Wahlen in bürgerlichen Demokratien zeichnen sich zuallererst durch das aus, was NICHT zur Wahl steht: die unbedingte Herrschaft des Privateigentums über Staat und Gesellschaft. Über die staatliche Verwaltung des Standortes, an dem die Kapitalvermehrung stattfindet, darf sich ausgiebig und konträr gestritten werden, doch die Eigentumsordnung als Geschäftsgrundlage allen staatlichen und sozialen Lebens ist sakrosankt. Ebenso die Methode, mit der die Umwandlung von Geld(vermögen) in Kapital und die Kapitalvermehrung selbst stattfindet: Lohnarbeit für diejenigen, die KEIN Eigentum besitzen, Aneignung der Resultate ihrer Arbeit durch die Besitzenden.
Auf der Basis dieser nicht in Frage zu stellenden conditio sine qua non von Geschäft und Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft findet ein munteres Hauen und Stechen unter den verschiedenen Aspiranten aufs Mitmachen bei der anspruchsvollen Aufgabe der politischen Standortverwaltung statt.
Das wird oft als Unterhaltungsprogramm betrachtet, besonders in Wahlkampfzeiten und an Wahlabenden. Als verständiger Mensch und kritischer Zeitgenosse wird man – sofern man an Wahlen teilnimmt – in die Lage eines Kinobesuchers versetzt, der einem ganz besonderen Kinosaal einen Besuch abstattet: der Film, der in dem einzigen Saal gezeigt wird, ist abhängig von den Eintrittskarten verschiedener Art, die verkauft werden.
Wenn man also eine Karte für einen rasanten Actionfilm oder eine muntere Komödie erwirbt, ist keinesfalls gesagt, dass man den Film auch zu sehen bekommt.
In der Regel geht die Geschichte so aus: Sobald man im Saal Platz genommen hat, das Licht ausgeht und der Film beginnt, merkt man, dass man wieder mal die „falsche“ Eintrittskarte hatte. Gezeigt wird, wenn man in Deutschland ist, wie seit hundert Jahren derselbe uralte Heimatfilm mit Musikbegleitung, der schon immer lief.
Darin sieht man Konrad Adenauer in Rhöndorf Rosen schneiden, die Sonne scheint über dem Rhein und Schafe grasen friedlich auf grünen Weiden. Dazu spielt eine hypnotische Melodie ein Wiegenlied schlichter Harmonien, komponiert, um Gefühle von Vertrautheit und Sicherheit auszulösen.
Statt einer Eisverkäuferin geht eine Dame mit einer Sammelbüchse durch die Reihen und bittet um freiwillige Spenden für die Wehr, die diese Idylle vor allerlei Feinden beschützen muss.
Wer nicht freiwillig gibt, dem wird sein Konto trotzdem belastet, den die Eintrittskarte ist gleichzeitig eine Abbuchungserlaubnis zugunsten des Kinobetreibers, mit dem dieser nach eigenem Gusto Preise bestimmen und Abgaben erheben kann.
Spätestens an dieser Stelle steht der verständige Mensch auf und verlässt den Saal, nicht ohne sich kurz über sich selbst zu ärgern, weil er schon wieder mitgemacht und den Weg zum Kino auf sich genommen hat.
Auf der Hunderunde begegne ich der Lieblingspostbotin des Hundes, die in ihrem gelben Wagen stets Leckerchen für die zahlreichen Hunde des Viertels mit sich führt. Ich hatte sie schon eine Weile nicht gesehen und erfahre nun von ihr, dass die neue Dienstleitung sie und alle ihre Kollegen alle 12 Monate auf eine andere Strecke versetzt, damit sie jede Straße des Viertels kennen und somit überall einsetzbar sind. Unsere Straße, die sie letztes Jahr mit Post versorgt hatte, ist nun wieder an ihre Kollegin Rosi gegangen: „Die D***********erstrasse gehört der Rosi, muss ich ehrlich sagen – die hat die schon zwanzig Jahre abgelaufen.“
Schnell kommen wir auf das Thema Wahlen. Ich hatte nämlich gefragt, wie lange sie noch bis zur Rente hat. Sie antwortet: „Vier Jahre noch, außer Merz kommt dran, dann muss ich ja bis 70 arbeiten.“ Ein Wort gibt das andere und ich frage sie, wie sie es mit dem Wählen hält.. Sie berichtet mir, dass sie sich dieses Mal die Mühe gemacht hat, jede der verschiedenen Wahl- und Debattenrunden anzuschauen, um sich ein Bild zu machen. Und dieses Bild ist eindeutig: „Also ich will keinen von denen haben, außer vielleicht die Alice Weidel. Die redet jedenfalls so, dass man versteht, was sie meint und dass sie die Sorgen der Leute ernst nimmt. Die anderen sind doch nach zwei Sätzen sofort bei Krieg und all das… ich bin Oma und als Oma interessiert mich, was mit meinen Enkeln ist, mit ihrer Schule, was mal aus ihnen wird…“
Ungefragt vertraut sie mir an, dass sie jedenfalls ihre Stimme der AfD geben wird. Sie hat sich nämlich, wie sie mir einigermaßen stolz berichtet, mit dem Wahlzettel vertraut gemacht: auf der linken Seite will sie bei der AfD ihr Kreuz machen und auf der rechten Seite hat sie ganz unten auf der Liste „eine Tierpartei oder sowas“ gefunden das ist ihr sympathisch und das scheint ihr diesmal das richtige zu sein, da sie „den Parteien“ sowieso nichts Gutes zutraut.
Mir ist nicht ganz klar, ob sie das mit der Erst- und ZweitStimme wirklich auf der Reihe hat, aber ich will auch nicht in sie drängen, denn der Hund drängt bereits, und zwar in die andere Richtung. So verabschiede ich mich freundlich und wünsche ihr viel Glück in den verbleibenden Jahren bis zur Rente.
2) Auf Arbeit
Meine russische Kollegin – die einzige an meinem Arbeitsplatz, die von meinem grundsätzlichen Einstellungen weiß und auch darüber im Bilde ist, dass ich deswegen schon einmal staatsanwaltschaftlich belangt wurde – fragt mich, als wir uns im Büro treffen, „Na, was wählst du am Sonntag“. Ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich noch nicht weiß, ob ich überhaupt wählen gehe, dass ich aber für den Fall, dass ich es tue, wohl mein Kreuz beim BSW machen würde.
Sie scheint einigermaßen mit der BRD-Politszene vertraut zu sein und sagt, „Was ich an der Wagenknecht nicht gut finde ist, dass die die Grenzen nicht dicht machen will“. Dann folgen längere Ausführungen über Flüchtlinge, Asylanten und Migranten, die alle hierher herkommen, „die wir alle finanzieren müssen“ und die sich hier „nicht einfügen“ wollen. Sie und Ihre Familie, die in den 1990er Jahren als Russlanddeutsche aus Kasachstan in die BRD kamen, wären dagegen vier Jahre lang vom Staat drangsaliert, überprüft immer wieder nach irgendwelchen Papiere und Nachweisen – polizeiliche Führungszeugnisse zum Beispiel – gefragt worden usw.
Deswegen jedenfalls würde sie AfD wählen, obwohl sie nichts gegen Wagenknecht und BSW hätte, aber die wären ihr zu lasch in Bezug auf die Flüchtlingsfrage. Ich mache einen zaghaften Versuch, ihr auf den Zahn zu fühlen: „Meinst du denn, wenn die alle weg wären aus Deutschland, dass du einen Euro mehr Lohn kriegst oder dass deine Miete günstiger wird oder dass es plötzlich mehr oder besser bezahlte Arbeit gibt? Was denkst du denn was passiert, wenn hier keine Flüchtlinge mehr sind? Was für konkrete Auswirkungen hat das auf dein Leben?“
Erneut bekomme ich die Geschichte zu hören, dass „wir alle“ ja dafür aufkommen müssten, dass diese Leute, die völlig ungeprüft und ungeregelt ins Land kämen, durchgefüttert werden. Der Glaube, dass „wir“ der Staat sind und der Staatshaushalt eine Art großer Kuchen, von dem für „uns“ weniger übrig bleibt, wenn „die“ davon was abkriegen, ist unausrottbar. Dass den Kalkulationen der Führer eines modernen, imperialistischen Staatswesens eine ganz andere Rechnungslegung zu Grunde liegt als dem Privathaushalt, der mit seinem Arbeitslohn über die Runden kommen muss, ist Menschen wie meiner Kollegin unbekannt. Dass Fluchtbewegungen und Migration ein Resultat von imperialistischer Einmischung, von Kriegen und Ausbeutung anderswo sind, ist ein Faktum, dass sie vielleicht zur Kenntnis nehmen, wenn man sie direkt darauf hinweist, aber genauso schnell wieder zu vergessen scheinen.
Ich bin weder in der Stimmung, mit der Kollegin eine vertiefende politische Diskussion anzufangen noch hab ich Zeit dafür, denn ich muss das Nachmittagsangebot vorbereiten. Wir wünschen uns gegenseitig einen ruhigen Dienst und ein schönes Wochenende und widmen uns wieder unseren Wohnbereichen und den Bewohnern, die wir dort zu betreuen haben.
Zwei Begegnungen, zwei Frauen, zwei AfD Wählerinnen – natürlich Zufall, aber irgendwie auch eine Momentaufnahme der Stimmung in der lohnarbeitenden Bevölkerung und vielleicht ein Hinweis auf eine Überraschung bei der Wahl am Sonntag. Ich muss an meine komplett unpolitische Liebste denken, die vor einiger Zeit (und seitdem öfters mal wieder) sagte, dass diese Wahl am Ende so ausgehen könnte wie die in den USA: nämlich mit einem Wahlsieg derjenigen politischen Kraft, die in der Bevölkerung den stärksten Eindruck vermittelt, GEGEN die Lügen und die unerträgliche Zumutungen seitens der etablierten Parteipolitik zu sein. „Das erzählt doch keiner in den Umfragen, dass er AfD wählt, aber warte mal den Sonntag ab!“. Ja, dann warte ich wohl mal den Sonntag ab.
Die AfD gibt sich – ganz stärkste bzw. fast stärkste Partei – staatskonform, seriös und verantwortungsbewusst, wird aber von der Konkurrenz und v.a. von den journalistischen Hofschranzen des Zwangsgebührenfernsehens weiterhin gnadenlos gedisst und angefeindet.
Dass diese Art des Umgangs mit einem konkurrierenden Wahlverein diesem nur weitere Wählerunterstützung zutreibt, scheint den „Altparteien“ nicht einzuleuchten. Wo sie es gerade noch so geschafft haben, ist ihnen die Erleichterung anzumerken, weiter von den Fleischtöpfen des bürgerlichen Parlamentarismus alimentiert zu werden.
Die Loser (und das sind neben den Ampel-Parteien v.a. die „Linken“ in Thüringen) üben sich in Wählerbeschimpfung und Schuldzuweisungen an ausgetretene Mitglieder: der „Linke“-Vorsitzende sieht selbstverständlich den Grund für die Wahlklatsche nicht bei dem eigenen desaströsen pro-imperialistischen und identitätspolitischen Kurs, sondern macht Sahra Wagenknecht für den Abstieg seines NATO-affinen antirussischen Sauhaufens verantwortlich).
Deren Verein BSW ist zwar der einzige, der noch ein kleines bißchen politische Argumentation vernehmen lässt, statt gefühlige „Unser Land so toll, unsere Wähler so super, deswegen sind WIR die richtigen Machthaber für unser großartiges Land!!“-Geschwalle, indem die Chefin selber darauf hinweist, dass Koalitionskriterium des BSW die AUSSENPOLITIK, namentlich die Unterstützung des Krieges in der Ukraine, ist.
Ansonsten reihen die BSW-Vertreter sich ein in die verantwortungsbewussten Sprechblasenabsonderer der anderen Parteien, die über Wählerwanderungen und Koalitionsoptionen reden und klar machen:
Wahlen im Kapitalismus haben absolut NICHTS mit irgendwelchen politischen Entscheidungen zu tun. In Wirklichkeit stellen sie eine Art Lotterie dar, deren Ausgang die Besetzung derjenigen Machtpositionen bestimmt, von denn aus vier Jahre lang der Staatsapparat verwaltet werden darf, dessen kapitalistische Verfasstheit und imperialistische Ausrichtung garantiert NICHT und NIEMALS zur Wahl stehen.
Es ist so klasse, dass wir jetzt wieder wählen durften und jetzt endlich alles besser wird! Leider hat die „Linke“ ja voll vergeigt, so dass die tollen Forderungen noch fairen Löhnen, bezahlbaren Mieten und guter Pflege nicht mit Bartsch und Wissler verwirklicht werden können.
Aber zum Glück haben die anderen Parteien genau dasselbe im Programm! Stand jedenfalls auf all ihren Wahlplakaten drauf. Löhne, Renten, Gesundheit, Wohnen – überhaupt das ganze Leben in dieser schönen Demokratie sollte wunderbar, bezahlbar und irgendwie für alle ganz toll werden, wenn man die Partei (egal welche) wählt.
Auch um das schwer populäre Thema „Klima!!“ braucht man sich rein gar keine Sorgen machen, weil wirklich alle Politiker aller Parteien die Sache dynamisch, entschlossen und mit entschiedener Sachkenntnis der Sachzwänge angehen werden. An dieser Stelle also volle Entwarnung!
Da Schönste also an diesem Hochamt der Demokratie: es war völlig egal, wen man wählt, weil ja alle dasselbe versprachen!
Jetzt brechen also grandiose Zeiten an, und die demnächst anstehenden Lohnerhöhungen, die Entspannung des Wohnungsmarktes mit sinkenden Mieten und Wohnraum für alle, die fantastischen Aussichten im Gesundheits- und Pflegebereich mit ausreichendem Personalschlüssel und anständiger Bezahlung – all das wird den Bürger wieder mal bestätigen, dass Demokratie das einzig Senkrechte und freie Wahlen das Nonplusultra eines Lebens in marktwirtschaftlicher Freiheit ist.
„Es geht doch um die Frage: Wollen wir, dass Deutschland endlich besser regiert wird? Und dafür treten wir Grünen an, dafür trete ich als Kanzlerkandidatin an.“ (Annalena Baerbock auf einer Wahlveranstaltung; hätte aber von jedem beliebigen Machthaber-Aspiranten kommen können)
BESSER REGIEREN, also HERRSCHEN über die, die die Politiker per Wahl zur Herrschaft ermächtigen. WAS da eigentlich nach welchen Maßstäben regiert wird, braucht weder potentielle Machthber noch Wähler zu interessieren, da es erstens ohnehin klar ist und zweitens nie im Leben Zuspruch Wahl steht: die kapitalistische Eigentumsordnung und der Staat, der sie in Kraft setzt und garantiert.
Facebook-Post zu den im Zuge der BTW17 anschwellenden und nervtötenden Nichtwähler-Bashing:
Ich hab nicht gesagt, dass ich nicht wählen gehe. Ich weise nur gerne darauf hin, dass das Wesentliche der gegenwärtigen Gesellschaft NICHT zur Wahl steht: die Eigentumsordnung, also die Herrschaft des Kapitals und die Benutzung von Mensch, Tier und Natur für die Bereicherung einiger weniger.
Wenn man daran was ändern möchte, wenn man im Interesse der Bewohner dieses Planeten die Barbarei dieser Ordnung beseitigen möchte, sollte man sich nicht über geschmackliche DETAILS der Herrschaftsausübung auslassen und mehr oder weniger sachkundig darüber debattieren, welches Herrschaftspersonal nun am besten “Deutschland” voranbringt und zum wuchtigsten Kapitalstandort weit und breit machen kann.
Man sollte dann erstens – durch Aufklärung und Information – dafür sorgen, dass möglichst viele Leute die sie schädigenden Verhältnisse umstürzen und so einrichten, dass ein anständiges Leben für alle dabei rauskommt. Dass das im Kapitalismus nicht zu haben ist: darin besteht die Aufklärung.
Zweitens muss einem klar sein, dass die Auswahl des Herrschaftspersonals der bestehenden Ordnung ganz bestimmt kein Mittel ist, diese abzuschaffen. In diesem Rahmen kann man, wenn’s einem Spaß macht, an der Ermächtigungsveranstaltung bürgerlicher Herrschaftsausübung teilnehmen und sein wirklich nutzloses Kreuzchen hinter irgendeiner Buchstabenkombination machen.
Zum Beispiel bei der Oppositionspartei, die zumindest ansatzweise antikapitalistische Positionen im Parlament vertritt und den Entrechteten und Ausgebeuteten manchmal Gehör verschafft. Oder gleich bei der Kommunistischen Partei (meine Präferenz).
Aber noch mal: mit dem Wählen von Funktionsträgern in die vom Staat vorgegebenen Ämter ändert man nicht diesen Staat sondern festigt eher die im Staat manifestierte Herrschaft des Privateigentums über die Gesellschaft.