Der dritte Corona-Tote ist im Wohnbereich 3 zu beklagen. Von den Pflegern ist noch ein einziger übrig geblieben, der jetzt die betriebsfremden Zeitarbeiter anleiten muß, welche natürlich noch nicht mit den Abläufen des Hauses und der Wohnbereiche vertraut sind und die vor allem die Bewohner nicht kennen.
Ich unterhalte mich kurz mit ihm über die Situation in seinem Wohnbereich und erfahre so, dass die rasante Verbreitung des Virus auf ausgerechnet diesem Wohnbereich vermutlich auf eine Nachtschichtkollegin zurückzuführen ist. Diese hat wochenlang dort gearbeitet, sich aber – obwohl sie die Möglichkeit hatte – nicht testen lassen. Erst als es nicht anders ging und im Heim zur Vorschrift wurde, kam heraus, dass sie positiv ist. Vermutlich hat sie es geahnt, wollte es aber gar nicht so genau wissen, denn sie ist dringend auf das Geld angewiesen, das ihr die Nachtschichten bringen.
Und da die Nachtschichtkollegen definitiv mit ALLEN Bewohnern eines Wohnbereiches in Kontakt kommen (im Gegensatz zur Tagschicht, bei der sich die 2 – 4 Pflegekräfte die Zimmer bzw. die Bewohner aufteilen können), hat die betreffende Kollegin dann wohl als „Superspreader“ die gesamte Bewohnerschaft bis auf drei angesteckt. Soweit die Vermutung des komplett überarbeiteten Pflegekollegen von WB3.
Plausibel ist es jedenfalls: besagte Kollegin war früher in der Pflege, hat sich mit der schweren Arbeit aber den Rücken kaputt gemacht. Sie ist dann als Betreuungskraft in den Sozialen Dienst gewechselt, was mit einem Einkommensverlust von ca. 30% für sie verbunden war. Die – was die körperliche Arbeit betrifft – weniger anstrengenden Nachtschichten sind ein Mittel für sie, mit einem Zusatzeinkommen über die Runden zu kommen.
Ich denke über all diese Zusammenhänge nach, während ich Herrn K., unseren sehr wackeligen und sehr dementen Neuzugang, auf seinen Toilettenstuhl helfe, nachdem er eine Weile aus seinem Zimmer gerufen hat und kein Pfleger gekommen ist…
Zusammenhänge und Umstände, die im Grunde gar nichts mit dem Virus und der Pandemie zu tun haben, sondern mit der Lohnarbeit: ein Erwerbsmittel, das niemals für ein anständiges Leben ausreicht, das die Arbeiter ein Arbeitsleben lang in Unsicherheit und Ungewissheit über die geldmäßige Überlebensbasis versetzt, und das sehr oft dazu führt, dass die von Lohnarbeit Abhängigen unverantwortliche Risiken für sich selbst sowieso, aber auch für andere eingehen.
Herr K. weist mich unterdessen darauf hin, dass er „groß gemacht“ hat (was ich allerdings schon gerochen habe) und wirkt dabei stolz wie ein Huhn, das ein Ei gelegt hat.
Ich muß ihn jetzt vom Toilettenstuhl hochziehen, mit einem Arm halten und mit der freien Hand säubern und anschließend Vorlage, Unterhose und Hose hochziehen.
Pflegerische Tätigkeiten sind dem Sozialen Dienst im Grunde untersagt, zumal wenn der Mitarbeiter nicht wenigstens den Schein als Pflegehilfskraft erworben hat. Da aber weit und breit keiner der Pflegekollegen in Sicht ist (es gibt schließlich noch 27 weitere Bewohner zu versorgen), weil ich Herrn K. ersparen will, in die Hose machen zu müssen und weil mir ohnehin nichts Menschliches fremd ist, sorge ich eben an dieser Stelle für Ordnung bzw. Sauberkeit.
Herr K., der erfreulich schamfrei und natürlich mit seinen Ausscheidungsvorgängen umgeht, ist anscheinend zufrieden mit meiner Handreichung; möglicherweise auch, weil er lieber von einem Mann versorgt wird als von der resoluten Wuchtbrumme, die heute auf seinem Flur Dienst hat und eher burschikoser Natur ist („Stecken Sie aber Ihren Helmut auch mit rein!“, heißt es bei ihr, wenn sie dem Bewohner bedeutet, dass auch und vor allem sein edelstes Teil in die Öffnung des Toilettenstuhls hineinzuhängen ist).
Jedenfalls ergreift Herr K., der eine ausnehmend gute und rege Verdauung hat, nun jedesmal, wenn er meiner ansichtig wird, die Gelegenheit, mich um Hilfe bei der Verrichtung seiner natürlichen Bedürfnisse zu bitten – und so komme ich an diesem Vormittag noch ein zweites Mal zu der Ehre, Herrn K. in dieser Hinsicht behilflich zu sein. Ein drittes Mal blocke ich ab mit dem noch nicht mal gelogenen Hinweis, dass ich das Mittagessen vorbereiten müsse und benachrichtige eine Pflegekraft.
Nach dem Mittagessen ist zum Glück Dienstschluss für mich, und für heute bin ich froh, diesen derzeit so traurigen Ort hinter mir lassen zu können.
Foto: Antigen-Schnelltest bei Bewohnerin