Geschichten aus dem Pflegeheim: droben stehet die Kapelle

Zu der wöchentlichen Mal- und Kreativrunde, die ich auf meiner Arbeitsstelle im Pflegeheim anbiete, kommen in der Regel zwischen sechs und acht Bewohner der Einrichtung. In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass regelmäßig mehr kommen.

Darunter Leute, von denen bisher die Standardsprüche „Ich kann nicht malen, konnte ich noch nie…“ und „Nee, das ist nichts für mich…“ kamen. Lauter Geschädigte des schulischen Kunstunterrichts also, in dem jedenfalls diese Generation danach benotet wurde, wie gut oder schlecht sie ein vorgegebenes Motiv abmalen konnte und so Freude am Gestalten und Spaß an der eigenen Kreativität gründlich ausgetrieben kriegte.

Meine Malrunden sind allerdings so weit entfernt von Kunstunterricht an der Schule wie die NATO vom Sieg gegen Russland. Natürlich wird mit den – dank großzügiger Sponsoren – reichlich angeschafften künstlerischen Materialien und Werkzeugen auch munter kreativ drauflos gemalt und gezeichnet, gelegentlich auch gebastelt und modelliert. Aber die Essenz unserer Zusammenkünfte ist nicht das Resultat, das der Einzelne zu Papier bringt, sondern die Herstellung einer freundlichen, gemütlichen, niedrigschwelligen Atmosphäre. 

Wir trinken Kaffee, unterhalten uns über dies und das (meistens über Probleme des Heimalltags), hören Musik (was mich im Laufe der Jahre zu einem Quizshow-tauglichen Experten für deutsches Schlager- und Volksliedgut gemacht hat) und widmen uns dabei Farben, Formen, Stiften, Wasser und was ich sonst noch auftreibe, um der Buntheit (oder auch der Düsternis) des Lebens bildliche Form zu verleihen.

Daraus entsteht (man verzeihe mir den esoterischen Ausdruck) ein Energiefeld, in dem kreative und künstlerische Aktivität fast von alleine entsteht. Einige kommen jede Woche, nur um dabei zu sitzen und ihren eigenen Gedanken oder Tätigkeiten nachzugehen, wie zum Beispiel ein Buch lesen oder einfach an den Gesprächen teilzunehmen. Die Runde lockt auch Bewohner an, die wegen der spezifischen Ausprägung ihrer dementiellen Veränderung (Rastlosigkeit, Unfähigkeit zur Konzentration, haptische Einschränkungen) zwar nicht mitmachen wollen und können, aber „wegen der guten Stimmung“ dabei sein wollen. Die demente Frau N., deren wesentlicher Gedächtnisinhalt darin besteht, dass sie heute noch von dem beiden Rolling Stones Konzerten schwärmt, die sie im Müngersdorfer Stadion besucht hat, erscheint fast immer eine Weile nach Beginn der Runde, setzt sich auf einen Stuhl in etwas fünf bis zehn Meter Entfernung und sieht uns zu.

Heute war wieder eine neue Teilnehmerin dabei: Frau W., Mitte Achtzig, orientiert und offensichtlich durch die Lobeshymnen einer anderen Teilnehmerin dazu bewogen, mal reinzuschauen. Ich erkläre ihr kurz die Materialien und die Handhabung und sie beginnt umstandslos mit einem Aquarell, so als hätte sie nur darauf gewartet, endlich in dieser Richtung kreativ zu werden.

Dabei erzählt sie mir von einem Lied, das sie seit ihrer Kindheit verfolgt (im positiven Sinne), bzw. ihr nie wieder aus dem Kopf gegangen ist, seit sie es zum ersten Mal gehört hat. Sie singt ein paar Zeilen: 

„DAS möchte ich malen!“ sagt sie. Dank Internet und Apple Music kann ich schnell feststellen, dass es sich hier um ein Gedicht von Ludwig Uhland handelt und kann es zur ungläubigen Freude von Frau W. auch gleich aufrufen und abspielen. Wir hören eine Version vom Montanara-Chor und eine von den Fischer-Chören, und nicht nur Frau W. ist restlos glücklich über die Wiederbegegnung mit diesen Versen und dieser Melodie.

Ihr kommen die Tränen, sie schwelgt in Erinnerungen – „Sie glauben gar nicht, in wievielen Bergen und Tälern ich gewandert bin…!“ – und malt währenddessen beschwingt weiter. Ihre Sitznachbarin kann mit soviel Sentimentalität wenig anfangen und betrachtet sich das Bild kritisch. „Und warum ist da jetzt oben auf dem Berg das Haus? Wieso ist das so rund? Das sieht aus wie ne Kartoffel…“ Frau W. in ihrer exaltierten Gemütsverfassung ist unbeeindruckt und erklärt freundlich, dass das eben das Lied sei und in dem Lied stünde die Kapelle nun mal oben auf dem Berg. Obwohl bereits das Kreuz auf dem Haus auf eine Kirche oder Kapelle hinweist, zeichnet sie jetzt noch Kirchenfenster rein, so das auch Restzweifel an der höheren Weihe des Gebäudes oben auf dem Berg ausgeräumt sind.

Frau W. ist die zweite Teilnehmerin heute, die die kreative Aktivität nutzt, um in die tiefen Wasser der Erinnerungen hinabzutauchen. Auch Frau K., dienstälteste Teilnehmerin der Runde und seit 2017 dabei, kommt mit einer ziemlich konkreten Idee. Sie will den Gutshof zeichnen, den sie als junge Frau mit ihrer Familie, nach Krieg und Vertreibung aus Hinterpommern, als „Neubauern“ bewohnten. Die Gutsbesitzer waren von der sowjetischen Militäradministration oder der DDR-Regierung enteignet worden und nach dem Westen abgehauen. Besonders angetan hat es ihr in ihrer Erinnerung der Eingangsbereich und die Veranda des Gutshauses, wo Tanzveranstaltungen und Feste stattfanden.

Frau K. zeichnet am liebsten mit Ölpastellkreiden und ähnlichen, das Aquarellieren liegt ihr nicht, sie will den klaren, akzentuierten Strich. Ihre Bildideen entnimmt sie ihrer Erinnerung und plant die Umsetzung mit Akribie. Diesmal hat sie sich vorgenommen, alles auf schwarzem Papier zu machen und beschäftigt sich die gesamte anderthalbstündige Zeit unserer Gruppe mit einer Bleistift-Vorskizze und einer weiteren mit weißem Buntstift auf schwarzem Karton. Ich muss innerlich schmunzeln, denn ich weiß, das Frau K. sich hier wieder eine Aufgabe vorgenommen hat, die sie vermutlich bis zum Frühjahr in Anspruch nehmen wird.

Gegen Ende der Runde, als ich schon mit dem Aufräumen beginne, sagt mir Frau W. „Hätte ich gewußt, was Sie hier machen, wäre ich früher schon mal gekommen… Dass ich DAS Lied nochmal höre…!“

„Ja ja, schon klar“, ist meine Antwort. „Sie dachten, das ist so ein langweiliger Malkurs wo man irgendwas lernen und abmalen soll…“

Frau W. nickt. „Ja, dachte ich, aber Frau B. hat mir gesagt, das ich unbedingt mal mitkommen soll, und deswegen bin ich heute mitgegangen. Ich bin froh darüber! Bis nächste Woche!“

Als ich alle auf ihre Wohnbereiche gebracht habe und die Reste unserer Runde aufräume, Tische abwische usw., kommt ein Kollege vom Sozialen Dienst vorbei und bemerkt „Deine Malgruppe wird ja immer größer! Aber Frau B. verbreitet auch überall, wie toll das ist und dass du in jedem Bild alle möglichen Dinge siehst…“ das bezieht sich auf meine Angewohnheit, die in der Runde produzierten Bilder und Zeichnungen allen vorzuzeigen und sie zu kommentieren. Bei den Aquarellen ergibt das, in Kombination mit meiner reichlich vorhandenen Imagination und einem gewissen Hang zum Konfabulieren, oft fantastische Interpretation der Formen und Figuren, die man aus den Bildern herauslesen kann.