Sieben Kollegen haben sich nach der zweiten Impfung krankgemeldet. Der ohnehin spärlich besetzte Wochenenddienst ist jetzt noch ausgedünnter. Als Konsequenz müssen mehrere Kollegen in „Teildienste“ – um 10:00 oder 10:30 nach Hause und um 16:00 für die Spätschicht wiederkommen.
Extra bezahlt wird das nicht, wer weiter weg wohnt hat die Arschkarte. Die Kollegen dann gleich die ganze Zeit im Haus zu lassen, was arbeitsaufkommensmässig angebracht wäre, wird aus finanziellen und arbeitsrechtlichen Gründen nicht gemacht.
So werden 24 Bewohner von einer einzigen PFK (Pflegefachkraft), zwei Pflegehilfskräften und mir als Vertreter des Sozialen Dienstes versorgt – die Betreuung der Leute ist aber heute sowieso nicht drin: da auch keine Hauswirtschaftskräfte da sind, muß ich meine Zeit hauptsächlich in der Küche und beim Vorbereiten und Servieren der Mahlzeiten verbringen.
Trotzdem nehme ich mir die Zeit, um eine halbe Stunde mit einer depressiven Dame zu verbringen, die von der Pflege dazu verdonnert ist, die Zeit zwischen den Mahlzeiten in ihrem Rollstuhl oder ihrem Sessel zu sitzen (statt, wie sie es lieber täte, auf dem Bett liegend).
Sie leidet unter ihrem fortschreitenden körperlichen Verfall durch ihre Parkinson-Krankheit und gilt als „schwieriger Fall“, weil sie die Pflegekräfte gelegentlich mit „herausforderndem Verhalten“ nervt.
Nicht ganz zu unrecht fühlt sich die Frau „bestraft“ und wie ein unmündiges Kind behandelt. Die Pflege hat allerdings ein gutes Argument für die Maßnahme: Dekubitusgefahr! Längeres Liegen kann tatsächlich die berüchtigten Wundliegegeschwüre verursachen.
Jedenfalls gilt es hier abzuwägen zwischen den Wünschen der Bewohnerin (die immerhin 4000 Euro pro Monat für den Platz im Pflegeheim zahlt) und den medizinischen und psychologischen Erfordernissen (depressive Menschen können durch Rückzug und „sich verkriechen“ noch tiefer in die Depression hineingeraten).
Ich thematisiere das Dilemma bei den Kollegen der Pflege und wir einigen uns auf einen Kompromiss: die Bewohnerin wird vormittags mobilisiert (der Ausdruck dafür, dass sie angezogen und in den Rollstuhl gesetzt wird), aber auf Wunsch zurück ins Bett gebracht, sofern sie Betreuungsangebote durch den Sozialen Dienst ablehnt.
Damit habe ich mir bzw dem Sozialen Dienst die Verpflichtung auferlegt, speziell dieser Bewohnerin eine Extra-Einzelbetreuung zu widmen, was aber erstens ohnehin zum Aufgabenbereich gehört und zweitens der Situation der Frau gerechter wird als wenn sie zwangsweise zum Aufrechtsitzen verurteilt wird, ohne dass ihr entsprechende Angebote gemacht werden, wie sie ihren Vormittag gestalten kann.
An diesem Wochenende, mit der Notbesetzung und der Arbeitsüberlastung an allen Ecken und Enden, keine einfache Angelegenheit. Für die Bewohner – außer der besagten Dame – bleibt ein bißchen Abwechslung durch alte Schlager und ein paar kurze Gespräche zwischen Tür und Angel, die ich in die wenigen Atempausen des Küchendienstes einbaue.
Zum Glück merke ich selber nichts von irgendwelchen Auswirkungen der zweiten Impfung. Wie ein guter Freund bemerkte: „Du hast den Gott der Narren auf deiner Seite!“
Auch die Bewohner melden außer ein bisschen Muskelkater nichts. Gleichzeitig verbreiten sich schon hoffnungsvolle Gerüchte im Haus, dass „ab Montag alles wieder normal“ liefe. Diesen Zahn muss ich ihnen leider ziehen, denn von so einer Maßnahme hätte ich sicher gehört.
Fazit des Arbeitstages: der Notstand in den Pflegeheimen kann immer noch durch kurzfristige Personalausfälle getoppt werden, und die zweite Impfrunde war wohl für einige kein Sonntagsspaziergang.