In dem diakonischen Pflegeheim, in dem ich arbeite, haben sich Einrichtungsleitung und Sozialer Dienst das ehrgeizige Ziel gesetzt, an jedem Tag zwei Gruppenveranstaltungen – eine vormittags, eine nachmittags – für die Bewohner anzubieten. Das ist nicht immer einzuhalten, da die bekannt üble Arbeitssituation in den Heimen die Mitarbeiter in Pflege und Betreuung gleichermaßen beansprucht. Immer ist irgendjemand gerade krank, hat Urlaub oder fällt aus anderen Gründen aus. Außerdem muß ja auch noch die Einzelbetreuung, vor allem der bettlägerigen Bewohner, abgedeckt werden.
An diesem Feiertag jedenfalls hat’s mich getroffen, als einziger Mitarbeiter des Sozialen Dienstes für das Vormittagsprogramm zu sorgen. Vorsichtshalber habe ich in den Wochenplan „Bunte Runde“ geschrieben. Damit halte ich mir alle Möglichkeiten offen, mit den Leuten Zeit zu verbringen, ohne mich auf irgendeine langweilige Beschäftigungsstunde oder -methodik festzulegen. So kann ich spontan entscheiden, was das Thema ist, kann aktuelle Ereignisse aufgreifen und auf mein Publikum reagieren.
Das Publikum in einem Pflegeheim besteht nun allerdings aus Menschen, die sowieso schon mal alle die eine oder andere substantielle Einschränkung haben – sonst wären sie nicht im Pflegeheim. Ein erheblicher Anteil der Bewohner ist dement, gefühlt mehr als die Hälfte. Das führt manchmal zu Situationen, wo sich die Minderheit der orientierten Bewohner beschwert, dass es für ihre Bedürfnisse und Interessen kaum Angebote gibt. Da fast immer sowohl demente wie orientierte Bewohner zu den Gruppenveranstaltungen kommen, neigen die Angebote zu einer gewissen „Niedrigschwelligkeit“: Singen, Sitztanz, Filmvorführungen, Spielerunden, wenn’s hoch kommt mal Gedächtnistraining (was dementiell veränderte Menschen, je nach Demenzgrad, häufig als Teilnehmer ausschließt).
Als Kunstgeragoge bin ich vor allem für die Kreativangebote zuständig, kann mich in meinen Diensten aber nicht immer vor der Einteilung für andere Angebote drücken. Diese allerdings mache ich nach Möglichkeit mittels meines „Bunte Runde“-Kniffs zu offenen, spontanen Treffen, in denen ich erstens situationsbezogen auf die Anwesenden eingehen kann und zweitens beiden Bewohnergruppen, Dementen wie Orientieren, gerecht zu werden versuche – durch einerseits viel Musik, Bilder und Geschichten und andererseits einer guten Dosis Fakten, Informationen und Betrachtungen aus Kunst, Kultur, Geschichte, Religion und Politik.
Was bietet sich also an einem christlichen Feiertag in einer diakonischen Einrichtung an? Genau: wir schauen uns mal an, was es mit diesem „Allerheiligen“ eigentlich auf sich hat. Das fängt an mit der naheliegenden, aber meist nicht gestellten Frage, was überhaupt ein „Heiliger“ ist. Verdutzte Gesichter, ratlose Blicke, bestätigendes Kopfnicken – mein Publikum zeigt eine Bandbreite von Reaktionen. SO haben sie die Sache noch gar nicht betrachtet. Frau W., eine orientierte Mitt-Achtzigerin, meldet sich zu Wort und berichtet (wobei sie fast erleichtert wirkt), dass sie „an diesen Kram mit den Heiligen“ sowieso noch nie glauben konnte. Sie würde lieber der nicht so heiligen und verstorbenen Menschen gedenken, die hätten‘s ja wohl nötiger.
Das findet die Zustimmung der anderen, die sich nun scheinbar alle überlegen, wieso eigentlich einige heilig sind und andere nicht. Jemand wirft ein, dass es der Papst ist, der die Heiligkeit erklärt. Wir stellen uns gemeinsam vor, wie eine Gruppe alter, bizarr bekleideter Männer sich versammelt, um auf der Grundlage von wilden Geschichten und Erzählungen irgendwelchen armen Schweine, die für ihren Glauben starben oder sich aufgrund ihrer guten Werke einen Namen gemacht haben, posthum eine offizielle Heiligkeitsurkunde zu verleihen. „Da haben die ja auch nicht mehr viel von“, merkt Frau D. an, womit sie zweifellos richtig liegt.
Wo wir schon mal dabei sind, zeige ich jetzt ein paar Bilder der typischen Ikonographie, mit der die Allerheiligenthematik traditionell illustriert wird: Die Heiligen sind in der Regel konzentrisch um Gott oder Jesus versammelt und beten und jubilieren was das Zeug hält. Gerne werden sie auch von Engeln begleitet, die unablässig Lob und Preis singen. Nach einiger Betrachtung und Erörterung kommen wir zu dem Schluß, dass diese Heiligen ziemlich gut drauf sind. Sie haben ja auch allen Grund dazu: sie sind im Himmel, an der Seite des göttlichen Vaters oder seines Sohnes, es fehlt ihnen an nichts, alle finden sie ganz klasse und beten sie an – da gibt’s im Grunde nichts zu meckern, so ein Leben lässt sich aushalten.
Warum also ist Allerheiligen dann „stiller Feiertag“ mit Tanzverbot und Verbot lauter Musik? Auf den Bildern sieht man doch Engel mit Posaunen, und die sind bestimmt nicht leise. Jetzt meldet sich erneut Frau W.: „Da sieht man doch, was für ein Unsinn das ist. Allerheiligen sollte man lieber fröhlich sein und feiern, Tanz und Musik sollten erlaubt sein. Das stille Gedenken ist für Allerseelen, wo man an die Verstorbenen denkt und Kerzen anzündet.“
Dem hab ich wenig hinzuzufügen, außer dass nach soviel Reden und Information jetzt erstmal wieder Musik und Tanz ansteht. Das Tänzchen führe ich mit meiner heutigen ehrenamtlichen Assistentin aus, die zufällig Michaela heißt – was mir Gelegenheit gibt, meiner schlager-affinen Runde Bata Ilic‘s gleichnamigen Hit von 1972 vorzuspielen: „ Ich tue alles für dich, denn ich liebe nur dich, Michaela-a-ha…!“. Das kennt jeder, fast alle singen begeistert mit und ich sinniere vor mich hin, ob ich auch heute wieder die nötige Balance zwischen Religionskritik und arbeitsvertraglicher Jobdefinition gewahrt habe. Da es jetzt munter mit Schlagerklassikern weitergeht, Erinnerungen an die Musik der Jugend und des jungen Erwachsenenalters der Leute die Runde machen, und alle immer fröhlicher und gelöster zu werden scheinen, beantworte ich mir das selber mit „Ja“.
Nach Ende der Runde haben die Assistentin und ich den Rücktransfer unserer Gäste auf vier Wohnbereiche in zwei Stockwerken zu bewältigen. Als wir uns wieder unten im Veranstaltungssaal zum Aufräumen treffen, sagt mir Michaela, die gerade Frau W. hoch gebracht hat: „Ich soll dir von Frau W. sagen, dass das die beste Veranstaltung war, bei der sie bisher war – sie hat so viel gelernt und sich so gut unterhalten gefühlt, dass ich dir das nochmal sagen soll!“