Geschichten die das Leben schrieb: Flucht aus dem Wohnzimmer

Ich sitze in meiner Mittelschichts-Altbau-Dachwohnung am Rechner, versuche ein bißchen zu arbeiten und erfreue mich an dem sonnigen Wetter draußen. Aus dem Fernseher dringen Soundbits einer Übertragung der Wagenknecht-Schwarzer-Veranstaltung in Berlin – offensichtlich kann das staatliche Fernsehen nicht umhin, von diesem Ereignis zu berichten.

Ein ARD-Angestellter befragt einen Sprecher der Friedensbewegten und gibt bei jedem Satz, mit jeder Frage drüber Auskunft, dass er sich nicht als Reporter oder gar Journalist sieht, sondern als Propagandist der regierungsamtlichen Sichtweise (auf Nachfrage würde der Mann sicher behaupten, dass dies seine ganz eigene, selbstermittelten “Meinung“ wäre). Seine Suggestivfragen geben die Sprachregelungen und die Denkrichtung vor, mit denen BRD-Bürger das Geschehen in der Ukraine einzuordnen haben: ob es sich für Demokraten nicht verbieten würde, „den Aggressor mit dem Angegriffenen gleichzusetzen“; ob man für einen Waffenstillstand, gar ein Friedensabkommen, nicht „Putin vertrauen müsste“ und ob der Befragte dies denn könne „nachher all dem was in der Ukraine passiert ist“ usw.

Das Niveau des Kenntnisstandes über den Konflikt, die historische Ahnungslosigkeit, besonders aber die unbedingte Parteilichkeit und der moralisierende Fanatismus des Fragestellers ist zum Fremdschämen lächerlich. Man muss wohl davon ausgehen, dass dies schon die informiertere Version der generellen Verdummung ist, die im aufgeklärten demokratischen Faschismus der BRD 2023 vom mündigen Untertanen erwartet wird.

Nach diesem Vorortbericht aus Berlin, der den Informationsauftrag des Staatsfernsehens erfüllt und dem Zuschauer gleichzeitig mit Wucht die staatlich gewollte Sicht der Dinge aufdrückt, wird ins Studio geschaltet, wo ein „Experte“ sich zum Thema äußert. Sein Expertentum beläuft sich auf das ziemlich zusammenhanglose Aneinanderreihen einiger NATO-Talking Points, die man rund um die Uhr so oder leicht variiert von jedem politischen und medialen Propagandisten der US-Hegemonie und des NATO-Krieges gegen Russland untergejubelt kriegt. Wichtiger als der Hinweis auf die Schurkenrolle Putins, die bei solchen Papageien der Herrschaft nie fehlen darf, ist dem „Experten“ heute aber ein beinahe genauso schlimmes Gedankenverbrechen gegen die ideologische Landschaftspflege der BRD im Krieg: die Demonstranten – Organisatoren wie Teilnehmer – sind ziemlich eindeutig der KONTAKTSCHULD überführt!

Es ist nämlich so, das auch Rechte, also „AfD-Mitglieder, Verachwörungstheoretiker, Schwurbler“ und ähnlich vaterlandslose Gesellen zu dieser Demo aufgerufen haben und am Ende sogar mitlaufen. Damit ist erwiesen, dass sich hier ein im Grunde staatsabträgliches und gänzlich verurteilungswürdiges Völkchen tummelt, von dem alle anständigen Demokraten tunlichst die Finger lassen sollten.

Diese These wird hin- und her gewälzt, ausgebreitet, von allen Seiten betrachtet und beleuchtet, und dem Zuschauer ist spätestens jetzt klar, dass schon durch die Kontaktschuld mit „Rechten“ der Zweck und die Forderungen der Demo zum einen gar nicht mehr zu interessieren haben, andernfalls aber – wenn man sie dann trotzdem noch aufgreift – auf jeden Fall entwertet und diskreditiert sind.

Ich bitte die Liebste, die sich seit einer geschlagenen Stunde diese Berieselung antut, um Gnade: „Mach bitte mal aus. Das will ich mir nicht anhören.“

„Ich will aber die Reden hören!“, entgegnet sie.

Mein Einwand „Dann stell doch solange den Ton ab, bis das gesendet wird…“ wird erhört und sie stellt leiser.

Nach all der begleitenden und einbettenden Aufklärung und Einordnung besinnt sich der Staatsfunk aber jetzt wieder auf seinen Informationsauftrag: „Wir schalten sofort nach Berlin, wenn die Reden auf der Demo beginnen!“, hatte der Mann vor Ort versichert, und nun ist es soweit.

Eine vom Blatt ablesende Friedensbewegte erzählt irgendwas von „Heute ist der 365. Tag des Beginns des Krieges und des Mordens in der Ukraine“ und angesichts von so viel geballter Moral und Lüge (heute, also Ende Februar 2023, ist ca. schon der dreitausendste Tag des seit acht Jahren währenden Krieges dort) fliehe ich aus dem Wohnzimmer und überlasse die Frau der Übertragung des „Aufstands für den Frieden“, der mindestens genauso moralisch, verlogen und berechnend ahnungslos ist wie die staatliche Version der Friedensstiftung. Nur dass die Wagenknechts und Schwarzers dieser Republik statt mit Panzern und Bomben den Russen mit Verhandlungen und Verträgen einhegen wollen.

Dass letzterer – als Russe an sich und als Feind unserer regelbasierten NATO nämlich – sowieso an allem schuld ist, sieht der Aufruf zu dieser Demonstration bekanntlich genauso wie die große staatliche Friedensbewegung namens Bundesregierung: „Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität.“ Wer so etwas schreibt, will nichts von Ursachen und Entstehung des Konflikts wissen, sondern schließt sich den Lügen der einen Kriegspartei, nämlich der NATO, an.

Das viele schöne Geld für Kriegsgerät und Unterstützungszahlungen, mit dem die Berliner Friedenspolitiker die Befriedung der Ukraine auf Kosten Russlands durchsetzen wollen, sähen die friedensbewegten Demokraten um Wagenknecht und Schwarzer lieber in nationale Vorhaben wie Klimaziele, Armutsbekämpfung, Wohnungsau etc. investiert.

Und das ist auch schon der einzige Unterschied zu den von ihnen Kritisierten. Beide sind sie Nationalisten, die sich über den besseren Weg zu Deutschlands Erfolg in der Staatenkonkurrenz streiten. Die Regierung hat da allerdings eindeutig die besseren Karten, da sie per definitionem die Entscheidungen trifft und obendrein noch – wie gerade in solchen Berichterstattungen wie der zur Wagenknecht-Schwarzer -Demo deutlich wird – die öffentliche Meinung dominiert und kontrolliert.

Trotz meiner festen Absicht, mich aus dem Fernsehkonsum meiner Liebsten rauszuhalten, kann ich bei meinem Fluchtversuch nicht an mich halten und mache eine Bemerkung zur Falschheit solcher Aussagen wie „Der Krieg hat vor einem Jahr begonnen“.

„Geh Mittagsschlaf machen“, kriege ich freundlich geantwortet. „Und nimm den Hund gleich mit!“