Geschichten aus dem Pflegeheim: Ostereier und zwei Fehleinschätzungen des Kunstgeragogen

Ich habe meinen Malrundenteilnehmern versprochen, dass wir in der Osterwoche Eier bemalen, und so kommt es auch! Aber nicht irgendwelche Eier, sondern richtig große, mit viel Platz für Dekoration und Farbe.

Fragt sich nur, welche. Meiner Einschätzung nach haften Fasermaler, Filzstifte, Brush Pens und dergleichen am besten auf der Styroporoberfläche der überdimensionierten Eier, die größenmäßig irgendwo zwischen Hühnerei und Straußenei liegen.

Herr B., der immer als erster da ist, legt bereits mit seinen gewohnten Aquarellfarben los, während ich noch mit dem Transfer der übrigen Teilnehmer beschäftigt bin. „Herr B., das wird nichts mit den Aquarellfarben, nehmen Sie lieber die Filzstifte oder die Acrylfarben – die haften auf der Oberfläche besser!“, rufe ihm zu, aber er trägt unverdrossen die Aquarellfarbe auf. Ich kann mich nicht weiter um ihn kümmern, weil ich schon auf dem Weg in die Wohnbereiche bin, um den Rest der Truppe einzusammeln.

Als ich zurückkomme, ist aus Herrn B.s Osterei ein wunderbar anzusehendes marmoriertes Kunstwerk geworden. Er hat die Aquarellfarbe geduldig und in verschiedenen Mischungsverhältnissen von Farbe und Wasser immer wieder neu aufgetragen und so ein Ergebnis erzielt, das durch den nicht deckenden Farbauftrag die wabenförmige Struktur der Styoroporoberfläche schön sichtbar macht.

„Gut, dass Sie nicht auf mich gehört haben!“, sage ich ihm und räume mir selber gegenüber ein, dass die „fehlerhaften“, die nicht passend oder untauglich scheinenden Herangehensweisen oft die interessantesten und schönsten Resultate bewirken. Jedenfalls in der Kunst bzw. im kreativen Prozess.

Herr B. ist jedenfalls stolz wie Bolle auf sein Osterei und will gleich noch ein weiteres gestalten, natürlich auch wieder mit Aquarellfarben, diesmal in Rot statt in Grün.

Alle sind inzwischen eifrig und guter Dinge mit dem Eierbemalen beschäftigt, als ein Pflegekollege eine Bewohnerin im Rollstuhl zu uns bringt. Frau D., eine orientierte (Pflegejargon für nicht dementiell veränderte) Neunzigjährige, ist in eigener Einschätzung eine Hobbykünstlerin mit Schwerpunkt auf Basteln und Handarbeiten. Sie beschäftigt sich mit Stickbildern , Basteleien, Handarbeiten jeglicher Art usw., hat sich aber noch nie in unserer Malrunde blicken lassen. Ich glaube, das hält sie für etwas unter ihrer Würde.

Außerdem hat sie hat die Selbsteinstufung, die ich immer wieder von den Leuten höre: „Ach, Malen ist nichts für mich, das kann ich nicht…“ Zum Glück versuchen es die meisten dann doch mal, und bleiben in der Regel dabei.

Vor allem, weil ich ihnen als erstes immer die Grundvoraussetzungen meiner Angebote nahebringe:

Erstens – Wenn man etwas nicht kann, kann man folglich darin auch nichts falsch machen, weil man nicht weiß, wie „richtig“ geht.

Zweitens – Es gibt beim Malen und Zeichnen nichts zu erreichen, nichts nachzumachen, keinen Vorgaben zu folgen – wir überlassen die Arbeit den Farben, dem Wasser und dem Papier.

Wer das erstmal geschluckt hat, kommt irgendwann ganz von selbst auf den kreativen Dreh, mehr und mehr gestalterische Möglichkeiten auszuprobieren.

Frau D. hat gehört, dass wir heute Eier bemalen wollen und hat sich entschlossen, doch mal die Nase in die Malgruppe zu stecken. Bevor sie auch nur an ihrem Platz ist, erzählt sie mir, dass sie selber Stab-Eier und Deko-Eier aller Art macht (oder gemacht hat), sich schwer auskennt und, so lässt sie durchblicken, gewissermaßen eine Koryphäe der Ostereiermalerei ist.

Ich zeige mich entsprechend beeindruckt und ihr die Arbeitsmaterialien. Inzwischen haben wir nämlich herausgefunden, dass Ölpastellkreiden die besten Werkzeuge sind, um Styropor zu bemalen. Auch mit Acrylfarben lassen sich gute Resultate erzielen.

Ich habe vor einiger Zeit, als wir dank einer Spende des örtlichen Lions Club aus dem Vollen schöpfen konnten, Acrylstifte angeschafft und sehe nun die Gelegenheit, diese zum Einsatz zu bringen. Ich führe Frau D. Kurz die Handhabung vor (die Stifte müssen geschüttelt werden, damit die Farbe nach unten fliesst, außerdem sollte man sie nach Gebrauch gleich wieder verschließen und sie mit der Spitze nach unten senkrecht lagern).

Sie nimmt alles zur Kenntnis, beginnt ihr Osterei zu bemalen und ich widme mich wie in diesem Angebot üblich, nach und nach jedem einzelnen Teilnehmer, drehe meine Runden um die Tische, sorge für Getränke usw. Frau D. habe ich nicht vergessen, beachte sie aber auch nicht weiter.

Nach etwa 20 Minuten meldet sie sich mit verärgerter Stimme und bittet darum, wieder nach oben gebracht zu werden. „Das gefällt mir überhaupt nicht!“ erklärt sie definitiv und entschieden. „Das funktioniert alles nicht!“

Ich erkenne, was sie meint: die Acrylstifte erzeugen einen eher schmalen Strich; ein breiterer Farbauftrag erfordert einiges an Geduld und ist von der Haptik her – mit einer Hand das Ei halten, mit der anderen Strich für Strich einen gleichmäßigen. Farbauftrag versuchen – auch für eine nicht-demente Neunzigjährige eine ziemliche Herausforderung.

Frau D. ist erkennbar sauer und wiederholt auf dem Weg nach oben immer wieder, dass ihr das alles „überhaupt nicht gefallen hat“. Ich entschuldige mich bei ihr, das ich ihr überhaupt die Acrylstifte empfohlen habe. Mir ist klar, dass ich bei etwas mehr Aufmerksamkeit jetzt nicht eine frustrierte alte Dame zurück in ihren Wohnbereich bringen, sondern eine zufriedene Eiermalerin unten sitzen haben würde.

Sie mault noch eine Weile vor sich hin und fordert mich dann auf, sie in ihr Zimmer zu begleiten. Sie wolle mir mal zeigen, wie Ostereier aussehen müssen. Und richtig, dort hat sie nicht nur einen Strauß Stab-Eier, sondern einen ganzen Karton Ostereier in verschiedene Größen, alle filigran mit Stoffbordüren, kleinen Röschen und ähnlichem beklebt, alles selbstgemacht und alles in einer Art „Sofakissen-Stil“, wenn ich einen Ausdruck dafür finden müsste.

Ich würdige ihre Arbeiten, die tatsächlich einen hohen Grad an Präzision, Geduld und Geschick für feine Handarbeit erfordern. Sie kramt in ihrer Kiste und schenkt mir eines der „Sofakissen“-Eier. „Das können Sie mal denen da unten zeigen!“, fordert sie mich auf, und ich komme dem nach, indem ich mir das Ei als Ohrring anhänge und zur Freude der anderen so dekoriert wieder im Gruppenraum erscheine.

Natürlich sind alle schwer beeindruckt von der professionellen Qualität des geschenkten Eies. Aber unserer bzw. ihre chaotisch bemalten Rieseneier finden meine Leute dann doch insgesamt genauso großartig. Vor allem, weil wir sie inzwischen mittels Zahnstochern zum Aufrechtstehen gebracht haben und sie somit auf den Tischen in den Wohnbereichen platziert werden können.