Geschichten aus dem Pflegeheim: Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Mal wieder Küchendienst! Die ansonsten in der Hauswirtschaft eingesetzten billigen FSJ-Kräfte sind auf irgendeiner Fortbildung und so muß der halbe Soziale Dienst der Einrichtung zum Küchendienst auf den verschiedenen Wohnbereichen antreten.

Das bedeutet gleichzeitig, dass die Bewohner des Wohnbereiches den Vormittag über sich selbst überlassen werden müssen. Das ist nicht einfach für die Bewohner, besonders für diejenigen, die sonst an der „Tagesgruppe Demenz“ teilnehmen – in „meinem“ Wohnbereich die meisten.

Auch die Pflege ist dann schnell überfordert, weil man dort zwar die Leute pflegerisch versorgen kann – mehr aber auch nicht. Schon aus Zeitgründen, doch auch weil die meisten Pflegekollegen weder Sinn dafür, noch Kenntnisse oder Lust haben, sich ein Betreuungsangebot auszudenken und durchzuführen.

Ich bereite also ab 7:30 das Frühstück für 24 Bewohner und kümmere mich im Speisesaal um acht von ihnen. Gegen 9:20 sind alle versorgt, haben den zweiten oder dritten Kaffee getrunken und werden trotzdem langsam wieder müde. Die 90-jährige Frau Sch., deren Zimmer direkt neben dem Speisesaal liegt, geht kurz zur Toilette. Sie kommt nach ein paar Minuten zurück und fragt: „Haben wir schon Frühstück gehabt?“

Ja, Frau Sch.“, antworte ich ihr und zähle ihr auf, was sie alles zum Frühstück hatte. Sie nimmt es hin, kann sich aber erkennbar nicht erinnern. Als ich mit dem Geschirrwagen zur Küche gehe, kommt sie mir mit ihrem Rollator hinterher und will nochmal wissen: „Hab ich wirklich schon gefrühstückt? Ich bin ganz durcheinander… es ist doch morgens, nicht?“

Sie scheint keine Möglichkeit zu haben, irgendein Sättigungsgefühl zu verspüren; dabei hatte sie ordentlich gefrühstückt und hinterher ich noch einen Joghurt und eine Banane gegessen. Ist aber alles vergessen – als wenn es nie passiert wäre.

Ich weiß: wenn ich dieser Dame nicht irgendeine Betätigung oder Betreuung biete, wird sie die nächsten zwei Stunden bis zum Mittagessen immer wieder fragen, ob es schon Frühstück gab, ob sie schon gegessen hat, wann es etwa zu essen gibt usw.

Nicht weil sie Hunger hat, sondern weil sie in der unüberschaubaren Weite ihre inneren Verlorenheit irgendeinen Anhalts- und Ankerpunkt, einen Kontakt braucht, der ihrem Vormittag Struktur und Sinn gibt.

Eine andere Bewohnerin, Frau H., zieht mich beiseite und berichtet mir unter Tränen, das sie sich so einsam fühlt, ihre Familie vermisst und gar nicht versteht, warum sie nicht „wieder nach Hause“ kann.

Auch in ihrem Fall ist mir klar, dass sie sich ohne Zuwendung, ohne Ansprache und Beschäftigung immer nur noch weiter in ihre Gefühlswelt fallen lassen wird, weil sie gar nicht anders kann als von den ungefilterten Wogen emotionaler Schwankungen und Erinnerungsbruchstücken überrollt zu werden.

Es bleibt zwischen den Arbeiten für Frühstück und Mittagessen etwa eine Stunde Zeit. Ich ergreife also die Gelegenheit für ein improvisiertes Angebot für die jetzt ca. zehn Leute, die im Speisesaal sitzen geblieben sind und durchweg vor sich hinstarren, einnicken oder, von innerer Unruhe und Langeweile getrieben, immer wieder aufstehen und durch die Flure schieben.

Wie meistens kommen wir mit Hilfe eines Flipcharts und der einschlägigen Spotify-Playlist vom Hölzchen aufs Stöckchen und landen bei einem Klassiker aus den 1940er-Jahren, den meine betagte Klientel gerne hört und trotz Demenz in der Regel auswendig kann.

Ach ja, das waren schöne Zeiten!“ seufzt die 90-jährige Frau Sch.

Sie kommt ins Schwärmen: „Das haben wir bei der Hitlerjugend gesungen und so gerne dazu getanzt…“ Versonnen blickt sie in eine innere Landschaft der Erinnerung und wiegt sich im Rhytmus der Musik.

Das wurde immer im Soldatensender gespielt!“, erinnert sie sich. „Ich konnte das auch zuhause hören; meine Eltern hatten ein Radio. Ein Blaupunkt-Radio!“

Ich stimme ihr zu, dass die Musik wirklich schön ist, gebe aber auch zu bedenken, dass die Zeiten ja nicht nur schön gewesen sein können – immerhin war da ja gerade Krieg.

Das räumt Frau Sch. umstandslos ein: „Ja, das waren schlimme Zeiten…“, heißt es jetzt. Sie denkt ein bißchen nach und ergänzt dann: „… aber die Musik war schön!“

https://youtu.be/ihGTPf2jIDs

Geschichten aus dem Pflegeheim: personeller Notstand nach zweiter Impfung

Sieben Kollegen haben sich nach der zweiten Impfung krankgemeldet. Der ohnehin spärlich besetzte Wochenenddienst ist jetzt noch ausgedünnter. Als Konsequenz müssen mehrere Kollegen in „Teildienste“ – um 10:00 oder 10:30 nach Hause und um 16:00 für die Spätschicht wiederkommen.

Extra bezahlt wird das nicht, wer weiter weg wohnt hat die Arschkarte. Die Kollegen dann gleich die ganze Zeit im Haus zu lassen, was arbeitsaufkommensmässig angebracht wäre, wird aus finanziellen und arbeitsrechtlichen Gründen nicht gemacht.

So werden 24 Bewohner von einer einzigen PFK (Pflegefachkraft), zwei Pflegehilfskräften und mir als Vertreter des Sozialen Dienstes versorgt – die Betreuung der Leute ist aber heute sowieso nicht drin: da auch keine Hauswirtschaftskräfte da sind, muß ich meine Zeit hauptsächlich in der Küche und beim Vorbereiten und Servieren der Mahlzeiten verbringen.

Trotzdem nehme ich mir die Zeit, um eine halbe Stunde mit einer depressiven Dame zu verbringen, die von der Pflege dazu verdonnert ist, die Zeit zwischen den Mahlzeiten in ihrem Rollstuhl oder ihrem Sessel zu sitzen (statt, wie sie es lieber täte, auf dem Bett liegend).

Sie leidet unter ihrem fortschreitenden körperlichen Verfall durch ihre Parkinson-Krankheit und gilt als „schwieriger Fall“, weil sie die Pflegekräfte gelegentlich mit „herausforderndem Verhalten“ nervt.

Nicht ganz zu unrecht fühlt sich die Frau „bestraft“ und wie ein unmündiges Kind behandelt. Die Pflege hat allerdings ein gutes Argument für die Maßnahme: Dekubitusgefahr! Längeres Liegen kann tatsächlich die berüchtigten Wundliegegeschwüre verursachen.

Jedenfalls gilt es hier abzuwägen zwischen den Wünschen der Bewohnerin (die immerhin 4000 Euro pro Monat für den Platz im Pflegeheim zahlt) und den medizinischen und psychologischen Erfordernissen (depressive Menschen können durch Rückzug und „sich verkriechen“ noch tiefer in die Depression hineingeraten).

Ich thematisiere das Dilemma bei den Kollegen der Pflege und wir einigen uns auf einen Kompromiss: die Bewohnerin wird vormittags mobilisiert (der Ausdruck dafür, dass sie angezogen und in den Rollstuhl gesetzt wird), aber auf Wunsch zurück ins Bett gebracht, sofern sie Betreuungsangebote durch den Sozialen Dienst ablehnt.

Damit habe ich mir bzw dem Sozialen Dienst die Verpflichtung auferlegt, speziell dieser Bewohnerin eine Extra-Einzelbetreuung zu widmen, was aber erstens ohnehin zum Aufgabenbereich gehört und zweitens der Situation der Frau gerechter wird als wenn sie zwangsweise zum Aufrechtsitzen verurteilt wird, ohne dass ihr entsprechende Angebote gemacht werden, wie sie ihren Vormittag gestalten kann.

An diesem Wochenende, mit der Notbesetzung und der Arbeitsüberlastung an allen Ecken und Enden, keine einfache Angelegenheit. Für die Bewohner – außer der besagten Dame – bleibt ein bißchen Abwechslung durch alte Schlager und ein paar kurze Gespräche zwischen Tür und Angel, die ich in die wenigen Atempausen des Küchendienstes einbaue.

Zum Glück merke ich selber nichts von irgendwelchen Auswirkungen der zweiten Impfung. Wie ein guter Freund bemerkte: „Du hast den Gott der Narren auf deiner Seite!“

Auch die Bewohner melden außer ein bisschen Muskelkater nichts. Gleichzeitig verbreiten sich schon hoffnungsvolle Gerüchte im Haus, dass „ab Montag alles wieder normal“ liefe. Diesen Zahn muss ich ihnen leider ziehen, denn von so einer Maßnahme hätte ich sicher gehört.

Fazit des Arbeitstages: der Notstand in den Pflegeheimen kann immer noch durch kurzfristige Personalausfälle getoppt werden, und die zweite Impfrunde war wohl für einige kein Sonntagsspaziergang.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Die Erfindung der Musik

Zwischen Frühstück und Mittagessen sind 5 – 7 Bewohner zu betreuen und zu beschäftigen, die im Speisesaal des Wohnbereiches sitzen bleiben – teils weil sie zu dement oder zu müde sind, um woanders hinzugehen, teils weil sie es alleine in ihren Zimmern nicht aushalten.

Die Mehrzahl von ihnen ist normalerweise in der wochentäglichen „Tagesgruppe Demenz“, aber in Pandemiezeiten ist gerade im Pflegeheim nichts normal und die Tagesgruppe findet nun schon seit 7 Monaten nicht mehr statt.

Meine Aufgabe besteht darin, die Leute zu beschäftigen bzw. zu UNTER- und der ohnehin überlasteten Pflege VOM Hals zu halten. Unbeschäftigte, sich selbst überlassene Bewohner, speziell Demente, neigen nämlich dazu, entweder Unsinn anzustellen oder den überforderten Pflegekräften durch ständiges Auf- und Ab- und Hin- und Herlaufen oder durch häufigen Betreuungsbedarf den letzten Nerv zu rauben.

Selbst wenn sie mal nichts brauchen oder wollen ist es ein überaus trauriger Anblick, eine Gruppe alter Menschen stundenlang alleine in einem Raum sitzen zu sehen, meistens stumm, viele vor sich hin dämmernd und mehr oder weniger sediert in die Gegend starrend. Außerdem verstößt es gegen die Fürsorgepflicht der Einrichtung, die Leute einfach sich selbst zu überlassen.

Heute bringe ich zusätzlich zu Flipchart, Malstiften und Audio-Equipment einen Eimer mit ausgedienten, sehr stabilen Röhren aus Hartpappe mit, von ungefähr doppelter Länge der Innenröhre einer Küchenrolle und vom selben Durchmesser. Den Eimer habe ich irgendwo im Haus rumstehen sehen und sogleich für den Einsatz in meiner Runde für gut befunden.

Kaum habe ich den Raum betreten, in dem bereits sieben erwartungsfrohe Bewohner sitzen, ergibt sich auch schon die Möglichkeit des Einsatzes meiner Pappröhren: ich sehe, wie Frau S. – eine freundliche 90-Jährige mit mittelschwerer Demenz – fröhlich im Takt zu einem Strauß-Walzer mit den Füßen wippt und erkennbar von der Musik angeregt ist und begleite den Rhythmus mit einer der Röhren.

Das ruft sofort die Aufmerksamkeit der Runde hervor, und damit ergibt sich der weitere Ablauf wie von selbst: Jeder der Anwesenden erhält zwei Röhren und nach kurzer Einübung veranstalten wir ein regelrechtes Trommelkonzert. Zur Inspiration meiner Truppe spreche ich über die Erfindung der Musik – ein hervorragendes Thema, um gleich eine Runde Gedächtnistraining zu machen.

Mit ein bißchen Nachhilfe kommt Frau S. darauf, dass sicherlich der Rhythmus, also das Trommeln, der Ausgangspunkt aller menschlichen Musik war. An dieser Stelle rege ich die Fantasie meiner Schützlinge mit einer weiteren Story direkt aus der ungeschriebenen „Geschichte der grauen Vorzeit“ an und erzähle von Uga-Uga, dem Affenkönig, der in der Steppe ein paar Mammutknochen entdeckte.

Erst wusste er nicht, was er damit fangen sollte, aber nach einer Weile Rumspielen mit den Knochen entdeckte er, dass sich damit ganz hervorragende Rhythmen hervorbringen ließen- die Geburtsstunde der Musik! (Die kleine Anleihe bei Kubricks „2001 – A Space Odyssey“ verschweige ich der Runde, weil das den Rahmen gesprengt hätte).

Jedenfalls sind die Trommler glücklich und erfreut über die eigene musikalische Darbietung und wir beschließen spontan, nächste Woche an Karneval ein Gratiskonzert im Wohnbereich zu geben. Ich selber bin etwas erhitzt und außer Atem, denn um die Geschichte von Uga-Uga dem Affenkönig möglichst plastisch wiederzugeben, konnte ich natürlich nicht darauf verzichten, auch seine affenmäßigen Trommeltänze und -gesänge vorzuführen – zur Erheiterung meiner Leute und der vom Getrommel herbeigelockten Pflegekräfte und sonstigen Mitarbeiter des Wohnbereiches, die sich das Spektakel entweder kopfschüttelnd oder amüsiert eine Weile mit anschauen.

Damit ist der Vormittag auch schon wieder überstanden und das Mittagessen naht. Wir beenden die Runde mit dem Klassiker „Wir haben Hunger Hunger Hunger, haben Hunger Hunger Hunger, haben Hunger Hunger Hunger, haben Durst…“ zu Trommelbegleitung.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Seemannsgarn

Noch mehr Flipchart-Illustrationen:

Das wogende Meer bei strahlender Sommerhitze wird natürlich von Walter dem Wal hervorgerufen, der – neugierig wie er ist – mal kurz auftaucht um sich das Fischerboot anzugucken.

Kann er ja nicht wissen, dass seine gewaltige Wasserverdrängung den beschaulichen Fischfang von Käptn Kuno zu einer abenteuerlichen Berg- und Talfahrt werden lässt!

Meine dementen Zuschauer sind fasziniert und fiebern mit. Begleitet wird das Multimedia Event von der bewährten Spotify Playlist „Seemannslieder und Meeresrauschen“.

Die Nachricht, dass „Walfische“ gar keine Fische sind, wird von der Runde mit Erstaunen aufgenommen. Man nimmt es aber wohlwollend zur Kenntnis und irgendwie ist es auch egal, denn hauptsächlich führt es uns zum nächsten Lied, das tatsächlich einige mitsingen können: der „Ballade von Mackie Messer“ aus der Dreigroschenoper – wohl das einzige Bisschen proletarische Kultur, das hier im tiefen Westen in den Köpfen hängengeblieben ist.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Ein bißchen Spaß muß sein

Frau H., Teilnehmerin der „Tagesgruppe Demenz“ (die coronabedingt jetzt schon seit fast einem halben Jahr nicht mehr stattfindet), hat ebenso wie die anderen Teilnehmer zu kämpfen mit dem Verlust ihrer gewohnten Tagesstruktur, der Gemeinschaft mit den anderen und dem ausgedünnten Angebot sozialer Betreuung. Selbst in den Phasen des kompletten Heim-„Lockdowns“ war es unmöglich, sie dazu zu verpflichten, ausschließlich in ihrem Zimmer zu bleiben.

Bei ihr und einigen anderen Bewohnern mit Demenz war klar, dass wir am besten damit fahren (und den Leuten am besten gerecht werden), wenn wir ihren Bewegungsdrang so wenig wie möglich einschränken. Erstens ist sie gar nicht in der Lage, den Grund der Einschränkungen zu verstehen und zweitens ist ein erzwungener Zimmerarrest unzulässig (“freiheitsentziehende Maßnahmen” müssen richterlich angeordnet werden). Der Schaden in Psyche und Lebensqualität der Bewohner übersteigt das potentielle Covid-19-Infektionsrisiko vermutlich bei weitem.

Seitdem jedenfalls sieht man Frau H. sowie ihre anderen dementen Kollegen des Wohnbereichs täglich die Gänge auf und ab schieben, meistens mit ihren Rollatoren, manchmal wackelnd und unsicheren Trittes einfach so. Sie halten es in ihren Zimmern einfach nicht aus. Inzwischen dürfen wieder kleine Gruppenangebote von maximal 4 festen Leuten stattfinden – was zur Folge hat, dass diejenigen, die an dem jeweiligen Vor- oder Nachmittag nicht “dran sind“, sehnsüchtigen Blickes vor den gläsernen Türen des Gruppenraumes stehen und nicht kapieren, warum sie da nicht rein dürfen.

Natürlich versuchen sie’s dann doch, und dann muss Ihnen erneut und vergeblich erklärt werden, dass das jetzt leider nicht möglich ist. Der meistgehörte Satz seit Monaten auf dem Wohnbereich ist „Frau X (Herr Y), gehen Sie bitte zurück in ihr Zimmer!“. Inzwischen dürfen die Leute zum Glück wieder das Zimmer verlassen, sofern sie eine Maske tragen – eine weitere Hürde besonders für Demente, die meistens nicht daran denken (können), sich so ein Ding vor Mund und Nase zu binden.

Frau H. jedenfalls, als Raucherin, braucht jetzt umso mehr Ihre Rauchpausen, um den ganzen Druck der ungewohnten und unangenehmen Situation loszuwerden. Heute begleite ich sie auf den Balkon, wo sie sich schwer seufzend in den Stuhl fallen lässt, sich die Zigarette anzünden lässt und dann zu mir sagt: „Ich bin so abgeledert, das kannst du gar nicht glauben! Mir ist so komisch, als ob ich nicht mehr leben würde. Ich weiß gar nicht mehr, was das alles soll…“

Sie zieht an ihrer Zigarette und fährt fort: „Aber dann…. (sie sieht mich mit einem schelmischen Lächeln an und fängt an zu singen):

Ein bißchen Spaß muss sein, dann ist die Welt voll Sonnenschein,
Und wenn wir beide uns gut verstehen,
dann kann es weitergehen!“

Ein weiterer, jetzt schon leichterer Seufzer und sie beendet ihre Raucherkontemplation mit der Bemerkung: „Wenn das der liebe Herrgott nicht hören kann, dann ist dem nicht zu helfen!“

https://youtu.be/4-DYhrD-N6M

Geschichten aus dem Pflegeheim: Corona-Alarm III

Der dritte Corona-Tote ist im Wohnbereich 3 zu beklagen. Von den Pflegern ist noch ein einziger übrig geblieben, der jetzt die betriebsfremden Zeitarbeiter anleiten muß, welche natürlich noch nicht mit den Abläufen des Hauses und der Wohnbereiche vertraut sind und die vor allem die Bewohner nicht kennen.

Ich unterhalte mich kurz mit ihm über die Situation in seinem Wohnbereich und erfahre so, dass die rasante Verbreitung des Virus auf ausgerechnet diesem Wohnbereich vermutlich auf eine Nachtschichtkollegin zurückzuführen ist. Diese hat wochenlang dort gearbeitet, sich aber – obwohl sie die Möglichkeit hatte – nicht testen lassen. Erst als es nicht anders ging und im Heim zur Vorschrift wurde, kam heraus, dass sie positiv ist. Vermutlich hat sie es geahnt, wollte es aber gar nicht so genau wissen, denn sie ist dringend auf das Geld angewiesen, das ihr die Nachtschichten bringen.

Und da die Nachtschichtkollegen definitiv mit ALLEN Bewohnern eines Wohnbereiches in Kontakt kommen (im Gegensatz zur Tagschicht, bei der sich die 2 – 4 Pflegekräfte die Zimmer bzw. die Bewohner aufteilen können), hat die betreffende Kollegin dann wohl als „Superspreader“ die gesamte Bewohnerschaft bis auf drei angesteckt. Soweit die Vermutung des komplett überarbeiteten Pflegekollegen von WB3.

Plausibel ist es jedenfalls: besagte Kollegin war früher in der Pflege, hat sich mit der schweren Arbeit aber den Rücken kaputt gemacht. Sie ist dann als Betreuungskraft in den Sozialen Dienst gewechselt, was mit einem Einkommensverlust von ca. 30% für sie verbunden war. Die – was die körperliche Arbeit betrifft – weniger anstrengenden Nachtschichten sind ein Mittel für sie, mit einem Zusatzeinkommen über die Runden zu kommen.

Ich denke über all diese Zusammenhänge nach, während ich Herrn K., unseren sehr wackeligen und sehr dementen Neuzugang, auf seinen Toilettenstuhl helfe, nachdem er eine Weile aus seinem Zimmer gerufen hat und kein Pfleger gekommen ist…

Zusammenhänge und Umstände, die im Grunde gar nichts mit dem Virus und der Pandemie zu tun haben, sondern mit der Lohnarbeit: ein Erwerbsmittel, das niemals für ein anständiges Leben ausreicht, das die Arbeiter ein Arbeitsleben lang in Unsicherheit und Ungewissheit über die geldmäßige Überlebensbasis versetzt, und das sehr oft dazu führt, dass die von Lohnarbeit Abhängigen unverantwortliche Risiken für sich selbst sowieso, aber auch für andere eingehen.

Herr K. weist mich unterdessen darauf hin, dass er „groß gemacht“ hat (was ich allerdings schon gerochen habe) und wirkt dabei stolz wie ein Huhn, das ein Ei gelegt hat.

Ich muß ihn jetzt vom Toilettenstuhl hochziehen, mit einem Arm halten und mit der freien Hand säubern und anschließend Vorlage, Unterhose und Hose hochziehen.

Pflegerische Tätigkeiten sind dem Sozialen Dienst im Grunde untersagt, zumal wenn der Mitarbeiter nicht wenigstens den Schein als Pflegehilfskraft erworben hat. Da aber weit und breit keiner der Pflegekollegen in Sicht ist (es gibt schließlich noch 27 weitere Bewohner zu versorgen), weil ich Herrn K. ersparen will, in die Hose machen zu müssen und weil mir ohnehin nichts Menschliches fremd ist, sorge ich eben an dieser Stelle für Ordnung bzw. Sauberkeit.

Herr K., der erfreulich schamfrei und natürlich mit seinen Ausscheidungsvorgängen umgeht, ist anscheinend zufrieden mit meiner Handreichung; möglicherweise auch, weil er lieber von einem Mann versorgt wird als von der resoluten Wuchtbrumme, die heute auf seinem Flur Dienst hat und eher burschikoser Natur ist („Stecken Sie aber Ihren Helmut auch mit rein!“, heißt es bei ihr, wenn sie dem Bewohner bedeutet, dass auch und vor allem sein edelstes Teil in die Öffnung des Toilettenstuhls hineinzuhängen ist).

Jedenfalls ergreift Herr K., der eine ausnehmend gute und rege Verdauung hat, nun jedesmal, wenn er meiner ansichtig wird, die Gelegenheit, mich um Hilfe bei der Verrichtung seiner natürlichen Bedürfnisse zu bitten – und so komme ich an diesem Vormittag noch ein zweites Mal zu der Ehre, Herrn K. in dieser Hinsicht behilflich zu sein. Ein drittes Mal blocke ich ab mit dem noch nicht mal gelogenen Hinweis, dass ich das Mittagessen vorbereiten müsse und benachrichtige eine Pflegekraft.

Nach dem Mittagessen ist zum Glück Dienstschluss für mich, und für heute bin ich froh, diesen derzeit so traurigen Ort hinter mir lassen zu können.

Foto: Antigen-Schnelltest bei Bewohnerin

Geschichten aus dem Pflegeheim: Corona-Alarm

Nachdem nach den ersten Corona-Fällen letzte Woche das Gesundheitsamt in der Einrichtung war und sämtliche Bewohner durchgetestet hat, stellt sich heraus, dass die bis jetzt ca. 10 Infizierten auf alle Wohnbereiche verteilt sind. Auch zwei Pflegekräfte von zwei verschiedenen Wohnbereichen sind positiv getestet worden.

Seit dem Wochenende sind weitgehende Einschränkungen für die Bewohner verhängt: die Leute sollen in ihren Zimmern bleiben und dort auch die Mahlzeiten einnehmen, Gruppenangebote finden nicht mehr statt, die „Tagesgruppe Demenz“ ebenfalls nicht.

Das ist für die Teilnehmer besonders hart, denn gerade die Dementen verstehen nicht, was das alles soll und wieso sie jetzt plötzlich nicht mehr aus dem Zimmer dürfen. In der Praxis erweist es sich als ein Ding der Unmöglichkeit.

Frau H., eine kleine, freundlich-ängstliche Frau mit Hinlauftendenz („Weglauftendenz“ ist als Ausdruck verpönt, da er andeutet, die Person würde aus Gründen weglaufen wollen, die bei der Einrichtung liegen), läuft wie immer die Flure auf und ab. Ihr Zimmer findet sie in den seltensten Fällen wieder; sie will aber auch gar nicht dort sein, sie KANN gar nicht länger als 5 Minuten am Stück IRGENDWO sein. Selbst in der „Tagesgruppe“ steht sie alle naselang auf und stiefelt los, weshalb ich sie kurzerhand zur offiziellen Kundschafterin der Tagesgruppe ernannt habe.

Ihr Auftrag lautet, uns regelmäßig zu berichten, was auf den Fluren und Gängen so los ist. Sie erfüllt ihre Kundschafterpflichten mit Disziplin und Hingabe und berichtet jedesmal, dass es nicht Neues gäbe. Jedenfalls ist sie durch ihre neue Position um einiges entspannter geworden, da sie wohl das Gefühl hat, etwas Nützliches beizutragen und nicht mehr getadelt oder mit genervten Kommentaren bedacht zu werden, wenn sie mal wieder unterwegs ist.

Kurzum, bei Frau H. ist es völlig zwecklos, es mit irgendeinem Zimmerarrest zu versuchen. Das Maximum was möglich ist: darauf zu achten, dass sie wenigstens den Wohnbereich nicht verlässt.

Ein anderes Mitglied der „Tagesgruppe“, Frau H.2, hat eine geniale Methode gefunden, den Stubenarrest zu umgehen: sie hat einen Toilettenstuhl direkt in ihre geöffnete Zimmertür gestellt und betrachtet von dort aus das Geschehen – immerhin ein kleiner Ersatz für die fehlenden Interaktion mit den anderen Bewohnern und den Mitarbeitern.

Als sie meiner ansichtig wird, winkt sie mich erfreut herbei und sagt „Meine Güte, ich bin ja so froh dass du da bist, du ahnst ja gar nicht, was hier schon wieder passiert ist…“

Ich erwarte eine ihrer wilden Geschichten über nächtliche Besuch ihres Vaters oder anderer längst verstorbener Verwandter, oder – sehr häufig bei ihr – aufgeregte Meldungen über russische Truppen, die eingerückt sind (oder kurz davor sind einzumarschieren), weshalb man jetzt unbedingt Hals über Kopf das Weite suchen müsse… Diesmal ist aber der Auslöser ihrer Besorgnis die Coronanotstandsrealität des Heimes, die sie zwar nicht versteht, aber in ihren Wirkungen auf ihren gewohnten Tagesablauf natürlich spürt. Sie vermischt die neue Situation mit Erinnerungsbruchstücken ihrer Jugend und berichtet mir eine sehr inkohärente Geschichte über Leute, die alles auf den Kopf gestellt und sie in diesen Raum gesperrt hätten.

Ich weiß gar nicht mehr, was hier los ist!“, stoßseufzt sie. „Wenn du jetzt hier bist: versprichst du mir, dass du mich nachher nach Hause bringst?“ Dass ihr Zimmer im Pflegeheim ihr Zuhause ist, entspricht vielleicht der äußeren Realität, ganz sicher aber nicht ihrem inneren Empfinden in diesem Moment.

Na klar!“, antworte ich ihr. „Ich bin heute den ganzen Tag hier und werde immer mal wieder nach dir schauen. Ich kümmere mich darum, dass du nachher nach Hause kommst…“

Das ist einerseits wahr (sie IST ja nun mal hier zuhause), andrerseits unwahr (ich weiß ja, dass sie etwas ganz anderes mit „zuhause“ meint als das Zimmer im Pflegeheim). Meine Antwort erfüllt aber ihren Zweck, Frau H.2 bleibt den Tag über vergnügt auf ihrem Beobachtungs-Toilettenstuhl sitzen und winkt oder zwinkert mir jedesmal fröhlich zu, wenn ich mit verschiedene Aufgaben den Flur hoch oder runter gelaufen komme. Zeit für ein paar Worte und einmal eine kurze Rauchpause ist immer und im Rahmen der besonderen Umstände haben wir für sie das Beste aus dem Tag rausgeholt.

Eine andere Teilnehmerin der „Tagesgruppe“ hatˋs heute besonders schwer. Schon bei Schichtbeginn fängt mich die verantwortliche Pflegefachkraft ab und fragt, ob ich mal zu Frau S. gehen könnte, die würde in ihrem Zimmer sitzen und weinen und wäre „ganz schlecht drauf“.

Frau S. sitzt tatsächlich wie ein Häufchen Elend auf ihrem Bett, Tränen laufen ihr über die Backen (gleich noch ein paar mehr, als ich reinkomme), aber sie strahlt, als sie mich sieht und sagt „Ach wie schön! Mir geht’s heute ganz schlecht, aber als ich gehört habe, dass Sie da sind, war ich gleich ein bißchen erleichtert.“

Sie erzählt mir, dass sie schlimme Rückenschmerzen hat und sich ganz furchtbar alt fühlt – worauf sie lachen muss und sagt „Na, bin ich ja auch mit fast Neunzig!“. Am schlimmsten für sie ist, dass unsere „Tagesgruppe“ nicht stattfindet, das es keinen Kontakt mit den anderen gibt und dass es heißt, die Leute sollen die Zimmer nicht verlassen. Das ist für Frau S., die noch mobil ist und jeden Tag und bei fast jedem Wetter ihre Runden im Garten dreht, die Höchststrafe.

Zusammen mit einem Mitarbeiter allerdings sind Spaziergänge ok, und so biete ich ihr an, sie in den Garten zu begleiten. Das muss ich ihr nicht zweimal sagen. Wir machen einen kleinen Ausflug in den sonnendurchfluteten, aber kalten Garten des Heimes, schauen uns die jetzt völlig entlaubte Riesen-Eiche und den Fischteich an und sind beide froh, nach 10 Minuten wieder im Warmen zu sein.

Der kurze Ausflug reicht aber, um Frau S. mit dem Tag und den Umständen zu versöhnen. „Das ist jetzt wie Weihnachten für mich!“ erklärt sie. Später am Tag berichtet sie mir noch zweimal, dass sie mit ihrem Sohn (der täglich anruft) über dieses tolle Erlebnis gesprochen hat und bedankt sich ein ums andere Mal für den Ausflug.

Um die Mittagszeit komme ich an der Rezeption vorbei und sehe dort eine Kerze brennen. Das bedeutet, dass jemand gestorben ist. Ich schaue mir den bei solchen Anlässen aufgehängten Rahmen mit Namen des Verstorben und irgendeinem christlichen Segensspruch an. Es ist ein Bewohner, der bei den anderen Bewohnern nicht besonders beliebt war (eher im Gegenteil) weil er oft verbal grob und provokant – besonders Frauen gegenüber – auftrat. Bei den Mitarbeitern galt er als „schwierig“, denn er lag meistens im Bett, duschte nicht und. ließ sich ungern waschen, was seinem Zimmer einen leichten Raubtierkäfiggeruch verlieh. Zu mir hatte er allerdings einen guten Draht (oder ich zu ihm). Mir war erstens sein Gestank ziemlich egal und zweitens hatte ich keine Hemmungen, ihm auch zu sagen, dass er stinkt. Vor allem aber hörte ich ihm zu, behandelte ihn nicht wie ein lästigen Störenfried und fuhr gelegentlich mit ihm zum ALDI, was ihm viel bedeutete.

Dieser am heutigen Morgen verstorbene 70-Jährige ist das erste Corona-Opfer der Einrichtung. Er war am Wochenende wegen Atemproblemen ins Krankenhaus eingeliefert und in ein künstliches Koma versetzt worden. Vorerkrankungen wie Arthrose und Diabetes waren vorhanden, gestorben ist er laut Information des Krankenhauses aber an multiplem Organversagen als direktes Resultat der Virusinfektion.

Die Einrichtungsleitung ist jedenfalls aufs Höchste alarmiert, das Gesundheitsamt sitzt dem Heim im Nacken und für alle heißt es jetzt erstmal, mit der Situation einigermaßen zurechtkommen und das Beste draus machen. Wer wirklich unter den Maßnahmen leidet, sind natürlich die Bewohner. Schon ein oder zwei Tage ohne die gewohnten Abläufe, ohne wenigstens die Gemeinschaft mit den anderen beim Essen oder bei den Angeboten des Sozialen Dienstes, und ziemlich viele drehen am Rad.

Ich schnappe mir den Einrichtungsleiter und die PDL und mache ihnen klar, dass es bei EINEM positiv Getesteten (auf „meinem“ Wohnbereich) nicht logisch und geradezu kontraproduktiv ist, jetzt alle Angebote zu streichen. Mit etwas Überredung erhalte ich die Konzession, wenigstens die Kunstgruppe stattfinden lassen zu können – mit der Auflage, dass nicht mehr als 5 Personen teilnehmen, ausreichend Abstand gewahrt und regelmäßig gelüftet wird. Außerdem solle ich versuchen, die Teilnehmer dazu zu bewegen, einen Mund-Nasenschutz aufzusetzen.

Ich sage alles zu, halte mich aber nur an die Abstandsregeln und Teilnehmerbegrenzung. Das Lüften vergesse ich, mit den Masken komme ich meinen Leuten gar nicht erst. Von den Fünfen sind zwei dement, und auch die Orientierten würden sich bedanken für eine solche Zumutung. Außerdem sitzen sie alle im Abstand von 2 Metern, so dass meiner laienhaften Einschätzung nach für Infektionsschutz ausreichend gesorgt ist, zumal bei Leuten, die vor wenigen Tage alle negativ getestet wurden.

Nach der Kunstgruppe räume ich auf, verstaue die Materialien in einer alten Kommode auf einer Empore zwischen den Wohnbereichen. Von dort aus kann ich ein Gespräch mithören, dass zwei gediegen demente Männer – aus zwei verschiedenen Wohnbereichen, was eigentlich gar nicht passieren dürfte – miteinander führen. Sie sitzen in den Sesseln im Foyer, mit ausreichendem Abstand voneinander und unterhalten sich.

D.h. eigentlich spricht nur einer, der joviale und äußerst redselige Herr K., der in dem ebenso jovialen, aber eher schweigsam-freundlichem Herrn K.2, den perfekten Zuhörer für eine seiner unwahrscheinlichen und höchst unterhaltsamen Monologe gefunden hat.

Ich hab ja selber gesungen und Musik gemacht. Für Karneval, für Vereine, für Kirchenchöre, für alles!“, holt Herr K. aus. „Die haben schon zu mir gesagt, Sie sind wohl der zweite Mozart… ja, das war damals, als wir jünger waren. Als wir jung waren, da gab es nicht nur den Mozart, da gab’s noch andere wie den Bach oder den Schiller. Der Schiller war ja ein Dichter! Und wie der dichten konnte, das kann heute keiner mehr!“

So geht es in einer Tour. Ich schaue kurz über die Brüstung und sehe Herrn K. dozieren, während Herr K.2 in seinem Sessel sitzt und sich anscheinend aufs Beste unterhalten fühlt. Leider kann ich dem interessanten Stegreif-Vortrag nicht weiter folgen, bzw. eigentlich glücklicherweise, denn ich hab Feierabend nach acht Stunden im Heim – und bin ehrlich gesagt froh, für heute dem Corona-Hotspot entronnen zu sein.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Sirenenalarm

Bewohner im Pflegeheim während des heutigen Sirenenalarms.

Obwohl wir natürlich vorab ausgiebig über das Thema und den Übungscharakter des „Warntages“ gesprochen hatten, ändert das nichts an den Erinnerungen dieser Generation an Fliegeralarm, Bombennächte und überstürztes Aufsuchen der Schutzräume.

Die Dame, die sich die Ohren zuhält, ist eine von etlichen in der Gruppe, die sich lebhaft an ihre Kindheit in den 1940er-Jahren, an verschüttete Bunkerinsasssen, an die Leichen auf den Straßen beim Verlassen der Schutzräume und dergleichen erinnern.

Die Bedeutung der einzelnen Tonsignale (Ankündigung, unmittelbare Gefahr, Entwarnung) muß man diesen Leuten nicht erklären – das kennen sie alle auswendig.

Ebenso erstaunlich wie die immensen Traumatisierungen dieser Generation ist auch ihre umfassende, alles Weitere ausblendende Bereitschaft, sich ausschließlich als OPFER schlimmer Zeiten und grausamer Umstände zu fühlen. Faschismus und Krieg werden hauptsächlich vom Ende her betrachtet, als der Krieg vergeigt und es mit der Nazi-Herrlichkeit vorbei war, und als zu Bomben und Kriegsbewirtschaftung auch noch Flucht und Vertreibung, also „der Russe“, kam.

DAS rechnet die Mitläufergeneration der faschistischen Führung (der sie zuvor zugejubelt hatte) als Sünde an, während man für Juden- und Kommunistenverfolgung sowie für das ganze Projekt eines völkischen Imperialismus sehr viel Verständnis hatte und (in seiner modernen demokratischen Version) hat.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Feiertagsdienst an Pfingsten

Dienste an christlichen Feiertagen bieten mir immer die Möglichkeit, in meinen Angeboten, scheinbar ganz im Sinne meines diakonischen Arbeitgebers, den Leuten Botschaft und Bedeutung des jeweiligen Feiertages nahezubringen bzw. ihre Erinnerung aufzufrischen (in der Praxis stellt sich schnell heraus, dass die Unkenntnis darüber, was im christlichen Jahreskalender warum gefeiert wird, nicht den Atheisten oder Dementen vorbehalten ist).

Vor allem kann ich unter der Tarnung der sozialen Betreuung und von lustigen Runden recht schön ein bisschen praktische Religionskritik anbringen.

Heute muss natürlich über Pfingsten gesprochen werden, von dem keiner auch nur die blasseste Ahnung hat, warum das ein Feiertag und was das überhaupt ist.

Ich erzähle also meiner Zuhörerschaft, was nach christlicher Legende Pfingsten bedeutet: dass da ein „heiliger Geist“ irgendwie in die Jünger gefahren oder von einer Art Taube (ja, genau: der Vogel, der alles voll kackt) ausgeschieden und in die Gläubigen geschüttet worden sei.

Derselbe heilige Geist übrigens, der ein paar Jahrzehnte vorher die Maria geschwängert hat, die dann den Jesus zur Welt brachte, um den sich bei den Christen alles dreht. Mein Publikum ist gebannt von dieser unerwarteten Volte der Geschichte und versucht anscheinend innerlich, eins und eins zusammenzuzählen.

Was ist denn nun ein ‚heiliger Geist‘?“

frage ich in die Runde. Ratlose Gesichter. Nur der volldemente Herr J. sieht aus, als ob ein Glöckchen klingeln würde. Er meldet sich und erklärt: „Ein Mensch, den man nicht sieht!“

Das klingt überzeugend, auch für die Umsitzenden. Wo wir schon mal bei Geistern sind, hake ich nach und frage, wie sie sich einen Geist – ob heilig oder nicht – vorstellen. Natürlich kommen wir auf Gespenster, Spuk und Geister á la „Hui-Buh das Schlossgespenst“ und alte Bettlaken mit reingeschnittenen Augenlöchern.

Die Runde ist erheitert, man lacht über das leicht depperte Gespenst und nimmt hoffentlich auch heilige Geister nicht mehr so ernst.

Wir beschließen den Vormittag mit ein paar Frühlingsliedern und alle freuen sich aufs Mittagessen, das an Feiertagen immer besonders lecker ist.