Geschichten die das Leben schrieb: Man wird nicht jünger

Ich glaube, ich werde wunderlich. Meine Kräfte lassen nach, ich hangele mich meisten von einem Tag zum nächsten. Morgens tun mir alle Knochen weh und ich bin froh, wenn ich mittags schlafen kann und nicht zur Arbeit muss. Abends geht’s besser, meistens mit Hilfe von Wein, Whisky und anderen Drogen.

Ich beobachte Wortfindungsschwierigkeiten, ein nachlassendes Namensgedächtnis, sowie eine allgemeine Müdigkeit oder Unwilligkeit, mich überhaupt noch mit den Belangen der hoffnungslosen weltlichen Angelegenheiten zu befassen. Der Irrsinn, der einem aus Medien und Politikermündern von allen Seiten anspringt, ist einfach zu gewaltig als dass man gegen diese Windmühlenflügel anrennen möchte wie ein moderner Don Quichotte der Aufklärung.

Immer öfter fühle ich mich, als ob sich in meinem Schädel eine Gehirnschmelze vollzieht; jedoch kommt es mir so vor, also ob – während das Erzeugen klarer, strukturierter und wissenschaftlicher Gedanken schwieriger wird und die Konzentrationsfähigkeit nachläßt – sich ein Raum von Weite und Tiefe auftut, der zwar Details nicht so präzise erfasst, dafür aber das Gesamtbild in seinen Konturen und seinen Entwicklungstendenzen um so klarer hervortreten lässt.

In diversen Internetformaten sehe ich junge Menschen, die intelligent und überzeugt wirken, die ihren Platz in der düsteren Dystopie des 21. Jahrhunderts gefunden zu haben scheinen bzw. die Welt wohl gar nicht als dystopischen Ort wahrnehmen. Oder wenn, dann mit jugendlichem Elan daran glauben, dass man aus ihr einen angenehmen, für alle erträglichen Ort machen kann und muß. Und das möchte ich gerne mit ihnen glauben.

Die massenhafte Proteste der Studenten und andere junger Menschen gegen den Völkermord in Gaza stimmen mich hoffnungsvoll. Der aktive militärische Einspruch der Russischen Föderation gegen den ukrainischen und NATO-Faschismus stimmt mich hoffnungsvoll. Die unaufhaltsame Herausbildung der multipolaren Welt außerhalb des US-Imperiums stimmt mich hoffnungsvoll. Mein Hund, der mir wie ein Schatten folgt und jeden Morgen aufs Neue guter Dinge Familiensitteg voller Abenteuer entgegenzusehen scheint, stimmt mich hoffnungsvoll.

Meine beiden direkten blutsverwandten Vorgänger, Vater und Großvater väterlicherseits, starben beide jeweils mit Anfang Siebzig. Nach dieser Tradition hätte ich noch etwa fünf Jahre. Ich dachte immer, ich könnte diese merkwürdige Familiensitte durchbrechen und Achtzig oder älter werden. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Mein neues Ziel ist, noch solange zu leben, wie der Hund voraussichtlich leben wird, also noch ca. 7 – 10 Jahre. Man wird bescheidener.

Wie gesagt: Ich glaube,  ich werde wunderlich. Ich fange an, mich über mich selbst zu wundern. 

Vielleicht werde ich aber bloß alt.