Die Erfahrungen eines Individuums mit dem Leben an sich und seiner Einbettung in die umgebende gesellschaftliche Struktur ist beschränkt auf die Lebensspanne, die die einzelne Person hat. Wie auch sonst?
Aufgabe eines verantwortlichen Politikers und Staatsmannes, jedenfalls sofern dieser einer den Staat führenden kommunistischen Partei angehört, ist es, die Entwicklung von Staat und Gesellschaft und den darin vorhandenen Produktivkräften über Generationen und über Jahrhunderte zu planen und im Auge zu haben. Solche Politiker haben auf der Grundlage ihres marxistischen Verständnisses von den Produktions- und Eigentumsverhältnissen einer gegebenen Gesellschaft erstens die Richtung der Entwicklung zu bestimmen zweitens, die jeweiligen konkreten historischen und kulturellen Hintergründe der Gesellschaft zu berücksichtigen und drittens durch die unvermeidlichen Härten und Wechselfälle zu navigieren, die auftreten, wenn man hunderten von Millionen einzelne Menschen ein besseres Leben ermöglichen will. Dabei kann es vorkommen, dass eine Zeit lang – und zwar eine, die die Spanne eines einzelnen menschlichen Lebens und länger umfasst – für viele Leute ein anstrengenderes und ungemütlicheres Leben das Resultat ist. Vor allem, wenn bei diesem Entwicklungsprozess auf eine Marktwirtschaft gesetzt wird, auch wenn’s eine sozialistische ist.
Zu erwarten, dass ein imaginärer kommunistischer Idealzustand ad hoc und ohne Verwerfungen und Härten sich nur deswegen einstellt, weil alle rote Fahnen schwingen und die richtige Ideologie haben, ist eine Reflexion des Idealismus, mit dem das bürgerliche Individuum seine eigene kleine (und kurze) Lebenserfahrung zum Maß aller Dinge macht.
Für alle, die sich für den Entwicklungsweg Chinas interessieren, der bei allem Kapitalismus, der dort zugelassen ist (nicht herrscht, auch wenn das der sprachlich korrekte Ausdruck wäre) laut Auskunft der dort regierenden Kommunistischen Partei immer noch ein sozialistischer ist, habe ich nachstehend diesen Beitrag eines (Zeit-)Genossen übersetzt, der das Thema auf intelligente und verständige Weise beleuchtet.
(Von Goodsforthepeople):
„Ich habe in einem meiner Lieblings-Chinarestaurants in Berlin zu Abend gegessen, einem Restaurant mit authentisch proletarischem Charakter, ganz im Gegensatz zu den neuen Hipster-Schickimicki-Lokalen, mit schlechtem Licht, schlechtem Dekor, einem Mao-Porträt im Flur, sehr freundlichem Personal und einer volkstümlichen Küche mit vielen Traditionen wie der Verwendung von eingelegtem Gemüse, das für Hunan typisch ist (ein kulinarisches Merkmal der harten Zeiten), und sogar mit einem bescheidenen und völlig generischen Namen: Asia Deli (der wie einer von Tausenden schrecklichen „asiatischen“ Nudelrestaurants in der Stadt klingt).
Ich kam zufällig mit einer redseligen Kellnerin ins Gespräch, die aussieht, als sei sie in ihren 40ern.
Sie sagte: „Sie denken, China ist kommunistisch? Nein. China hat nichts mehr mit Kommunismus zu tun. Was ich und meine Familie und Freunde seit den 90er Jahren erlebt haben, ist nichts anderes als Hundekot-Kapitalismus, mit einem in Europa völlig unvorstellbaren Maß an Wettbewerb und Druck, der die Menschlichkeit und die emotionalen Bedürfnisse der Menschen völlig außer Acht lässt.“
Ich sagte, dass ich durchaus glaube, dass ihre Erfahrungen die Realität in China widerspiegeln. Aber es gibt mehrere Realitäten gleichzeitig: Die Großprojekte des Staates haben sich in denselben Jahren auf die Interessen der 1 MILLIARDEN ARMEN Menschen in den ländlichen Regionen konzentriert. Daraufhin nickte sie stumm anerkennend.
Ihre städtische Denkweise hat die Erfahrungen der Landbevölkerung wahrscheinlich nicht sehr berücksichtigt, was typisch für die natürliche Kurzsichtigkeit buchstäblich aller normalen Menschen ist. Und sie spricht das Problem der „ungleichen Entwicklung“ an, bei der sich bestimmte Bevölkerungsgruppen vernachlässigt fühlen – wie Stadtbewohner, die in Sektoren, die von der Logik der Privatwirtschaft dominiert werden, sich selbst überlassen werden, während der Großteil der staatlichen Mittel seit einigen Jahrzehnten in die Entwicklung ländlicher Regionen fließt.
Dies ist keine neue Information für mich, dient aber als wichtige Erinnerung daran, dass die Einführung des begrenzten Kapitalismus in den 1980er Jahren immer noch Kapitalismus war, mit all der damit einhergehenden Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit, AUCH unter und reguliert durch einen Arbeiterstaat; und niemand sollte sich irgendwelchen Illusionen hingeben. Wir alle sollten bis zu einem gewissen Grad mit den chinesischen Maoisten sympathisieren, denn die Selbstmordnetze in der Apple-Fabrik waren einige Jahre lang sehr real, als die eigene Regierung ZULIESS, dass das chinesische Volk sowohl vom ausländischen als auch vom inländischen Kapital brutal ausgebeutet wurde. Wir sollten den Standpunkt der chinesischen (und der meisten anderen) Maoisten ernsthaft in Betracht ziehen, auch wenn wir nach einer größeren, umfassenden Analyse nicht mit ihren Schlussfolgerungen übereinstimmen, denn das schreckliche Leid, das durch die Einführung von privatem, gewinnbringendem Eigentum verursacht wurde, war sehr, sehr real und ist es, wahrscheinlich in geringerem Maße, immer noch.
Auch wenn der Gini-Koeffizient in China nach Abschluss der ersten Entwicklungsphase nun tatsächlich sinkt und viele andere soziale Missstände, die in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind, von der staatlichen Politik angegangen werden (einschließlich der ungleichen Entwicklung), ist dies eine wichtige Erinnerung an die Widersprüche, die von der Regierung nach rationalem, langfristigem Kalkül bewusst und vorübergehend für notwendig erachtet wurden, und die am Ende eines jeden Tages in der sozialistischen Supermacht immer noch sehr präsent sind.
Und dies gibt uns einen konkreten Einblick in parallele Realitäten: Die Erfahrung der tatsächlichen Menschen/Proletarier in ihrem Umfeld während des Zeitrahmens ihres Lebens ist zwar ein sehr wichtiger Maßstab, kann aber ein vollständiges, ganzheitliches und historisches Verständnis durch Beobachtung und Untersuchung jeder Ebene und jedes Aspekts eines politischen Projekts nicht ersetzen, das all das einschließen, aber auch umfassen muss, was über die begrenzte gelebte Erfahrung des Einzelnen hinausgeht.“