Geschichten aus dem Pflegeheim: Mal wieder Notstand und der Zug, der heute abfährt und auch morgen nicht zurückkommt

Seit vergangener Woche grassiert das Noro-Virus in der Einrichtung. Als ich heute zur Arbeit erscheine, ist schon alles in Alarmstimmung: mittlerweile 10 Bewohner „meines“ Wohnbereiches sind infiziert; insgesamt 13 Mitarbeiter haben sich krankgemeldet.

Eine Noro-Virus-Infektion ist zwar lästig und unangenehm, aber meistens nach 2 Tagen wieder vorbei. Allerdings bleiben Infizierte noch etwa eine Woche lang selber ansteckend für andere. Außerdem kann es wegen des Flüssigkeitsverlustes durch Erbrechen und Durchfall gerade bei Älteren schnell lebensbedrohend werden.

In einer Notbesprechung von Wohnbereichsleitung und Mitarbeitern mit der Einrichtungsleitung werden die Maßnahmen zur Eindämmung dieses fiesen Magen-Darm-Virus verkündet: alle Infizierten sind zu isolieren, die Räume werden nur von entsprechend mit Schutzkleidung ausgerüsteten Pflegekräften betreten, das Geschirr wird in speziellen Plastikboxen separat entsorgt. Sämtliche Bewohner der Einrichtung bleiben ab sofort auf ihren Zimmern, alles Geschirr des Wohnbereiches wird nicht mehr in der Wohnbereichsküche gespült, sondern in die Großküche gebracht, wo hochleistungsfähige Spülmaschinen einen keimfreien Abwasch gewährleisten.

Der Einrichtungsleiter berichtet von seinem Gespräch mit dem zuständigen Gesundheitsamt, wo man ebenso wie er darüber erstaunt war, dass trotz aller Corona-Schutzmaßnahmen ein derart massiver Ausbruch von Noro-Viren passieren konnte.

Er deutet an, dass die krankgemeldeten Mitarbeiter es dann wohl mit der Umsicht und den Schutzvorkehrungen nicht sehr genau genommen haben könnten.

Ich selber denke mir, dass dies die günstigste Gelegenheit für jeden Kollegen ist, sich ein paar freie Tage zu ergattern, indem man sich mit Magen-Darm-Symptomen krankmeldet. Übelnehmen kann ich das keinem. Die Pflegekräfte sind sowieso schon durch den Corona-Alltag jenseits ihrer Belastungsgrenzen; jetzt kommt noch der Noro-Virus hinzu, was im Grunde doppelten Aufwand bedeutet, da so viele Schutzvorkehrungen eingehalten werden müssen. Auch ich ertappe mich bei jedem der obligatorischen Schnelltests alle zwei Tage bei dem Gedanken „Hoffentlich ist das Ergebnis jetzt positiv, dann hast du ein paar freie Tage in Quarantäne zuhause….“

Wenn dann noch Kollegen ausfallen, ist Land unter auf der Station. Ergo wird ab morgen der Personalmangel mal wieder mit externen Leiharbeitern kompensiert.

Für die Bewohner ist der erneute Ausnahmezustand ein „Zurück auf Null“. Die Dementen kommen am schwersten damit zurecht. Die Unterbrechung ihrer gewohnten Tagesabläufe (die meisten habe ich wochentags in der „Tagesgruppe Demenz“) wirft sie aus der Bahn.

Frau Sch., 90 Jahre, sitzt wie ein Häufchen Elend auf ihrem Bett und wiederholt immer wieder „Ich bin so durcheinander…“ und „Wo bin ich hier eigentlich?“. Ich setze mich zu ihr, wir erzählen ein bißchen, hören ein paar alte Schlager und sie beruhigt sich wieder etwas. Als ich für uns beide einen Cappucino organisiere und gemütlich mit ihr trinke, strahlt sie übers ganze Gesicht. „Ihr seid alle so lieb zu mir!“

Keine 10 Minuten später ist sie wieder mit ihrem Rollator auf dem Gang unterwegs. „Wo bin ich hier eigentlich?“, höre ich sie sagen. Ich erklär‘s ihr und begleite sie zurück in ihr Zimmer. Sie versucht, ihrer Verwirrung Ausdruck zu verleihen: „Ich hab das Gefühl, ich bin gar nicht ich“, sagt sie.

DAS Gefühl ist mir wiederum bestens bekannt und ich kann sie beruhigen: „Das ist völlig in Ordnung“, antworte ich. „Keiner weiß, wer „Ich“ ist, alle tun bloß so als ob sie wüßten, wer sie sind. Und außerdem, E. (ich spreche sie immer mit Vornamen an, weil das bei dementen Menschen meistens besser funktioniert als die förmliche Anrede), wenn Sie nicht Sie sind, wer sind Sie denn? Vielleicht ich?“

Diese Art witzig-wahrer Absurdität kommt gerade bei Dementen in der Regel gut an, und auch Frau Sch. muss lachen bei der Vorstellung, dass sie ich ist. Damit ist die Identitätskrise überwunden und wir wandern zusammen den Gang entlang bis zu ihrem Zimmer. „I am he as you are he as you are me as we are all together…“ klingt es danach als Dauerohrwurm in meinem Kopf.

Bevor ich zum Walross werde, sehe ich, wie sich am anderen Ende des Ganges der nächste Alarmzustand entfaltet: Frau H., ebenfalls Mitglied der „Tagesgruppe Demenz“, hat den verordneten Zimmeraufenthalt natürlich ignoriert und sitzt jetzt außerhalb des Wohnbereiches in einem bequemen Sessel.

Vor ihr hat sich die ansonsten sehr sympathische PFK T. aufgebaut und diskutiert mit ihr. Als ich dazukomme, versucht Frau H. gerade, sich mithilfe ihres Rollators aus dem Sessel zu wuchten. Sie ist erkennbar aufgeregt; in einer Mischung aus Einschüchterung und Empörung fragt sie Schwester T. immer wieder, was diese wolle, ob sie (Frau H.) etwas falsch gemacht hätte usw.

Schwester T., ohnehin schon seit Dienstantritt mega-gestresst von der Gesamtsituation, sieht nur, das sie hier für die Einhaltung der Regeln zu sorgen und dann wieder ihren sonstigen Pflichten nachzugehen hat und redet auf Frau H. ein: „Wollen Sie das Noro-Virus kriegen? Wollen Sie das Noro-Virus kriegen?!“

Frau H., die in ihrer Demenz keine Möglichkeit hat, den Sinn dieser Ansprache – die obendrein noch in genervt-gestresstem Tonfall vorgetragen wird – zu verstehen, ist entsprechend widerwillig und fühlt sich drangsaliert. Ich sehe, dass ich eingreifen muss.

Komm mal her, M.“, sage Ich zu ihr, indem ich mich zwischen sie und die PFK stelle und sie vor dem Geschimpfe abschirme. (Entgegen der Hausregel duze ich Frau H., auf Wunsch ihrer Angehörigen und weil besonders bei ihr die förmliche Anrede manchmal überhaupt keine Reaktion auslöst).

Lass uns mal wieder zurück ins Zimmer gehen. Im Moment sollen wir nicht hier draußen sitzen, wegen so einer Krankheit, die gerade ganz viele bei uns haben…-“, sage ich freundlich zu ihr, nehme sie beim Arm und geleite sie langsam zurück in den Wohnbereich.

Die PFK sieht, dass die Ordnung wiederhergestellt ist und verzieht sich. (Später nehme ich sie beiseite und erkläre ihr, dass und warum diese Art der Ansprache bei dementen Menschen nicht funktioniert. Sie sieht’s auch sofort ein, wirkt etwas beschämt und verweist als Erklärung auf den Stress und den Arbeitsdruck auf der Station).

Frau H., zusammen mit mir mittlerweile in ihrem Zimmer sitzend, hat sich gefangen, ist aber noch nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen. „Was wollte die denn von mir?!“ fragt sie. „Glaubst du mir, dass mir das innen (sie zeigt auf ihr Herz) überhaupt nichts ausmacht? Aber den Schrecken, den hab ich doch…“

Sie holt Luft. „Die hat so auf mich eingeschimpft… ich weiß gar nicht, was die überhaupt wollte!“. Jetzt grinst sie mich an: „Ich kann auch mal Deutsch mit der reden! So richtig Deutsch, verstehst du? Dann kann die mal sehen, das sie mich so nicht behandeln kann! Dann sieht sie mal, dass der Zug, der heute abgefahren ist, auch morgen nicht zurückkommt!“

Dieses schöne Bild scheint ihr eine befriedigende Auflösung der erlebten Aufregung zu sein, und auch ich finde Gefallen an dem Gleichnis: Der Zug, der heute abgefahren ist und auch morgen nicht zurückkommen wird – das ist gewissermaßen das Leben mit Demenz, wenn nicht ganz grundsätzlich von jedem.