Geschichten aus dem Pflegeheim: Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Mal wieder Küchendienst! Die ansonsten in der Hauswirtschaft eingesetzten billigen FSJ-Kräfte sind auf irgendeiner Fortbildung und so muß der halbe Soziale Dienst der Einrichtung zum Küchendienst auf den verschiedenen Wohnbereichen antreten.

Das bedeutet gleichzeitig, dass die Bewohner des Wohnbereiches den Vormittag über sich selbst überlassen werden müssen. Das ist nicht einfach für die Bewohner, besonders für diejenigen, die sonst an der „Tagesgruppe Demenz“ teilnehmen – in „meinem“ Wohnbereich die meisten.

Auch die Pflege ist dann schnell überfordert, weil man dort zwar die Leute pflegerisch versorgen kann – mehr aber auch nicht. Schon aus Zeitgründen, doch auch weil die meisten Pflegekollegen weder Sinn dafür, noch Kenntnisse oder Lust haben, sich ein Betreuungsangebot auszudenken und durchzuführen.

Ich bereite also ab 7:30 das Frühstück für 24 Bewohner und kümmere mich im Speisesaal um acht von ihnen. Gegen 9:20 sind alle versorgt, haben den zweiten oder dritten Kaffee getrunken und werden trotzdem langsam wieder müde. Die 90-jährige Frau Sch., deren Zimmer direkt neben dem Speisesaal liegt, geht kurz zur Toilette. Sie kommt nach ein paar Minuten zurück und fragt: „Haben wir schon Frühstück gehabt?“

Ja, Frau Sch.“, antworte ich ihr und zähle ihr auf, was sie alles zum Frühstück hatte. Sie nimmt es hin, kann sich aber erkennbar nicht erinnern. Als ich mit dem Geschirrwagen zur Küche gehe, kommt sie mir mit ihrem Rollator hinterher und will nochmal wissen: „Hab ich wirklich schon gefrühstückt? Ich bin ganz durcheinander… es ist doch morgens, nicht?“

Sie scheint keine Möglichkeit zu haben, irgendein Sättigungsgefühl zu verspüren; dabei hatte sie ordentlich gefrühstückt und hinterher ich noch einen Joghurt und eine Banane gegessen. Ist aber alles vergessen – als wenn es nie passiert wäre.

Ich weiß: wenn ich dieser Dame nicht irgendeine Betätigung oder Betreuung biete, wird sie die nächsten zwei Stunden bis zum Mittagessen immer wieder fragen, ob es schon Frühstück gab, ob sie schon gegessen hat, wann es etwa zu essen gibt usw.

Nicht weil sie Hunger hat, sondern weil sie in der unüberschaubaren Weite ihre inneren Verlorenheit irgendeinen Anhalts- und Ankerpunkt, einen Kontakt braucht, der ihrem Vormittag Struktur und Sinn gibt.

Eine andere Bewohnerin, Frau H., zieht mich beiseite und berichtet mir unter Tränen, das sie sich so einsam fühlt, ihre Familie vermisst und gar nicht versteht, warum sie nicht „wieder nach Hause“ kann.

Auch in ihrem Fall ist mir klar, dass sie sich ohne Zuwendung, ohne Ansprache und Beschäftigung immer nur noch weiter in ihre Gefühlswelt fallen lassen wird, weil sie gar nicht anders kann als von den ungefilterten Wogen emotionaler Schwankungen und Erinnerungsbruchstücken überrollt zu werden.

Es bleibt zwischen den Arbeiten für Frühstück und Mittagessen etwa eine Stunde Zeit. Ich ergreife also die Gelegenheit für ein improvisiertes Angebot für die jetzt ca. zehn Leute, die im Speisesaal sitzen geblieben sind und durchweg vor sich hinstarren, einnicken oder, von innerer Unruhe und Langeweile getrieben, immer wieder aufstehen und durch die Flure schieben.

Wie meistens kommen wir mit Hilfe eines Flipcharts und der einschlägigen Spotify-Playlist vom Hölzchen aufs Stöckchen und landen bei einem Klassiker aus den 1940er-Jahren, den meine betagte Klientel gerne hört und trotz Demenz in der Regel auswendig kann.

Ach ja, das waren schöne Zeiten!“ seufzt die 90-jährige Frau Sch.

Sie kommt ins Schwärmen: „Das haben wir bei der Hitlerjugend gesungen und so gerne dazu getanzt…“ Versonnen blickt sie in eine innere Landschaft der Erinnerung und wiegt sich im Rhytmus der Musik.

Das wurde immer im Soldatensender gespielt!“, erinnert sie sich. „Ich konnte das auch zuhause hören; meine Eltern hatten ein Radio. Ein Blaupunkt-Radio!“

Ich stimme ihr zu, dass die Musik wirklich schön ist, gebe aber auch zu bedenken, dass die Zeiten ja nicht nur schön gewesen sein können – immerhin war da ja gerade Krieg.

Das räumt Frau Sch. umstandslos ein: „Ja, das waren schlimme Zeiten…“, heißt es jetzt. Sie denkt ein bißchen nach und ergänzt dann: „… aber die Musik war schön!“

https://youtu.be/ihGTPf2jIDs