Geschichten, die das Leben schrieb: vom Proletariat in die Mittelschicht und zurück. Und wieder zurück.

Ich komme aus einer Familie der Arbeiterklasse, deren vorletzter Sproß (mein Vater) einen bemerkenswerten sozialen Aufstieg in die ersten Vorhöfe der Oberschicht hinlegte: vom Dekorateurs-Lehrling brachte er es zum Vorstandsvorsitzenden eines Versicherungsunternehmens. Damit konnte er im Laufe der Zeit seiner Familie ein gutes Leben in materieller Sicherheit gewährleisten.

Seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen vergaß er trotzdem nie. Er war zwar überzeugter Anhänger des Kapitalismus, wollte diesen aber „gerecht“ und „sozial ausgewogen“ wissen. Bis zur Rente blieb er SPD-Mitglied. Mit der Kanzlerschaft Schröders und der „Agenda 2010“ allerdings reichte es ihm; er trat aus der SPD aus („Das ist nicht mehr meine Partei!“) und war in seinen letzten Lebensjahren ATTAC-Mitglied.

In meiner Kindheit, als mein Vater seinen „Weg nach oben“ begann, war unsere soziale Lage für mich noch deutlich spürbar: Wohnsituation, städtisch gesponserte Ferienspiele und Sozialtickets für kinderreiche Familien, vor allem aber die liebevollen, doch eher bescheidenen Verhältnisse der Großeltern machten deutlich, welcher Klasse wir angehörten. Sie machten es deutlich, ohne dass es meinem kindlichen Verstand bewusst war. Es war einfach so. Ich erinnere mich an gelegentliche Besuche bei Schulkameraden aus „besseren Verhältnissen“, die z.B. in Eigenheimen wohnten: dass so wenig Leute soviel Platz bewohnen konnten und dies alles ihnen gehörte – statt wie wir mit 7 Leuten in einer engen Mietwohnung zu leben – war für mich ein tiefgreifender Eindruck.

Meine Jugend bis zur Volljährigkeit verbrachte ich dann in dem sorglosen Wohlstand einer Mittelschichtsfamilie. Auslandsreisen, Gymnasium, Abitur, Studium usw. waren möglich; Geld war vorhanden und wurde – jedenfalls bei entsprechender Gegenleistung in Form von schulischen und universitären Leistungen – auch gerne gegeben. Auch sonst ließ sich mein Vater nicht lumpen und half allen seinen Kindern mit Geld aus, wenn es mal knapp war.

Durch allerlei Umstände und einen höchst wechselvollen Lebensweg landete ich dann doch wieder bei den proletarischen Familienwurzeln und muss seit ca 2010 mit verschiedenen Niedriglohnjobs über die Runden kommen. Ich konnte jahrelang praktisch erfahren, was Armut bedeutet, was es heisst, am Monatsende gerade genug Geld für Miete und nicht verschiebbare Zahlungen zu haben.

Ich musste oft aus Geldmangel im Pflegeheim (meinem Arbeitsplatz) mitessen, da zuhause keine warme Mahlzeit drin war. Ausgaben über 50 EURO stellten mich vor Probleme. Die Angst, dass Waschmaschine oder Auto kaputt gehen oder eine Reparatur benötigen könnten, begleitete mich ständig. Offizielle Schreiben, die ja in der Regel meist Rechnungen und Mahnungen sind, öffnete ich nur mit Grausen. Das Auto musste ich schliesslich abschaffen, weil ich es mir nicht mehr leisten konnte – zum Glück war der Arbeitsplatz In der Nähe.

Die 10 – 15 Euro, die ich Sonntags rituell im Weimarer „Caféladen“ auszugeben pflegte, waren Gegenstand sorgfältiger Planung und Berechnung. Als ich meine Wochenstunden von 30 auf 35 erhöhte, um etwas mehr Geld übrig zu haben, wurde mir prompt das Wohngeld gestrichen, da ich mit mehr Wochenarbeitszeit oberhalb irgendwelcher Bemessungsgrenzen lag. Urlaub war ein Wort, das ich zwar kannte, aber das für mich lohnarbeitsfreie Zeit zuhause bedeutete.

Kurzum, Schmalhans war Küchenmeister und jeder Euro musste centweise mehrfach umgedreht werden.

Mittlerweile lebe ich, dank einer gut verdienenden Gattin und nach Umzug in die Alt-BRD, ein Mittelschichtsleben wie meinen Eltern nach erfolgtem sozialen Aufstieg. Autoreparaturen und Anschaffungen von Haushalts- oder IT-Geräten sind (zwar nicht andauernd, aber bei Bedarf) möglich, Urlaub ist kein Problem und Ausgaben unter 100 Euro kann man einfach so mal eben machen, ohne lange zu überlegen. Selbst die derzeitige Teuerung auf allen Gebieten, die absehbaren massiv erhöhten Energiekosten usw. lassen sich mit unserem soliden kumulierten Familieneinkommen vergleichsweise locker wegstecken.

Und das bringt mich zum Kern des Pudels bzw. zur Butter bei den Fischen: es ist ein Riesenunterschied, ob man genügend Geld übrig hat für die diversen kleinen Kosten des Lebens im Kapitalismus (inklusive Dinge, die man sich einfach nur kauft, weil man Spaß dran hat; inklusive „soziale Teilhabe“ wie Konzerte, kulturelle Veranstaltungen usw.) oder ob man all das nicht kann, weil das Reich der Freiheit nur den Niedriglohnsektor oder das Hartz4-Regime für einen vorgesehen hat.

Die Gemeinheit, Menschen in Armut leben zu lassen, indem man sie schlecht bezahlt; indem man sie von elenden staatlichen Transferleistungen zu leben zwingt; indem man ihnen auferlegt, dass ihr (Über-)Leben vollständig eine abhängigen Konstituente der Berechnungen anderer (nämlich von Staat und Kapital) ist: das ist ein recht widerlicher Zug dieses allseits gepriesenen Freiheitsladens.

Armut macht nämlich krank. Ich erinnere mich gut an den permanenten Stress, ob das Geld ausreicht, wo ich einsparen muss usw. Die Unterströmung dieser Daueranspannung ist armen Leuten ein fester Begleiter. Sowas geht über kurz oder lang auf die Gesundheit. Laut Statisten werden Arme schneller krank und sterben früher.

Darum ist das so eklig. Nicht, weil „das doch gar nicht nötig wäre in einem so reichen Land wie unserem“, sondern WEIL es nötig ist, um diesen Kapitalismus erfolgreich zu machen. Armut ist nicht das Zeichen, dass der Kapitalismus versagt, sondern im Gegenteil der Beleg dafür, WIE GUT er funktioniert. Ohne Armut kein Reichtum, ohne Verarmung der Leute keine Akkumulation von Geld und Kapital auf der Seite derjenigen, deren Einkommensquelle die Arbeit anderer ist.

DARUM gehört der Dreckskapitalismus abgeschafft. Nicht „gerechter“ gestaltet. „Gerechtigkeit“ ist was für Leute, die das, was sie „Ungerechtigkeit“ nennen als conditio sine qua non der Gesellschaft akzeptiert haben und nun ein bißchen Wohltätigkeit für die „sozial Schwachen“ spendiert haben möchten. Die Forderung nach „Gerechtigkeit“ ist Bittstellertum, Adressat ist die Obrigkeit.

Nachsatz: wer immer mir jetzt kommt mit „Jeder ist doch seines Glückes Schmied!“ und „Das hat sich doch jeder selbst ausgesucht; man kann doch einen Beruf ergreifen, in dem man viel bzw. genug Geld verdient!“, der wird zur Stunde seines Abschieds aus dieser Welt stantepede in die schlimmste aller Höllen befördert, die neoliberale Poesiealbumssprüche-Hölle.

Dort werden die Delinquenten in riesige Fässer voller Erfolgsmenschen-Achselschweiß getaucht und müssen sich tagein-tagaus Christian Lindner- und Annalena Baerbock-Reden anhören. Wenn sie aus den Fässern auftauchen zum Luftschnappen, kriegen sie von jeweils einem Dutzend freigesetzter Arbeiter, Niedriglöhner und Erwerbsloser eine Abreibung nach Maß verpaßt (deren blaue Flecken vor dem nächsten Tauchgang sofort wieder verschwinden).