Nachdem nach den ersten Corona-Fällen letzte Woche das Gesundheitsamt in der Einrichtung war und sämtliche Bewohner durchgetestet hat, stellt sich heraus, dass die bis jetzt ca. 10 Infizierten auf alle Wohnbereiche verteilt sind. Auch zwei Pflegekräfte von zwei verschiedenen Wohnbereichen sind positiv getestet worden.
Seit dem Wochenende sind weitgehende Einschränkungen für die Bewohner verhängt: die Leute sollen in ihren Zimmern bleiben und dort auch die Mahlzeiten einnehmen, Gruppenangebote finden nicht mehr statt, die „Tagesgruppe Demenz“ ebenfalls nicht.
Das ist für die Teilnehmer besonders hart, denn gerade die Dementen verstehen nicht, was das alles soll und wieso sie jetzt plötzlich nicht mehr aus dem Zimmer dürfen. In der Praxis erweist es sich als ein Ding der Unmöglichkeit.
Frau H., eine kleine, freundlich-ängstliche Frau mit Hinlauftendenz („Weglauftendenz“ ist als Ausdruck verpönt, da er andeutet, die Person würde aus Gründen weglaufen wollen, die bei der Einrichtung liegen), läuft wie immer die Flure auf und ab. Ihr Zimmer findet sie in den seltensten Fällen wieder; sie will aber auch gar nicht dort sein, sie KANN gar nicht länger als 5 Minuten am Stück IRGENDWO sein. Selbst in der „Tagesgruppe“ steht sie alle naselang auf und stiefelt los, weshalb ich sie kurzerhand zur offiziellen Kundschafterin der Tagesgruppe ernannt habe.
Ihr Auftrag lautet, uns regelmäßig zu berichten, was auf den Fluren und Gängen so los ist. Sie erfüllt ihre Kundschafterpflichten mit Disziplin und Hingabe und berichtet jedesmal, dass es nicht Neues gäbe. Jedenfalls ist sie durch ihre neue Position um einiges entspannter geworden, da sie wohl das Gefühl hat, etwas Nützliches beizutragen und nicht mehr getadelt oder mit genervten Kommentaren bedacht zu werden, wenn sie mal wieder unterwegs ist.
Kurzum, bei Frau H. ist es völlig zwecklos, es mit irgendeinem Zimmerarrest zu versuchen. Das Maximum was möglich ist: darauf zu achten, dass sie wenigstens den Wohnbereich nicht verlässt.
Ein anderes Mitglied der „Tagesgruppe“, Frau H.2, hat eine geniale Methode gefunden, den Stubenarrest zu umgehen: sie hat einen Toilettenstuhl direkt in ihre geöffnete Zimmertür gestellt und betrachtet von dort aus das Geschehen – immerhin ein kleiner Ersatz für die fehlenden Interaktion mit den anderen Bewohnern und den Mitarbeitern.
Als sie meiner ansichtig wird, winkt sie mich erfreut herbei und sagt „Meine Güte, ich bin ja so froh dass du da bist, du ahnst ja gar nicht, was hier schon wieder passiert ist…“
Ich erwarte eine ihrer wilden Geschichten über nächtliche Besuch ihres Vaters oder anderer längst verstorbener Verwandter, oder – sehr häufig bei ihr – aufgeregte Meldungen über russische Truppen, die eingerückt sind (oder kurz davor sind einzumarschieren), weshalb man jetzt unbedingt Hals über Kopf das Weite suchen müsse… Diesmal ist aber der Auslöser ihrer Besorgnis die Coronanotstandsrealität des Heimes, die sie zwar nicht versteht, aber in ihren Wirkungen auf ihren gewohnten Tagesablauf natürlich spürt. Sie vermischt die neue Situation mit Erinnerungsbruchstücken ihrer Jugend und berichtet mir eine sehr inkohärente Geschichte über Leute, die alles auf den Kopf gestellt und sie in diesen Raum gesperrt hätten.
„Ich weiß gar nicht mehr, was hier los ist!“, stoßseufzt sie. „Wenn du jetzt hier bist: versprichst du mir, dass du mich nachher nach Hause bringst?“ Dass ihr Zimmer im Pflegeheim ihr Zuhause ist, entspricht vielleicht der äußeren Realität, ganz sicher aber nicht ihrem inneren Empfinden in diesem Moment.
„Na klar!“, antworte ich ihr. „Ich bin heute den ganzen Tag hier und werde immer mal wieder nach dir schauen. Ich kümmere mich darum, dass du nachher nach Hause kommst…“
Das ist einerseits wahr (sie IST ja nun mal hier zuhause), andrerseits unwahr (ich weiß ja, dass sie etwas ganz anderes mit „zuhause“ meint als das Zimmer im Pflegeheim). Meine Antwort erfüllt aber ihren Zweck, Frau H.2 bleibt den Tag über vergnügt auf ihrem Beobachtungs-Toilettenstuhl sitzen und winkt oder zwinkert mir jedesmal fröhlich zu, wenn ich mit verschiedene Aufgaben den Flur hoch oder runter gelaufen komme. Zeit für ein paar Worte und einmal eine kurze Rauchpause ist immer und im Rahmen der besonderen Umstände haben wir für sie das Beste aus dem Tag rausgeholt.
Eine andere Teilnehmerin der „Tagesgruppe“ hatˋs heute besonders schwer. Schon bei Schichtbeginn fängt mich die verantwortliche Pflegefachkraft ab und fragt, ob ich mal zu Frau S. gehen könnte, die würde in ihrem Zimmer sitzen und weinen und wäre „ganz schlecht drauf“.
Frau S. sitzt tatsächlich wie ein Häufchen Elend auf ihrem Bett, Tränen laufen ihr über die Backen (gleich noch ein paar mehr, als ich reinkomme), aber sie strahlt, als sie mich sieht und sagt „Ach wie schön! Mir geht’s heute ganz schlecht, aber als ich gehört habe, dass Sie da sind, war ich gleich ein bißchen erleichtert.“
Sie erzählt mir, dass sie schlimme Rückenschmerzen hat und sich ganz furchtbar alt fühlt – worauf sie lachen muss und sagt „Na, bin ich ja auch mit fast Neunzig!“. Am schlimmsten für sie ist, dass unsere „Tagesgruppe“ nicht stattfindet, das es keinen Kontakt mit den anderen gibt und dass es heißt, die Leute sollen die Zimmer nicht verlassen. Das ist für Frau S., die noch mobil ist und jeden Tag und bei fast jedem Wetter ihre Runden im Garten dreht, die Höchststrafe.
Zusammen mit einem Mitarbeiter allerdings sind Spaziergänge ok, und so biete ich ihr an, sie in den Garten zu begleiten. Das muss ich ihr nicht zweimal sagen. Wir machen einen kleinen Ausflug in den sonnendurchfluteten, aber kalten Garten des Heimes, schauen uns die jetzt völlig entlaubte Riesen-Eiche und den Fischteich an und sind beide froh, nach 10 Minuten wieder im Warmen zu sein.
Der kurze Ausflug reicht aber, um Frau S. mit dem Tag und den Umständen zu versöhnen. „Das ist jetzt wie Weihnachten für mich!“ erklärt sie. Später am Tag berichtet sie mir noch zweimal, dass sie mit ihrem Sohn (der täglich anruft) über dieses tolle Erlebnis gesprochen hat und bedankt sich ein ums andere Mal für den Ausflug.
Um die Mittagszeit komme ich an der Rezeption vorbei und sehe dort eine Kerze brennen. Das bedeutet, dass jemand gestorben ist. Ich schaue mir den bei solchen Anlässen aufgehängten Rahmen mit Namen des Verstorben und irgendeinem christlichen Segensspruch an. Es ist ein Bewohner, der bei den anderen Bewohnern nicht besonders beliebt war (eher im Gegenteil) weil er oft verbal grob und provokant – besonders Frauen gegenüber – auftrat. Bei den Mitarbeitern galt er als „schwierig“, denn er lag meistens im Bett, duschte nicht und. ließ sich ungern waschen, was seinem Zimmer einen leichten Raubtierkäfiggeruch verlieh. Zu mir hatte er allerdings einen guten Draht (oder ich zu ihm). Mir war erstens sein Gestank ziemlich egal und zweitens hatte ich keine Hemmungen, ihm auch zu sagen, dass er stinkt. Vor allem aber hörte ich ihm zu, behandelte ihn nicht wie ein lästigen Störenfried und fuhr gelegentlich mit ihm zum ALDI, was ihm viel bedeutete.
Dieser am heutigen Morgen verstorbene 70-Jährige ist das erste Corona-Opfer der Einrichtung. Er war am Wochenende wegen Atemproblemen ins Krankenhaus eingeliefert und in ein künstliches Koma versetzt worden. Vorerkrankungen wie Arthrose und Diabetes waren vorhanden, gestorben ist er laut Information des Krankenhauses aber an multiplem Organversagen als direktes Resultat der Virusinfektion.
Die Einrichtungsleitung ist jedenfalls aufs Höchste alarmiert, das Gesundheitsamt sitzt dem Heim im Nacken und für alle heißt es jetzt erstmal, mit der Situation einigermaßen zurechtkommen und das Beste draus machen. Wer wirklich unter den Maßnahmen leidet, sind natürlich die Bewohner. Schon ein oder zwei Tage ohne die gewohnten Abläufe, ohne wenigstens die Gemeinschaft mit den anderen beim Essen oder bei den Angeboten des Sozialen Dienstes, und ziemlich viele drehen am Rad.
Ich schnappe mir den Einrichtungsleiter und die PDL und mache ihnen klar, dass es bei EINEM positiv Getesteten (auf „meinem“ Wohnbereich) nicht logisch und geradezu kontraproduktiv ist, jetzt alle Angebote zu streichen. Mit etwas Überredung erhalte ich die Konzession, wenigstens die Kunstgruppe stattfinden lassen zu können – mit der Auflage, dass nicht mehr als 5 Personen teilnehmen, ausreichend Abstand gewahrt und regelmäßig gelüftet wird. Außerdem solle ich versuchen, die Teilnehmer dazu zu bewegen, einen Mund-Nasenschutz aufzusetzen.
Ich sage alles zu, halte mich aber nur an die Abstandsregeln und Teilnehmerbegrenzung. Das Lüften vergesse ich, mit den Masken komme ich meinen Leuten gar nicht erst. Von den Fünfen sind zwei dement, und auch die Orientierten würden sich bedanken für eine solche Zumutung. Außerdem sitzen sie alle im Abstand von 2 Metern, so dass meiner laienhaften Einschätzung nach für Infektionsschutz ausreichend gesorgt ist, zumal bei Leuten, die vor wenigen Tage alle negativ getestet wurden.
Nach der Kunstgruppe räume ich auf, verstaue die Materialien in einer alten Kommode auf einer Empore zwischen den Wohnbereichen. Von dort aus kann ich ein Gespräch mithören, dass zwei gediegen demente Männer – aus zwei verschiedenen Wohnbereichen, was eigentlich gar nicht passieren dürfte – miteinander führen. Sie sitzen in den Sesseln im Foyer, mit ausreichendem Abstand voneinander und unterhalten sich.
D.h. eigentlich spricht nur einer, der joviale und äußerst redselige Herr K., der in dem ebenso jovialen, aber eher schweigsam-freundlichem Herrn K.2, den perfekten Zuhörer für eine seiner unwahrscheinlichen und höchst unterhaltsamen Monologe gefunden hat.
„Ich hab ja selber gesungen und Musik gemacht. Für Karneval, für Vereine, für Kirchenchöre, für alles!“, holt Herr K. aus. „Die haben schon zu mir gesagt, Sie sind wohl der zweite Mozart… ja, das war damals, als wir jünger waren. Als wir jung waren, da gab es nicht nur den Mozart, da gab’s noch andere wie den Bach oder den Schiller. Der Schiller war ja ein Dichter! Und wie der dichten konnte, das kann heute keiner mehr!“
So geht es in einer Tour. Ich schaue kurz über die Brüstung und sehe Herrn K. dozieren, während Herr K.2 in seinem Sessel sitzt und sich anscheinend aufs Beste unterhalten fühlt. Leider kann ich dem interessanten Stegreif-Vortrag nicht weiter folgen, bzw. eigentlich glücklicherweise, denn ich hab Feierabend nach acht Stunden im Heim – und bin ehrlich gesagt froh, für heute dem Corona-Hotspot entronnen zu sein.
