabrechnung.

Jedenfalls bin ich jetzt schon gespannt auf die Lösung des Falles; WUNDERN über derlei lästige Arbeiterverarschungen tue ich mich schon lange nicht mehr.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Ein Tag wie jeder andere

Die „Tagesgruppe Demenz“ ist aus räumlichen und betreuungstechnischen Gründen erweitert auf die gesamte mobilisierte Bewohnerschaft des Wohnbereiches. „Mobilisiert“ heißen im Pflegejargon die Nicht-Bettlägrigen.

Das heißt, ich habe jetzt statt 6-8 Leuten dreizehn oder vierzehn erwartungsfrohe, unterhaltungsbedürftige alte Leute vor mir sitzen. Fünf Stunden lang muß ich für Zeitvertreib und Kurzweil sorgen, auf dass sich keiner langweile, niemand der Pflege zur Last falle und der Betrieb auf dem Wohnbereich möglichst störungsfrei verlaufe. Zusätzlich habe ich die Essensbegleitung zu machen und neben- oder hinterher alles zu dokumentieren, was ich in der Einrichtung so treibe.

Die Aufgabe wäre schon mit orientierten Alten und hochbetagten eine Herausforderung; mit überwiegend dementen Menschen ist es jedesmal ein Neue Reise ins Unbekannte. Ich selber weiß nie, was ich mit den Leuten machen werde und wohin uns unsere wilde Fahrt durch Zeit, Raum, Musik, Geschichten und Bildern führen wird.

Nicht jeder ist mental und ressourcenmäßig gerüstet für diese Tätigkeit. Ein junger Kollege bewältigt gerade mal eine Handvoll Leute in einem separaten Raum und überläßt die übrigen, die zahlenmäßig auch noch in der Mehrheit sind, sich selbst bzw. als zusätzliche Belastung den Kollegen der Pflege. Die sind dann entsprechend gestresst und entnervt.

Es wundert mich also nicht, wenn ich nach zwei dienstfreien Tagen von den gestandenen Pflegekollegen erfreut begrüßt werde: „Gottseidank bist du wieder hier!“, „Oh wie gut! Dein Kollege hat uns hier gestern wieder mit all den Leuten sitzen gelassen, und in der Frühschicht war eine krank und wir hatten keinen für die Küche…“

Ich genieße kurz die Bauchpinseleien und schaue mir die Runde an. Alle da? Nein, eine ist letzte Nacht gestorben, eine nette und gebildete Dame, gebürtig aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. Ihr Tod kommt überraschen, obwohl sie 95 Jahre alt war.

Nach und nach trudeln alle ein bzw. werden von den Pflegekräften gebracht – selber aufstehen, eine Basis-Morgentoilette durchführen und in den Speisesaal kommen können von den 24 Bewohnern des Wohnbereiches höchstens zwei oder drei.

Was stelle ich heute an mit der Gruppe? Keine Ahnung. Das Datum gibt auch nichts her, aber immerhin ist Freitag und das bedeutet: es gibt Fisch! Darauf aufbauend könnte man – sehr beliebt! – einen erzählerischen, historischen anekdotischen und vor allem MUSIKALISCHEN Ausflug machen in die Welt von Seefahrt, Meer, Wellen, Schiffen und großen Abenteuern in der fernen Weite, an Sehnsuchtsorten und in fantastische Geschichten von Seeräubern, Meeresungeheuern und Fliegenden Holländern usw.

Eine sichere Bank ist immer die Musik. In dieser Generation – die 1925 – 1940 geborenen – ist das in der Regel Volksmusik und Schlager. Besonders für die Dementen sind gesungene Worte manchmal die einzige Form, in der sie zusammenhängende Sätze verbalisieren. Die Region des Großhirns, die Melodiefolgen, Töne, Klänge usw. speichert, ist dieselbe, in der früheste Erinnerungen abgespeichert werden. Man sieht gelegentlich überraschte Anverwandte, die von ihrem hochdementen Familienmitglied seit Monaten oder Jahren nur unverständliches Gebrabbel zu hören gekriegt haben, vor Staunen schier aus den Schuhen kippen, weil der liebe Opa oder die alte Mutter plötzlich irgendein Kindheutslied fehlerfreie und mit Begeisterung mitsingt.

In diesem Bild sind drei Schlager aus den 1950er und 1960er Jahren versteckt. Meine überwiegend dementen Zuhörer und Zuschauer konnten sie alle erraten (allerdings tw. auch erst nach den deutlichen textlichen Hinweisen):