Das Virus breitet sich im Heim aus wie die böse Krätze. Im Wohnbereich 3 sind mittlerweile bis auf drei Bewohner alle positiv getestet. Auch die Pflegekräfte sind massiv infiziert; immer mehr fallen aus, weil sie in Quarantäne müssen, der laufende Betrieb wird mit Zeitarbeitskräften aufrechterhalten. Die bisherigen beiden Corona-Toten der Einrichtung kommen aus diesem Wohnbereich.
Die anderen Wohnbereiche sind jetzt noch mehr abgeschottet, um eine Ausbreitung der Infektion zu vermeiden. Die Bewohner sind auf ihre Zimmer verwiesen und drehen alle am Rad. Die Isolierung, der Wegfall der Gruppenangebote, das Alleinsein auf dem Zimmer macht allen schwer zu schaffen.
Ich bin der einzige Mitarbeiter der Einrichtung, der per Ausnahmegenehmigung überhaupt noch Gruppenangebote machen darf. Heute ist wieder die Mal- und Kreativrunde dran. Die Wohnbereichsleiterin bittet mich, die Gruppe diesmal im Speisesaal statt im gewohnten Gruppenraum zu machen. Letzterer ist ihr „zu nahe an Wohnbereich 3 dran“.
Ich mache mich also ans Aufbauen, Material heranschaffen, Musikanlage einrichten (gehört in meinen Kursen wesentlich zur kreativen Atmosphäre) usw. und verwandle gut anderthalb Stunden vor Angebotsstart den Raum in ein Künstler-Atelier. Ich achte darauf, dass die einzelnen Arbeitsplätze den vorgeschrieben Abstand haben und lege die Mappen der fünf Teilnehmer (mehr dürfen zur Zeit nicht mitmachen) auf die Plätze.
Womit ich nicht gerechnet habe ist, wie ausgehungert die Bewohner nach Gemeinschaft, nach Zusammensein und nach Austausch sind. Dass sich in dem seit über einer Woche brachliegendem Speisesaal (alle Mahlzeiten müssen einzeln auf den Zimmern eingenommen werden) etwas tut, spricht sich in Windeseile herum und die ersten Neugierigen tauchen auf; Leute, die sich sonst im Leben nicht in einer Kunstgruppe blicken lassen würden, die aber von der Aussicht auf ein Gruppenangebote magisch angezogen werden.
Eine halbe Stunde vor Angebotsbeginn habe ich meine Kursteilnehmer plus 5 weitere Bewohner erwartungs- und freudevoll im Raum sitzen, weitere Bewohner strömen herbei, angezogen wie die Motten vom Licht von der Hoffnung auf Abwechslung, Unterhaltung und Geselligkeit.
Die Wohnbereichsleiterin steckt die Nase zur Tür hinein, erfreut und berührt, dass endlich mal etwas gegen die kurz vor der Depression stehenden Monotonie und Langeweile der Bewohner unternommen wird und weist mich auf die Teilnehmerbegrenzung hin – allerdings mit den Worten “ Das darf da unten (sie meint den Sitz der Einrichtungsleitung) keiner wissen!’.
Ich sage meinen Leuten, dass wir eigentlich gar nicht machen dürfen, was wir hier machen, dass wir aber wohl alle auch gerne ein bißchen Abwechslung erleben möchten und deswegen – wenn wir schon die Höchstzahl an Personen im Raum überschreiten – wenigstens die Abstände einhalten müssen. Das verstehen auch die Dementen, alle sind bester Stimmung, keiner will sich den überraschenden geselligen Nachmittag verderben.
Die Malgruppen-Teilnehmer widmen sich ihren Bildern, die anderen sitzen dabei und genießen die Geselligkeit, singen die Lieder mit und unterhalten sich. Partyatmosphäre kommt auf, immer weitere Neugierige erscheinen.
Frau L., eine an Depression leidende Krebspatientin, schiebt ihren Rollator herein, setzt sich auf einen Stuhl und genießt lächelnd die gelöste Stimmung. Nach einer Weile sagt sie zu mir: „Frau H. will auch wissen, was hier los ist!“ Frau H. Ist ihre Zimmergefährtin, dement und auf den Rollstuhl angewiesen. Sie sitzt im Zimmer gegenüber, hört die Musik, die Stimmen der anderen und hält es kaum noch aus, nicht dabei zu sein.
Mir ist mittlerweile alles egal, ich schiebe sie in den Speisesaal in eine Ecke mit ausreichendem Abstand zu den anderen. Vor Freude über die lang vermißte Gemeinschaft mit den anderen Bewohnern laufen ihr die Tränen übers Gesicht und sie singt mit Inbrunst die Schlager und Chansons mit, die wir als Begleit- und Inspirationsmusik auflegen.
Frau H., Teilnehmerin der „Tagesgruppe Demenz“ (die jetzt schon seit zwei Wochen nicht mehr stattfindet), hat sich inzwischen ein Blatt Papier geschnappt und legt mit Ölpastellkreiden los. Dabei kommentiert sie ausgiebig ihr Werk, spricht aber zwischendurch auch munter und aufgekratzt mit den anderen. „Wohnen Sie schon lange hier?“, fragt sie Frau S., die ihr seit zwei Jahren in der „Tagesgruppe Demenz“ gegenüber sitzt.
Von ihrem Bild ist sie sehr angetan und erklärt mir, was es damit auf sich hat: „Das sind die Wellen des Meeres, die alles forttragen… da in der Ecke, die Striche, das sind welche auf Krücken, die haben sich die Beine gebrochen, und da kommen die Toten.“
„Die Toten?“ hake ich nach, neugierig geworden, „was machen die denn im Meer?“
„Na, die werden fortgespült!“ erläutert sie mir und ich schäme mich fast für meine dumme Frage.
Frau H. ist spürbar aufgeputscht durch die Gruppenatmosphäre, auch die übrigen Anwesenden sind gelöst und bester Laune. Als ich kurz zum Klo gehe, höre ich beim Zurückkommen den lauten Gesang der ganzen Gruppe über die Flure schallen und freue mich, dass wenigstens heute mal die Tristesse des coronabedingten Stubenarrests gebrochen ist.
Nach anderthalb Stunden – 30 Minuten länger als für das Angebot eingeplant – muß ich die Runde beenden, abbauen und die Leute zurück auf ihre Zimmer befördern oder (sofern sie mobil sind), auffordern, sich dorthin zu begeben.
Nun wird es erst recht lustig. Meine beschwingte Truppe begibt sich zwar erstmal in Richtung Flur und des jeweiligen Zimmers, aber schon nach wenigen Minuten, während ich die diversen Utensilien und Gerätschaften abbaue und verstaue, sind sie alle wieder da.
Da ich die Gewohnheit habe, währende des Abbauens die Musik weitere laufen zu lassen, wollen und können sie sich nicht trennen von der Quelle der Geselligkeit und des gemeinsam verbrachten Nachmittags. Ich versuche es mehrere Male, leite die Leute immer wieder auf ihren Weg zu ihren Zimmern, aber offensichtlich folgen sie mir nur aus Freundlichkeit, gehen zwar tatsächlich in ihre Zimmer, kehren aber von dort schnurstracks wieder zurück in den Speisesaal.
Schließlich muss ich mir eine Kollegin herbeiholen, da ich die Situation anders nicht beaufsichtigt und geregelt kriege und ich eine weitere Person brauche, die die Bewohner aus dem Raum und auf ihre Zimmer bringt.
Das ist nötig, weil ich nicht nur aufräumen, Material verstauen und dokumentieren, sondern obendrein auch noch einen erneuten Corona-Antigen-Schnelltest machen muß, da ein weiterer Kollege des Sozialen Dienstes positiv getestet wurde (Antigen und PCR) und mit Corona-typischen Symptomen in häuslicher Quarantäne liegt. Der Kollege ist halb so alt wie ich – Jugend schützt vor Infektion und Erkrankung nicht, sei an dieser Stelle den Covidioten ins Stammhirn geschrieben.
Testergebnis übrigens negativ. Morgen geht’s weiter. Und übermorgen. Und jeden weiteren Tag.
Bild: Frau H. und ihr Meer mit den fortgespülten Toten
