Das Verblödungsdatum steht an: Vollzug des Anschlusses der DDR als freudige Einheitsfeier, aber die Verdammung des Unrechtsstaates lässt an Schärfe noch zu wünschen übrig

Wer beim Autofahren standardmäßig WDR3 hört (der einzige Nicht-Dudelfunk mit einer gediegenen Auswahl an klassischer, elektronischer und Jazz-Musik) kommt dann aber auch nicht um die zwischen die Musik gestreuten Textbeiträge und Interviews herum. Heute morgen ein Gespräch mit Ines Geipel, früher Sportlerin in der DDR, heutzutage Professorin im Westen. Die Dame, offensichtlich ein professionelles Opfer, beschwert sich darüber, dass die „drei Millionen Opfer” der DDR zu wenig oder keine Beachtung mehr finden würden im öffentlichen Diskurs des neuen, nun schon 30-jährigen Großdeutschlands. Der beflissene Moderator erklärt gleich, um welche Art Opfer es sich bei dieser sagenhaften Zahl handelt: Häftlinge in den Gefängnissen, im GULAG (!), Opfer von Zwangsadoptionen und Zwangsdoping… Man wundert sich bei soviel Opfertum, dass nicht gleich eine Zahl von 17 Millionen herausgekommen ist, denn waren nicht schon die kleinen in den Kinderkrippen irgendwie Opfer?

Frau Geipel beklagt dann noch die Einstellung „der Ostdeutschen“, dass die Stasi immerhin keinen Holocaust veranstaltet hätte und demnach „nicht alles nur schlecht“ gewesen sei – sogar die jüngere Generation im Annektionsgebiet sei derartig lax im Umgang mit der Vergangenheit des Unrechtsstaates!

Jedenfalls ist die schwer opferbesessene Professorin nun erst richtig in Fahrt gekommen; als nächstes lamentiert sie über das Versäumnis der „Diktatur“ da drüben, den Holocaust und „die erste deutsche Diktatur“ aufgearbeitet zu haben. Nicht nur nicht aufgearbeitet, verschwiegen hätten die DDR-Machthaber dieses dunkle Kapitel. Wie es überhaupt Zeit wäre, „beide Diktaturen“ in einen geschichtlichen Zusammenhang zu stellen und der Jugend von heute zu vermitteln, „was ein Jugendwerkhof“ war.

Normalerweise wechsle ich bei solch debilem antikommunistischer Unfug schnell den Sender; diesmal jedoch höre ich bis zum Schluss zu, weil ich das Gefühl habe, die akademische Hetzerin gibt den Duktus vor, nach dem gerade zum 30. Jahrestag der vollendeten Konterrevolution die offizielle Geschichte des Anschlusses und der Blick auf die DDR-Geschichte zu erfolgen hat.

Jedem Nachlassen in der Dämonisierung, Delegitimierung und beim Niedermachen des ersten Sozialismusversuches auf deutschem Boden soll entschieden begegnet werden, nämlich durch noch mehr Umdefinition der Geschichte im Sinne der kapitalistischen Sieger des Kalten Krieges, durch unermüdliche Lügen über „Opfer“ der „SED-Diktatur“ (Lügen, die Lügen bleiben, auch wenn es in der DDR unbestritten kritikwürdige bürokratische Gemeinheiten und Fehler gab).

Ich deute die absurde Horrorerzählung der Frau als gutes Zeichen – dafür, dass der Bedarf nach ideologischer Aufrüstung und Verstärkung der anti-sozialistischen Propaganda der bürgerlichen Herrschaft größer wird. Dass sich dafür allemal genügend Intellektuelle und gutdosierte Akademiker finden, die sich diese Märchen als höchst eigene Meinung zugute halten, ist eh keine Frage.